Editorial
Die erdrückenden gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart – vom Klimawandel und den globalen Folgen des Imperialismus bis hin zur Krise der westlichen Demokratien – beflügeln Sehnsüchte nach Formen von Gemeinschaft, die sich der destruktiven Logik wirtschaftlichen Wachstums entziehen. Dabei geht es nicht nur um das Erreichen kollektiver Ziele, sondern auch um elementare Erfahrungen von Bezogenheit und Zugehörigkeit. Schlagworte wie ‚Konvivialität‘ und ‚Resonanz‘ werben für ein inklusives und nachhaltiges gemeinschaftliches Handeln, stellen aber darüber hinaus auch eine Kunst des ‚guten Lebens‘ in Aussicht, die sich durch bestimmte, von den Zwängen der Wachstumsgesellschaft verhinderte Erfahrungsqualitäten wie Wärme, Permeabilität und Flow auszeichnen soll. Anders als die traditionellen Gemeinschaftsformen des Christentums, die Gesellschaftsutopien der Moderne oder die Kommunen der 68er-Generation implizieren diese Visionen von Gemeinschaft einen Begriff des Sozialen, der neben Menschen auch nichtmenschliche Wesen wie Pflanzen, Tiere, Dinge und technische Artefakte umfasst. Er suggeriert, dass ein erweitertes Verständnis dessen, was Zusammenleben und gesellschaftliche Repräsentation ausmacht, das anthropozentrische Denken und Handeln überwinden und ein Leben im Einklang mit der Natur ermöglichen könne.
Vor dem Hintergrund eines solchen erweiterten Verständnisses des Sozialen widmen sich die beiden Hefte dieses figurationen-Jahrgangs aktuellen künstlerischen und theoretischen Entwürfen von Gemeinschaftlichkeit. Im Unterschied zu den erwähnten soziologischen Theorien und Manifesten erheben sie jedoch nicht den Anspruch, allgemeine Lösungen für globale Probleme vorzuweisen. Vielmehr lenken sie den Blick auf individuelle, temporäre und oftmals prekäre Konstellationen, in denen Gemeinschaftlichkeit entsteht. Mit dem Konzept der Commonality orientiert sich das Gasteditorinnenkollektiv des vorliegenden Hefts an Victor Turners Theorie der Communitas, einer Form der nicht-hierarchischen, den festgefügten sozialen Strukturen enthobenen temporären Gemeinschaft, die sich in der liminalen Phase von Übergangsriten vorindus-trieller Gesellschaften entwickelt. In Industriegesellschaften kann die Communitas, so Turner, im Bereich des ‚Liminoiden‘ entstehen, d. h. in einer von normativen Zwängen entlasteten Sphäre der Muße, des wissenschaftlichen Experimentierens und künstlerischen Schaffens, aber auch in Extremsituationen wie „Folter, Mord, Krieg, Selbstmord […] usw.“ Dementsprechend birgt die liminoide Communitas, in der die Individuen anders als in der liminalen Phase der Übergangsriten ihre Verschiedenheit bewahren, ein kreatives Potential der Kritik und der gesellschaftlichen Transformation, kann aber in ihrer Strukturlosigkeit auch destruktive Wirkungen entfalten.
Was die Communitas von den soziologischen Konzepten der Resonanz und der Konvivialität unterscheidet, ist ihre Unverfügbarkeit. Die Communitas kann, wie Turner schreibt, nicht „ins normative Leben überführt werden: sie ist Ausnahme, nicht Gesetz, Wunder, nicht Regel, ursprüngliche Freiheit, nicht anangke, die Kausalkette der Notwendigkeit“. Versuche, Erfahrungen der Communitas in theoretische Konzepte zu überführen oder zu institutionalisieren, transformieren sie Turner zufolge zwangsläufig in normative Utopien oder nach außen abgeschlossene soziale Systeme, deren strukturierter Charakter der für die Communitas wesentlichen „Antistruktur“ zuwiderläuft. Die Konzepte der Konvivialität und der Resonanz sind dagegen von normativen Vorstellungen dessen getragen, was ein ‚gutes Leben‘ ausmacht und der Gemeinschaft zuträglich ist. Im Wettstreit um die Erfüllung solcher Normen, der in diesen Theorien angelegt ist, reproduziert sich die Logik des Neoliberalismus, der sie etwas entgegenzusetzen vorgeben.
Da sich die universitäre Forschung, aus der die Beiträge des vorliegenden Hefts hervorgegangen sind, heute nicht in einem liminoiden Raum, sondern unter den kompetitiven Bedingungen eines neoliberalen Systems abspielt, können auch sie sich dessen Logik kaum entziehen. Die Formen der Gemeinschaftlichkeit, von denen sie handeln, gehen jedoch tatsächlich aus liminoiden Situationen hervor und zeichnen sich durch Unverfügbarkeit aus; sie entstehen in der Reaktion auf Extremsituationen und kollektive Traumata sowie in der experimentellen künstlerischen Praxis. Universale Rezepte für ein gutes Leben lassen sich aus ihnen nur sehr bedingt ableiten.
Wir danken Dorota Sajewska, Sandra Biberstein, Louise Décaillet und Nina Seiler für die Konzeption dieses Heftes. Im Redaktionsteam der figurationen begrüßen wir Sourenna Djafari aus Aachen und verabschieden uns von Helena Dobiess und Tina Rache, denen wir für ihre kompetente und verlässliche Mitarbeit sehr herzlich danken.
Aachen, im Juni 2023 Caroline Torra-Mattenklott
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 Fussnoten
1) Les Convivialistes (2014): Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Hg. v. Frank Adloff u. Claus Leggewie. Übers. v. Eva Moldenhauer. Bielefeld: transcript; Die konvivialistische Internationale (2020): Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt. Übers. v. Michael Halfbrodt. Bielefeld: transcript.
2) Hartmut Rosa (2019): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
3) Vgl. Die konvivialistische Internationale (2020), 35 f.; Rosa (2019), 14 u. ö.
4) Victor Turner (1989): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Übers. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a. M.: Campus, 2009, 63 f., 68-70.
5) Vgl. Turner (1989), 49 f., 68.
6)Â Turner (1989), 73.
7)Â Vgl. Turner (1989), 69-73.
8)Â Turner (1989), 77.
9)Â Vgl. Turner (1989), 73, 76-78.
10)Â Turner (1989), 49, 68.
11) Vgl. Die konvivialistische Internationale (2020), 41 f.; 48 f. Rosa illustriert sein Konzept des guten Lebens bezeichnenderweise am Beispiel eines Malwettbewerbs, in dem der ressourcenfixierte Kandidat gegenüber seinem spontanen, von intrinsischem Ausdrucksbegehren angetriebenen Gegner unterliegt, vgl. Rosa (2019), 15 f.