Abstracts



Markus Messling, Christiane Solte-Gresser: Was ist eine kulturelle Praxis der Reparation?

Die Stele von Axum und Igiaba Scegos Erzählung „Die Ikone“

Wir leben in Zeiten des Übergangs, die von der Notwendigkeit der Reparation geprägt sind. Wie lässt sich nach Totalitarismus und Kolonialismus dem begegnen, was nicht wieder gutzumachen ist? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als die Zerstörungen der Vergangenheit die Gegenwart unausweichlich heimsuchen. Um eine gemeinsame Zukunft entwerfen und gestalten zu können, müssen wir notwendigerweise vom Irreparablen ausgehen. Gegenstand dieses Beitrags ist der konkrete Fall der Stele von Axum, die von den italienischen Faschisten 1937 aus Äthiopien geraubt wurde. Sie ist ein Beispiel für den jahrelangen Kampf afrikanischer Nationen um die Rückgabe ihrer Kulturgüter. Der literarische Text Die Ikone (2018) von Igiaba Scego erzählt diesen Fall, indem sie die politische und soziale Dimension mit der psychologisch-subjektiven verbindet. Sie bearbeitet historische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und lotet systematisch verschiedene Versuche aus, diese zu reparierenAuf diese Weise eröffnet die Erzählung ein literarisches Wissen über den Umgang mit dem Irreparablen. Sie setzt sich mit politischen, ökonomischen, psychologischen und narrativen Praktiken der Reparation auseinander und stellt zugleich selbst eine kulturelle Praxis der Reparation dar. 

Schlagworte: Postkolonialismus; kulturelle Praktiken der Reparation; historische Erfahrung; Mikrohistorie; Erzählung/Narratologie; Igiaba Scego; Stele von Axum

We are living through times of transition – times that demand reparation and repair. Yet how can we respond, in the wake of totalitarianism and colonialism, to wounds that cannot be undone, and to wrongs that cannot be made right? These questions grow ever more urgent as the destruction of the past inescapably haunts the present. To imagine and build a shared future, we must begin by confronting what cannot be repaired. This essay focuses on the specific case of the Stele of Axum, which was plundered from Ethiopia by Italian fascists in 1937. The stele exemplifies the long-standing fight of African nations to reclaim their stolen cultural heritage. Igiaba Scego’s 2018 short story The Icon tells this story, weaving together political and social dimensions with personal and psychological impact. The text grapples with historical crimes against humanity, systematically exploring different ways in which they might be repaired‘. It thus offers a literary perspective on how we might engage with the irreparable. In exploring political, economic, psychological, and narrative practices of reparation, the work itself enacts forms of cultural reparation and repair.

////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Friederike Reents: Reparatur im anthropozänen Wasteland

Über Bio-, Geo- und Gendermacht in der Gegenwartslyrik

Im Artikel geht um die poetische Verarbeitung von Brüchen und deren reparativer oder transformativer Verarbeitung. Als Beispiel für reparative Gegenwartslyrik dient das Gedicht großer ameisenbär von Sabine Scho, in dem Zerstörung (hier: des Regenwalds und seiner Bewohner) nicht nur beschrieben, sondern durch Ironie und eine reflektierte Ästhetik der Reparatur auch Denkanstöße gegeben werden. Durch diese Form von transformativer Ruderalliteratur unter kritischer Reflexion von Bio-, Geo- und Gendermacht wird ein Bewusstsein für ökologische und gesellschaftliche Probleme geschaffen, ohne in bloße Anklage oder Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Indem der gewährte apokalyptische Blick hinterfragt und seinerseits gebrochen wird, kann reparative Ruderalliteratur die Leserschaft affektiv erreichen und gegebenenfalls ein Umdenken anstoßen.


The text explores the poetic treatment of fractures and their reparative or transformative processing. Sabine Scho’s poem großer ameisenbär serves as an example of reparative contemporary poetry, where destruction – specifically, the devastation of the rainforest and its inhabitants – is not merely depicted but also critically reflected upon through irony and an aesthetic of repair. By employing this form of transformative ruderal literature, which critically engages with bio-, geo-, and gender power structures, the poem raises awareness of ecological and social issues without resorting to mere accusation or despair. By questioning and ultimately breaking the apocalyptic perspective it presents, reparative ruderal literature can affectively engage its readership and potentially inspire a shift in thinking.
////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Evelyn Dueck: „[D]ie Hinwendung zur Armut“

Lukas Bärfuss’ Bamberger Poetikvorlesung und die Mittel der Literatur

In seiner ersten Bamberger Poetikvorlesung schreibt der Schweizer Dramatiker und Schriftsteller Lukas Bärfuss, die Literatur verfüge über ein „Mittel“ gegen die vorherrschende „Illusionslosigkeit“ der westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts und dieses liege in der „Hinwendung zur Armut“. Bärfuss begründet diese These im Dialog mit Charles Baudelaires Gedichtband Le Spleen de Paris (1869) und Walter Benjamins kulturkritischem Essay Erfahrung und Armut (1933). Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, was mit dieser „Hinwendung zur Armut“ gemeint sein könnte und wie Bärfuss seine These über den intertextuellen Dialog mit Baudelaire und Benjamin entwickelt. Es wird gezeigt, wie sich diese (literarische) Hinwendung zur Armut als eine mögliche ‚Idee der Reparatur‘ erweisen kann.

Schlagworte: Bärfuss, Benjamin, Baudelaire, Literatur, Armut, Reparatur, Erfahrung.

In his first Bamberg lecture on poetics, Swiss playwright and author Lukas Bärfuss writes that literature has a ‘remedy’ for the prevailing ‘lack of illusions’ in 21st century Western societies and that it lies in ‘turning to poverty’. To develop this position Bärfuss refers to Charles Baudelaire's volume of poetry Le Spleen de Paris (1869) and Walter Benjamin's critical essay Erfahrung und Armut (1933). This article explores the question of what could be meant by this ‘turn towards poverty’ and how Bärfuss develops his position via the intertextual dialogue with Baudelaire and Benjamin. It is shown how this (literary) turn to poverty can prove to be a possible ‘idea of repair’.

Key words: Bärfuss, Benjamin, Baudelaire, literature, poverty, repair, experience.

 

////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Juliane Prade-Weiss: Imperium und Intimität in Maria Stepanovas „Winterpoem 20/21“

Sind historische Gewalterfahrungen reparabel?

Winterpoem 20/21 entstand, wie Maria Stepanova im Postskriptum zur russisch-deutschen Ausgabe erläutert, „am Ende des langen Pandemiewinters 2020/21“. Das Langgedicht schildert die Isolation infolge von Pandemieschutzmaßnahmen in den Leitmetaphern von Winter, Kälte und Schnee. Doch während im Text die Gegenwart zum Stillstand gekommen ist, erscheint die russisch-deutsche Ausgabe in einer Welt, die sich seit 2020/21 durch den 2022 begonnenen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fundamental verändert hat. Gleichwohl ist Winterpoem 20/21 mitnichten ohne Bezug zu diesem Krieg. Denn es verhandelt nicht allein pandemische Isolation, sondern – Ovids Briefen aus der Verbannung folgend – auch den Zusammenhang zwischen Imperium und Intimität, der lange vor dem Ausbruch der Pandemie Nähe durch Kälte, Vertrautheit durch Dominanz zersetzt hat. Beide isolierende Momente verbinden sich in Biopolitik, vor deren Hintergrund der Aufsatz Winterpoem 20/21 liest.


Schlagworte: Imperium, Pandemie, Exil, Biopolitik, Ovid

Winter Poem 20/21 was written, Maria Stepanova explains in the postscript to the Russian-German edition, “at the end of the long pandemic winter of 2020/21”. The poem articulates the isolation resulting from pandemic protection measures by using the key metaphors of winter, cold and snow. Yet, while the present has come to a standstill in the text, the Russian-German edition appears in a world that has fundamentally changed since 2020/21 with to the Russian war of aggression against Ukraine that began in 2022. Nevertheless, Winter Poem 20/21 is not unrelated to this war because it negotiates more than pandemic isolation. Referencing Ovid's letters from exile, Stepanova’s text also inquires into the link between empire and intimacy, which had replaced proximity by coldness and familiarity by dominance long before the outbreak of the pandemic. Both isolating moments are combined in biopolitics, as the essay outlines.