Editorial
Die griechischen Wörter lithos, Stein, und krýstallos, Kristall, sind die Leitvokabeln dieses Heftes. Seit langem gelten sie als Herausforderung für die Erkenntnis, als Inspiration, als Widerstand und als zu lösendes Rätsel. Die Naturobjekte sind hart und verschlossen, trotzdem oder gerade deshalb laden sie zum Spielen und Experimentieren ein. Eine lange Forschungsgeschichte war nötig, um im Steinernen und Kristallinen lesen zu können, ihnen Informationen über ihre Geschichte, ihre Formation und ihre Eigenschaften abzuringen. Steine wie Kristalle haben immer wieder zu Deutungen veranlasst, wenngleich sie zunächst nichts als ihr bloßes Dasein preiszugeben scheinen. Lithos und krýstallos verkörpern das, was dem Erkenntnisdrang wie dem Körper stets Widerstand entgegensetzt, sei es durch Härte, Unbeweglichkeit und Unzugänglichkeit, sei es durch schiere Vielfalt (z. B. Kieselsteine, Sandkörner, Schneeflocken), sei es durch Schönheit und allzu rasche Vergänglichkeit (wiederum Schneeflocken, Kristalle). Man könnte eine lange Reihe mineralischer Gegenstände beschreiben, die die Forschenden durch Schönheit, Erhabenheit, Härte und Vielfalt anregen, über Natur und Ästhetik nachzudenken. Sie bilden faszinierende Objekte für Theologie und Philosophie, für die Literatur, die Kunst und die Wissenschaft – und für deren gegenseitige Kontaktaufnahme. So betrachtet, sind die dem Mineralischen, der Literatur, der Schrift und der bildenden Kunst gewidmeten Beiträge dieses Heftes eine Litho- und Kristallo-Graphie.
Wie die Gasteditorin Stefanie Heine in ihrer Einleitung betont, geht es ihr im weiten Feld des Mineralischen nicht zuletzt um die Aspekte von gender, Weiblichkeit und generell um das Geschlechterverhältnis. Es ist immer noch nicht überflüssig zu betonen, dass sich keineswegs nur die eminenten Autoren und Forscher um Petrifikation, bunte und graue Steine oder Kristalle gekümmert haben. Autorinnen und Künstlerinnen wie Virginia Woolf, Annette von Droste-Hülshoff, Inger Christensen, Sylvia Plath u. v. a. wussten mit ihrem kritischen Blick auf versteinerte Verhältnisse die literarisch-poetische Feinarbeit am Mineralischen auch als Arbeit an der Auflösung starrer Geschlechter-und Machtverhältnisse zu gestalten. Heute allerdings arbeiten die Künste und ganz besonders die variantenreichen, mit festen Materialien operierenden Installationen, die Landart, die Performances sich nicht mehr an den (Geschlechter-)Grenzen ab, sondern setzen dort fort, wo deren Auflösung schon stattgefunden hat. Mehrheitlich spielen sie mit und inszenieren die stets veränderbaren, verwischten, sich gegenseitig beeinflussenden Kontaktzonen zwischen Objekten, Personen, Körpern, Geschlechterzuschreibungen und -varianten (Stichwort Diversität).
Lange vor der Sensibilisierung für Diversitätsfragen hat bereits ein französischer Autor des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass das Denken über Geschlechterbeziehungen und über die Liebe keineswegs ‚in Stein gemeißelt‘ sein müsste – und fand dafür ein besonders einprägsames, geradezu nachhaltiges Bild: Es ist Stendhals Bild der Kristallisation für das Entstehen der Liebe. Nach Stendhal verläuft diese Kristallisation in verschiedenen Stadien, ähnlich einem Zweig, der, in eine Salzmine gelegt, allmählich immer feiner verästelte und schönere Kristalle ausbildet: „une infinité de diamants“.[1] Es handelt sich dabei um eine Operation des Geistes, die dem oder der Geliebten immer neue perfekte Eigenschaften zuspricht. Auch Stendhal wusste, dass das am Ende in eine ganz und gar „imaginäre“ Tätigkeit münden kann – gleichwohl: Wichtig ist, dass sich die Beziehung zum und zur Anderen bewegen, verändern und dabei im Auge des Betrachters sogar verschönern kann. Stendhals mineralische Ästhetik der Liebe ist in jeder Hinsicht dynamisch und schiebt die traditionelle Vorstellung eines festen Bildes vom geliebten Objekt beiseite.
Aus aktuellem Anlass: Vieles ist schon gedacht und geschrieben worden zu den Künsten in Zeiten, da des „Geistes Haus zerschossen“ (Franz Werfel) wird. Mit dem Krieg in der Ukraine und der russischen Aggressions- und Repressionspolitik ist neben vielem anderen auch die Selbstverständlichkeit der Ästhetik und der Künste sowie die Freiheit des Denkens bedroht. Soll man ein Heft zur Ästhetik in der bedrückenden Zeit des Krieges veröffentlichen? Zum einen plant figurationen die Themen langfristig, oft über mehrere Jahre hinweg. Zum anderen gehört es auch zur Freiheit der Themenwahl, die Zusammengehörigkeit von Ästhetik und Politik wahrzunehmen. Zwischen der aktuellen Situation und dem Bildfeld des Steinernen und Harten gibt es durchaus Verbindungen: Ähnlich wie das Bild der Kälte ist es im politischen Diskurs vielfach präsent, gerade auch im Umfeld des Krieges. So wie beispielsweise der 1920 im damals rumänischen Czernowitz geborene Paul Celan diese Bildlichkeit entwickelt hat, führt sie direkt zur Erfahrung von (kaltem) Krieg, Verfolgung und Tod. – Auch unsere Hoffnungen zielen auf ein Ende des Krieges, und unsere Gedanken sind bei den Leidenden und Flüchtenden der Ukraine.Â
Für die Kuratierung dieser Litho- und Kristallographie der figurationen danken wir Stefanie Heine herzlich. Sie hat zugleich mit diesem Heft Abschied aus der Redaktion genommen und in Kopenhagen als Assistant Professor einen neuen Lebensabschnitt begonnen, wozu wir herzlich gratulieren. Mit großer Freude begrüßen wir als ihren Nachfolger Philippe Haensler, Oberassistent am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich, der seinen Einstand auch gleich mit einem Beitrag zu diesem Heft gibt. Ebenfalls neu in der Redaktion ist Helena Dobiess, die Vera Zimmermann ersetzt. Wir danken Vera sehr für ihr langjähriges Engagement und schicken ein herzliches Willkommen zu Helena nach Zürich.
Zürich, im Februar 2022 Barbara Naumann
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Fussnoten
Stendhal (1822): De l’amour. Paris: Flammarion, 2014, 64.