Editorial
Wie das Wort „Verführung“ zeigt, geht es bei beim Thema dieses figuationen-Heftes um Umwege. Das deutsche Präfix „Ver“ – wie im Englischen und Französischen das „se“ der „seduction“ – sind ein schon im Wort selbst verankerter Hinweis darauf, daß indirekte Wege und umständliche Maßnahmen erforderlich sind, wo ein Ziel nicht direkt erreicht werden kann. Eine alltägliche Erscheinungsweise der Verführung, nämlich die Werbung, scheint zur Großmeisterin indirekter, umwegiger Verfahren geworden zu sein. Verführung ist ein ständiger Begleiter der Warenwelt und ihrer Werbung, sie ist der Modus, in dem etwas, von wem auch immer, an den Mann und an die Frau gebracht wird. Der genüßliche Weg vom Wunsch zum Ziel wird dabei häufig als etwas Rätselhaftes eingesetzt, als eine Geschichte, deren Ende (die zu kaufende Ware) man noch nicht kennt. Mit dieser Strategie der Verzauberung folgt die Werbung quasi-literarischen Verfahren, bei denen der narrative Umweg mehr, die zu verkaufende Ware zunächst weniger im Vordergrund steht. Das geschieht etwa, wenn in sekundenkurzen Sequenzen eine Geschichte ohne die Nennung des eigentlich beworbenen Objekts erzählt wird. Klar ist dabei lediglich, wer die Verführten sein sollen: die Konsumenten, also wir. Eine Zürcher Tageszeitung legte ihrer letzten Osterausgabe eine Sonderbeilage zu folgendem Thema bei: „Die süsse Verführung“. Untertitel: „Schokolade ist nicht nur eine Versuchung für die Zunge. Sie ist ein uraltes Mittel der Verführung.“[1] Dabei ging es um die – unbestrittene (d. Red.) – Qualität der schweizerischen Schokoladenosterhasen, aber auch um den schweizerischen und internationalen Brauch, „Schöggeli“ und „Bettmümpfeli“, kleine süße Einschlafhilfen, auf den Kopfkissen der Hotelbetten zu plazieren. Selbst angesichts dieser kleinen Schokoladenstückchen, die ohne jede narrative Zier auszukommen scheinen, können sich grundsätzliche Fragen nach Umweg und Ziel stellen. Denn obwohl allein die Imagepflege des jeweiligen Hotels das Ziel dieser Verführung sein mag – für den umworbenen Gast ist es vielleicht gar nur das ersehnte ruhige Einschlafen? Vielleicht funktioniert das Manöver auch nur bei Menschen, bei denen das Betthupferl in quasi Proustscher Weise die Erinnerung an eine glückliche Kindheitsszene, an ein behütetes Zu-Bett-gebracht-Werden auszulösen vermag. Der Familienroman der Beteiligten spricht also stets mit, wo eine Verführungsszene stattfindet, und wer die taktische Kontrolle über die Szene der Verführung behalten will, muß ihn kennen. Die in diesem Heft diskutierten literarischen Beispiele zeigen sämtlich die Unwägbarkeiten, die einer geplanten Verführung widerfahren können. Es liegt auf der Hand, daß auch der Verführungsversuch der Hotellerie noch andere als die gewünschten Assoziationen zu wecken vermag. Schon in den 60er Jahren sang Trude Herr: „Ich will keine Schokolade [...] ich will einen Mann!“
Mit dem Thema der Verführung ist deshalb in diesem Heft in erster Linie das Geschlechterverhältnis angesprochen. Zugleich ist dieses Heft das erste in der bisher vorliegenden figurationen-Reihe, das sich mit einem deutlichen Schwerpunkt der Literatur widmet. Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig. Die literarische Verführung meint immer auch ein Hinführen zur Literatur selbst, zum Lesen, zum Genuß des Literarischen als dem Medium, in dem über Verführung so gesprochen wird, daß Leserin und Leser die Lektüre nicht beiseite legen können, also selbst zu Verführten der Literatur werden. Was die Verführung im Medium der Literatur beredt macht, sind Techniken der Überschreitung, die auf sensible Wunscherfüllungen zielen. Dies lassen die zahlreichen traditionellen Metaphern erkennen, die die Verbindung der Lektüre mit dem Körper und den Wünschen thematisieren: Lesehunger, Leselust usf. Sie weisen die Verführung aus als eine ständig hin- und herwandernde, eine umwegige Bewegung des Begehrens: vom Selbst zum Objekt der Begierde und von diesem wieder zurück zum Selbst als lesendem. Es führt ein Weg, oder besser: Umweg, vom Wunsch nach Liebe zum Wunsch nach Lektüre über die Liebe und von dort zur Liebe selbst, vom Lesehunger und von der Leselust zur körperlichen Lust, vom Appetit auf das Süße zurück zur „Lust am Text“, der diesen, der jeden Appetit auslösen kann. Die Verführung, das zeigen die hier diskutierten Beispiele von der Antike bis zur Gegenwart, ist ein skandalöses Geschehen. Sie unterbricht die Konstanz und weist auf die Auflösbarkeit aller Beziehungen, indem sie doch eine Beziehung herstellen will. Dies gilt nicht nur, aber vor allem, für das traditionell eingespielte Verhältnis der Geschlechter. Weil die Verführung alle Verhältnisse dazu verführen kann, zu anderen zu werden, wird auch sie selbst von diesem Skandalon ergriffen. So scheint denn nichts anfälliger für die Verführung als die Verführung selbst. Einige Artikel dieses Heftes stellen die Frage, ob es angesichts dieser unfesten Verhältnisse Verführung zwischen den Geschlechtern überhaupt noch geben könne.
Ob diese Frage nach dem Ende der Verführung die Irrwege des Nachdenkens über die Verführung beenden kann oder nur der Anfang einer neuen, andersartigen Verführung ist, wird sich allerdings erst noch erweisen müssen. Die Beiträge dieses Heftes jedenfalls möchten zum Lesen verführen und stellen daher die Literatur der Verführung in den Vordergrund.
Wir danken der Gleichstellungsstelle für Frau und Mann an der Universität Zürich für die Unterstützung dieses Hefts.
[1] Tagesanzeiger, 14.4.2001, 59ff.