Erschöpfende Lektüren
Wie Sigmund Freud und Honoré de Balzac die letzten Enden des Textes beschreiben
Sigmund Freuds letzte Buchlektüre, sein Buch zum Tode, sein Buch zur absoluten Erschöpfung aller vitalen Funktionen, war ein Roman von Honoré de Balzac: Das Chagrinleder (La Peau de chagrin).[1] Freud starb am 23. September 1939 in London, im Alter von 83 Jahren (Abb. 1). Ãœber seine letzten Lebenstage schreibt Max Schur, Freuds Arzt und Biograf:Â
Die letzte Phase begann, als es ihm schwer wurde zu lesen. Freud las nicht aufs Geratewohl, sondern sorgfältig ausgewählte Bücher aus seiner Bibliothek. Das letzte Buch, das er las, war Balzacs Chagrinleder. Als er damit fertig war, sagte er beiläufig zu mir: Das war das richtige Buch für mich; es handelt von Einschrumpfen und Verhungern.[2]Â
Die Wahl des Balzacschen Textes, so legt Schur nahe, scheint kein Zufall gewesen zu sein – und mehr noch: Das Chagrinleder habe sich für Freud, angesichts des Todes, als das „richtige Buch“ erwiesen. Es geht um die absolute Erschöpfung, um das „Einschrumpfen und Verhungern“ – im Buch Balzacs geht es darum und auch für den sterbenden Freud selbst: Man hat es, im mehrfachen Wortsinne, mit einer erschöpfenden Lektüre zu tun. Im Folgenden werde ich versuchen, diesem bemerkenswerten Verhältnis von Tod und Text, von Erschöpfung und letzter, letaler Leselust, näher auf die Spur zu kommen. Dabei soll es nicht darum gehen, eine biografische Szene zu rekonstruieren und zu beschreiben, wie Freud seinen Tod erlebt haben könnte. Vielmehr möchte ich eine Konstellation erörtern, die es ermöglicht, Balzacs literarische Arbeiten und Freuds metapsychologische Arbeiten zum Tode als ein Verhältnis von Entsprechungen erkennbar zu machen. Ihr Umgang mit dem „Einschrumpfen und Verhungern“, so meine These, unterhält ein dichtes Netz von Korrespondenzen. Balzacs literarische und Freuds metapsychologische Auseinandersetzung mit dem Tode sollen im folgenden zudem als gleichberechtigte Schreibweisen in den Blick genommen werden, also ohne ein erkenntnistheoretisches Privileg der einen oder anderen Diskursform, der Literatur oder der Metapsychologie.[3] Meine Argumentation, die nicht motivgeschichtlich, sondern theoretisch und komparatistisch orientiert ist, versucht insbesondere, die bedeutendsten Arbeiten zum Todeskomplex von Balzac und Freud, das Chagrinleder (La Peau de chagrin) und Jenseits des Lustprinzips[4], wechselseitig zu perspektivieren. Beide Texte, so meine Annahme, können sinnvoll aufeinander bezogen werden, gerade weil die allerletzte Erschöpfung, der Tod, in ihnen nicht nur eine zufällige, sondern eine wesentliche, strukturbildende Rolle spielt.
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Der Todestrieb, die Zirkulation, das Unbewusste (Balzac)
Das Vergnügen ist wie gewisse medizinische Substanzen: Um fortgesetzt den gleichen Erfolg zu erzielen, muß man die Dosen verdoppeln, und in der letzten lauert der Tod oder die Vertierung.[5]
Eine der signifikantesten Stellungnahmen Balzacs zum Todeskomplex außerhalb des Chagrinleders findet sich in der Physiologie der Ehe (Physiologie du mariage).[6] Der Text erschien 1829, zwei Jahre vor dem Chagrinleder, und ist eine der ersten Arbeiten, die Balzac für den Werkzusammenhang der Comédie humaine verfasste.Â
Der Form nach ist die Physiologie der Ehe ein langer Essay, der theoretische Ãœberlegungen, Aphorismen, narrative Elemente und szenische Entwürfe miteinander verknüpft. Balzac sah in der Ehe eine Einrichtung wider die Natur des Menschen, ein kulturell überformtes Institut mit pathogenen Residuen, im Grunde: eine gesellschaftlich verantwortete Erkrankung des menschlichen Begehrens, und er plante die Physiologie der Ehe als „Monographie besagter Krankheit“.[7] Balzac schreibt im Zusammenhang dieses Buches also über den Tod als ein Pathologe, der analytisch über die Ursachen einer Erkrankung, nämlich der Ehe, Rechenschaft abzugeben versucht. Und seine Ãœberlegungen führen ihn auf die Annahme eines Begehrens, das – gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts – auf die Erschöpfung aller vitalen Lebensfunktionen hinausläuft:Â
Es gibt im Leben ein Prinzip, das mächtiger ist als das Leben an sich; eine Bewegung, die ihre Geschwindigkeit durch eine unbekannte Triebkraft [impulsion] erhält. In das Geheimnis dieser kreisenden Bewegung ist der Mensch so wenig eingedrungen, wie die Erde etwas von den Ursachen ihrer Umdrehung weiß. Dieses unbekannte Etwas, das ich den Strom des Lebens nennen möchte, reißt unsere Lieblingsgedanken mit sich fort, schwächt den Willen der meisten Menschen und beeinflußt uns alle auch gegen unsern Willen. Ein recht vernünftiger Mann zum Beispiel, der stets pünktlich seine Wechsel bezahlen wird, wenn er ein Kaufmann ist, könnte dem Tode oder einem vielleicht noch schlimmeren Los, einer Krankheit, entgehen, wenn er eine keineswegs unbequeme, aber täglich einzuhaltende Vorschrift beachtete; aber nein: er wird nach allen Regeln der Kunst zwischen die acht Bretter genagelt […]. Wie soll man sich diese seltsame Anziehungskraft [fascination] erklären, die alle Angelegenheiten unseres Lebens beherrscht? Ist sie ein Mangel an Energie? Nun – Menschen von stärkster Willenskraft sind ihr unterworfen. Ist sie eine Schwäche des Gedächtnisses? Nun – Leute, die diese Fähigkeit in einem ausgezeichneten Maße besitzen, unterliegen ihr.[8]Â
Ich möchte an dieser Einlassung drei Aspekte gesondert hervorheben.
1. Der von Balzac so genannte „Strom des Lebens“ ist mächtiger als das Leben selbst. Die Äußerungen des Lebens sind dieser Konzeption zufolge nicht ausschließlich wiederum auf das Leben – beziehungsweise auf das Ãœberleben des Lebens – gerichtet. Vielmehr sieht Balzac im Leben eine „Triebkraft“ [impulsion] am Werk, die über das Leben hinausführt – und zwar nicht als ein Partialphänomen, als eine mehr oder weniger merkwürdige Besonderheit, als Unfall oder singuläre Episode, sondern als ein Element, das „alle Angelegenheiten unseres Lebens beherrscht“.Â
2. Die Wirkungsweise dieser Triebkraft wird von Balzac nicht als linearer Ablauf gedacht. Der „Strom des Lebens“ verläuft nicht von A nach B, so als gäbe es zunächst ein Leben, das eine vom Tode nicht kontaminierte Integrität besäße und erst in der Folge von Triebregungen affiziert würde, die über das Leben hinausreichten. Ganz im Gegenteil: Balzac nimmt ein Prinzip des Lebens an, das der Selbsterhaltung zuwiderläuft. Der „Strom des Lebens“ drängt von Anbeginn an über das Leben hinaus. Er befindet sich in einer „kreisenden Bewegung“ und ist von Grund auf einbegriffen in diese Zirkulation. Der Lebenslauf auf den eigenen Tod zu vollzieht sich – für Balzac – im Zeichen der Wiederholung und der Wiederkehr. Der Tod wird nicht als das Ende des Lebens gedacht, sondern als das, worauf das Leben von Anfang an drängt.Â
3. Die auf den Tod gerichtete Bewegung des Lebenskreislaufes ist dem Menschen in der Regel unbewusst. Er ist in sie „so wenig eingedrungen, wie die Erde etwas von den Ursachen ihrer Umdrehung weiß“. Balzac zufolge können weder die Kraft des Willens noch die Kraft des Gedächtnisses vor den Folgen dieser letalen Triebneigung schützen. Zu den lebensweltlichen Artikulationsformen dieses Triebes zählt er die alltäglichen Fehlleistungen, wie etwa das Vergessen, das etwa einen ansonsten „vernünftige[n]“ Kaufmann dazu verführen kann, eine einfache, lebenserhaltende Vorschrift zu missachten.
Balzacs Ãœberlegungen weisen deutliche Korrespondenzen zur psychoanalytischen Theoriebildung auf.
1. Mit Jenseits des Lustprinzips legte Freud 1920 die grundsätzlichen Gesichtspunkte seiner Konzeption des Todestriebes vor. Freud ließ sich von der Annahme leiten, dass „der Lebensprozeß des Individuums aus inneren Gründen zur Abgleichung chemischer Spannungen, das heißt zum Tode führt“.[9] Von einem Trieb zum Tode zu sprechen, schien für Freud insofern gerechtfertigt, als er in der Reduktion der Reizspannung die „herrschende Tendenz des Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt“[10] erkannte:
Daß wir als die herrschende Tendenz des Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt, das Streben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung der inneren Reizspannung erkannten […], wie es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt, das ist ja eines unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben zu glauben.[11]Â
Das aus der unbelebten Materie entstehende Leben strebt also aus „inneren Gründen“ – Balzac hatte gesagt: seinem eigenen Prinzip nach –, zum Tode und damit zur Wiederherstellung des unbelebten Zustandes. „Denn nach unserer Annahme rühren die Ichtriebe von der Belebung der unbelebten Materie her und wollen die Unbelebtheit wiederherstellen.“[12] Die durch den Tod herbeigeführte absolute Reizreduktion, die Erschöpfung aller Lebensfunktionen, konvergiert letztlich mit dem Lustprinzip. In den Worten Freuds: „Das Lustprinzip scheint geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen“.[13] Die Annahme von Todestrieben, die auf die Wiederherstellung des unbelebten Zustandes zielen, liegt in der Konsequenz der Trieblehre. Der Todestrieb wird von Freud insofern nicht als Partialtrieb konzipiert, sondern als unreduzierbare Gegebenheit des Trieblebens überhaupt.
2. Die Strebungen der Todestriebe verlaufen nicht linear, sondern zirkular. Auch diese Annahme korrespondiert mit den in der Physiologie der Ehe dargelegten Ãœberlegungen. Freud spricht von der „konservativen Natur des Lebenden“[14] und deutet damit auf die Triebtendenz zur Wiederherstellung eines älteren Reizspannungsniveaus. „Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organismus innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes.“[15] Der Todestrieb realisiert sich demnach – ohne letztlich dem Lustprinzip zu widersprechen – in einer Weise, die als Wiederholungszwang bezeichnet werden kann. Der Prozess organischer Weiterentwicklung sowie der Prozess historischer Neuerungen wäre demgegenüber lediglich abgeleiteter, sekundärer Natur und müsste auf Störungen zurückgeführt werden, die in den auf Wiederholung und Reizreduzierung ausgerichteten Primärvorgängen auftreten. Es sei darauf verwiesen, dass Freud seine metapsychologische These über den bestimmenden Einfluss des Wiederholungszwanges auf das Triebleben durch eine biologische Argumentation zu stützen sucht und „in den Phänomenen der Erblichkeit und in den Tatsachen der Embryologie die großartigsten Beweise für den organischen Wiederholungszwang“[16] erkennt. Das Prinzip der Linearität und des einfachen Fortschrittes, das Vergangenheit und Zukunft durch eine einsinnig ausgerichtete Achse miteinander verbindet, wird also abgelöst durch ein Triebmodell, das sich als eine Verkettung von Wiederholungen darbietet. Das Neue, das Noch-nicht-da-Gewesene, der oder das Andere kennzeichnen innerhalb dieses Modells keine eigenständigen Triebziele. Es handelt sich dabei vielmehr um differenzielle Effekte, die durch den Prozess der Wiederholung produziert werden. Fremdheit, Innovation, Zukunft stellen sich insofern als Umwege dar, auf die die Wiederholung verwiesen ist, um einen vergangenen Zustand in seiner finalen, das heißt unbelebten Gestalt wieder herstellen zu können.Â
3. Balzac und Freud kommen auch darin überein, dass sie das Drängen des Triebes über das Leben hinaus für einen in der Regel unbewussten Vorgang halten. Während Balzac jedoch von einer „Tatsache“ zu sprechen glaubt, „die jeder an seinem Nachbarn hat beobachten können“[17], hält Freud eine direkte Beobachtung des Todestriebes für schwierig, wenn nicht sogar für unwahrscheinlich. Freud ordnet seine metapsychologische These zum Todestrieb dem Bereich der Spekulation zu. „Was nun folgt, ist Spekulation“, schreibt er zu Beginn des vierten der insgesamt sieben Kapitel von Jenseits des Lustprinzips, „oft weitausholende Spekulation, die ein jeder nach seiner besonderen Einstellung würdigen oder vernachlässigen wird.“[18] Bei den Beispielen, die Freud nennt – Wiederholungszwang und Sadomasochismus –, handelt es sich nicht um direkte Beweise für die Existenz der Todestriebe, sondern allenfalls um Phänomene, die die Hypothese der Existenz solcher Triebe plausibel erscheinen lassen. – Balzacs Beispiel in der Physiologie der Ehe für die primär letale Zielrichtung der Triebe war die Fehlleistung, das Vergessen. Freuds eigene Auseinandersetzung mit den Fehlleistungen findet sich in der Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Zwar konnte Freud dort resümieren: „Gewisse Unzulänglichkeiten unserer psychischen Leistungen […] und gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen erweisen sich, wenn man das Verfahren der psychoanalytischen Untersuchungen auf sie anwendet, als wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert.“[19] Aber eine Verbindung der Fehlleistungen mit den Todestrieben hatte Freud in der 1901, also fast 20 Jahre vor Jenseits des Lustprinzips erschienenen Arbeit, nicht gezogen.Â
Dennoch weist die Psychopathologie des Alltagslebens bedeutende Korrespondenzen zum Denken Balzacs auf. Balzac hatte an das Ende der Comédie humaine und, wie er meinte, als deren „krönenden Abschluß“ eine Schrift gesetzt mit dem Titel Pathologie des Soziallebens (Pathologie de la vie sociale)[20] – und tatsächlich ist es nicht nur die Phrasierung des Buchtitels, die auf Ähnlichkeiten mit dem Text Freuds hinweist. Balzac geht es in seinem Buch darum, das pathogene Potenzial alltäglicher Phänomene des Soziallebens zu analysieren. So werden etwa der Umgang mit der Mode, der Gebrauch konventioneller Genussmittel wie Alkohol, Kaffee, Tee und Tabak und selbst verschiedene Arten des Körperausdrucks, wie zum Beispiel das Gehen, als Figurationen der Vergänglichkeit in den Blick genommen. Balzac liest diese ganz und gar alltäglichen Erscheinungen des Soziallebens als eine nonverbale Zeichensprache, die Auskunft über die bewussten und unbewussten Dispositionen der Handelnden zu geben vermag. Es ist dies eine Perspektive, die auch in Freuds Psychopathologie des Alltagslebens eingenommen wird. Stärker noch als Freud akzentuiert die Balzacsche Pathologie aber den Horizont des Todes, in den die kleinen Wunscherfüllungen und Fehlleistungen des Sozial- und Alltagslebens eingebunden sind.Â
Zu den wesentlichen Gemeinsamkeiten, die Balzacs Pathologie des Soziallebens mit Jenseits des Lustprinzips unterhält, zählt der strikte ökonomische Gesichtspunkt der Analyse. Leben heißt für Balzac, „sich mehr oder weniger schnell zu verausgaben [dépenser]“[21] – und für die Wunscherfüllungen sei ein besonders hoher Preis zu entrichten. Diese Auffassung findet sich bereits in der Physiologie der Ehe, die nicht zufällig einen Kaufmann zum exemplarischen Protagonisten des Vergessens machte. Dort heißt es auch: „Der Mensch besitzt eine bestimmte Menge von Energie. […] Die Menge von Lebens- oder Willensenergie, die ein jeder von uns besitzt, schwillt an und ab wie der Ton: Bald ist sie stark, bald schwach; sie unterliegt Wandlungen, je nach Anzahl der Oktaven, die sie durchmessen darf.“[22] Balzac ist an der Verteilung und an den Umlaufeigenschaften dieser Energie interessiert, die „in Begierden, in Leidenschaften, in geistigen Tätigkeiten oder in körperlichen Eigenschaften“[23] zum Ausdruck kommen kann. Ökonomisch nun ist auch die metapsychologische Perspektive, die in Jenseits des Lustprinzips entfaltet wird. Es geht Freud in diesem Buch, wie er gleich eingangs zu bedenken gibt, um die Analyse der Zirkulation und der quantitativen Verteilung der Triebenergie, die beim Auf- und Abbau eines bestimmten Erregungszustandes aufgewandt werden muss. „Wir haben uns entschlossen“, schreibt Freud, „Lust und Unlust mit der Quantität der im Seelenleben vorhandenen – und nicht irgendwie gebundenen – Erregung in Beziehung zu bringen, solcherart, daß Unlust einer Steigerung, Lust einer Verringerung dieser Quantität entspricht.“[24]
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Das letzte Buch, der aufgeschobene Tod
Das Chagrinleder ist ein von Balzac als philosophische Studie (étude philosophique) angelegter Roman, der der Untersuchung des Zusammenhangs des Begehrens mit dem Tode gewidmet ist (Abb. 2). Dass ein bestimmter Energieaufwand – wie er sich im Begehren kundtut – in einer nicht zufälligen, sondern verhältnismäßigen Beziehung zum Tode stehe, gehört zu den ökonomischen Prinzipien der bereits in der Physiologie der Ehe dargelegten Ansicht der Triebe. Im Chagrinleder wird diese Auffassung erneuert und durchgespielt auf der Ebene des narrativen Designs (Plot) und der unthematischen textuellen Verknüpfung (Form).
Raphaël de Valentin, der Protagonist des Buches, entschließt sich nach dem ruinösen Besuch eines Spielsalons, seinem Leben ein Ende zu bereiten; er verschiebt die Ausführung der Tat allerdings auf die Nacht und gelangt unterdessen, bei einem Besuch in einem Antiquitätenladen, in den Besitz einer mit magischen Kräften begabten Eselshaut, eben des besagten Chagrinleders. Die zauberhafte Pretiose ist mit arabischen Schriftzeichen versehen, die der Antiquar für Raphaël übersetzt. Der Talisman verspricht dem jeweiligen Besitzer die genaue Realisierung seiner Wünsche – jedoch um einen Preis: Mit jeder Wunscherfüllung wird die Ausdehnung des Leders, entsprechend der Kraft des Wunsches, schrumpfen und das Leben des Wünschenden sich verkürzen. Tatsächlich hat Raphaël bald Anlass, an die Wahrheit der Vorhersage zu glauben. Sein Wunsch nach einer rauschenden Orgie und nach schnellem Reichtum kommt zur Erfüllung, und das Chagrinleder schrumpft ein. „Er erkannte, daß jeder Wunsch ihn Lebenstage kosten werde.“[25] In der Agonie, die dieser Einsicht folgt, fasst Raphaël den Entschluss, das „mechanische, wunschlose Dasein eines bretonischen Bauern“[26] zu führen. Selbst die begehrlichen Phantasiebildungen will er, gleichsam ohne es zu wollen, zum Verschwinden bringen:
Fast froh darüber, gewissermaßen zum Automaten zu werden, hatte er, um zu leben, dem Leben Abschied erteilt und seiner Seele alles Poetische der Wünsche entzogen. Um besser mit der grausamen Macht kämpfen zu können, deren Herausforderung er angenommen, hatte er sich nach Art des Origenes keusch gemacht, indem er seine Phantasie entmannte.[27]Â
Es ist eine strenge Diät, die Raphaël dem Denken, dem Begehren und auch der Nahrungsaufnahme auferlegt. Der von Max Schur zitierte Freud sagte: „Das war das richtige Buch für mich; es handelt von Einschrumpfen und Verhungern.“ Der Wunsch jedoch, wunschlos glücklich zu sein, die Ökonomie der Triebe konstant zu erhalten und ausgeglichen zu bilanzieren, das paradoxe Begehren, das Leben auf dem Weg der Kastration des Begehrens am Leben zu erhalten, muss scheitern. Raphaël stirbt im Zuge einer letzten Wunscherfüllung, in den Armen seiner Geliebten. Das Chagrinleder schrumpft ein letztes Mal und zerfällt zu Staub.
Der Roman ist also so angelegt, dass das Begehren und der Tod ununterscheidbar ineinander übergehen, dass die Wunscherfüllung durch die Annäherung an den Tod erkauft wird. Letzten Endes ist das Begehren der Tod. „Desire is death“, heißt es bündig in einem der Sonette Shakespeares (Nr. 147).[28] Freuds Analyse in Jenseits des Lustprinzips erweist sich somit auch für das Chagrinleder als zutreffend: „Das Lustprinzip scheint geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen“.[29]Â
Wie schon für die Physiologie der Ehe so gilt auch für das Chagrinleder: Der Drang der Triebe über das Leben hinaus ist ein Wiederholungsvorgang, eine „kreisende Bewegung“. Der Plot des Romans lässt daran keinen Zweifel. Der Tod, auf den Raphaël von der wunscherfüllenden Eselshaut geführt wird, kommt auf den Todeswunsch des glücklosen Spielers zurück. Die primär letale Triebneigung des Protagonisten sinkt durch die Intervention der Eselshaut – des Lustprinzips – ins Unbewusste ab und wird zugleich auf dem Weg der Wunscherfüllung realisiert. „Schließlich haben Sie ja sterben wollen“, kommentiert der Antiquar die Übergabe des Chagrinleders an Raphaël. „Nun, Ihr Selbstmord ist bloß aufgeschoben [retardé].“[30]
Die Bedeutung des aufgeschobenen Todes für den Fortgang des Romans ist leicht ersichtlich. Ohne Aufschub des Todes kein Roman. Die Geschichte Raphaëls erhält allein vom Tode ihr narratives Interesse und ihre Definition.[31] Doch ist es nicht der Tod selbst, von dem das Chagrinleder handelt Der Roman wird vielmehr vom Aufschub des Todes motiviert: Die Erzählung erstreckt sich vom gerade noch abgewendeten Selbstmord des Protagonisten bis zur Akzeptanz des Todes. Und unter narrativer Perspektive ist der immer komplizierter, verzweifelter, aussichtsloser werdende Aufschub des Todes eben dies: die Geschichte einer immer weiter voranschreitenden Erschöpfung.Â
Die Frage nach dem Aufschub des Todes, nach der Verzögerung der absoluten Erschöpfung, ist nun auch in metapsychologischer Hinsicht bedeutsam. Sobald nämlich den Todestrieben, die auf die Erschöpfung aller Lebensenergien zustreben, ein primärer, unreduzierbarer Status innerhalb der Triebökonomie zuerkannt wird, muss die Funktion der Selbsterhaltungstriebe, die auf einen solchen Aufschub drängen, rätselhaft erscheinen. Freud hatte diese Problematik in einem Brief an Marie Bonaparte vom 13. August 1937, also gut zwei Jahre vor seinem Tode, mit Bezug auf einen doppelbödigen Werbeslogan zum Ausdruck gebracht. „Mir geht ein ‚advertisement‘ im Kopf herum, das ich für das kühnste und gelungenste Stück amerikanischer Reklame halte: ‚Why live, if you can be buried for ten Dollars?‘“[32] „Warum leben, wenn Du für zehn Dollar beerdigt werden kannst?“ Die Antwort, die sich in Jenseits des Lustprinzips auf diese Frage findet, lautet: Es ist für den Organismus sinnvoller, aus „inneren Gründen“[33] zu sterben als aus Gründen, die von außen an ihn herangetragen werden. Die Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe sind „Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum Anorganischen als die immanenten fernzuhalten“.[34] Als Partialtrieb steht die Selbsterhaltung mit den Todestrieben nicht in Widerstreit. Die Selbsterhaltungstriebe sorgen vielmehr dafür, dass das Programm zur Selbstauslöschung des Organismus, das diesem konstitutiv eingeschrieben ist, ungestört ablaufen kann. Die Selbsterhaltungstriebe leisten insofern einen Beitrag zur Konvergenz des Lustprinzips mit den Todestrieben. Der Selbstmord ist unter diesen Bedingungen zumindest für den Organismus ökonomisch sinnlos; der Suizid unterbräche, mit großem Aufwand an psychischer Energie, lediglich den Ablauf des programmierten Zelltodes, ohne einen greifbaren Mehrwert zu schaffen.Â
Beide, Balzac und Freud, sehen also im Aufschub des Todes eine Konsequenz der konservativen Natur der Triebe, die auf Wiederholung drängen und dazu tendieren, neuen Reizquellen auszuweichen und bereits gebahnte Regressionsspuren aufzusuchen. Und es ist ein unvermeidbarer Effekt des Aufschubs, neue lebensweltliche und epistemologische Differenzen und Wahrnehmungsmuster zu produzieren.Â
Der problematische Charakter dieses umwegigen, lebensverlängernden Todesbegehrens wird – spätestens – dann deutlich, wenn der Diskurs über den Tod, sei er literarisch oder metapsychologisch, dazu übergeht, ein Selbstverhältnis zum Tode zu formulieren, und die Grenze und Definition des eigenen Diskurses in den Blick nimmt. Das Verhältnis zum Tode wird also spätestens dann problematisch und in gewisser Weise unvorstellbar[35], wenn es als eine wesentliche, unabweisbare Struktureigenschaft des Selbst wahrgenommen wird. Diese problematische Wendung zur Definition, zur Begrenzung, aber auch zur Selbstauflösung des Diskurses findet im Chagrinleder und in Jenseits des Lustprinzips wiederum in ähnlicher Weise statt, nämlich als Auseinandersetzung mit den angewandten Beschreibungsverfahren, als Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des textuellen Ereignisses. Â
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Antiphrasis: die absolute Erschöpfung und die Endlichkeit des textuellen Ereignisses
Die Erzählungen der Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht zielten darauf, den Zorn des persischen Sultans zu besänftigen und den Tod draußen vor der Tür zu lassen. Eben dies gehört zum humanistischen Mythos des Erzählens: Wer zuhört, tötet nicht. Und: Zu lesen heißt, den Tod aufzuschieben. An einem gewissen Punkt jedoch muss die Auseinandersetzung mit dem Tod auch die Lesefähigkeit beeinträchtigen und in eine vom Tode affizierte Lektüre münden. „Die letzte Phase begann, als es ihm schwer wurde zu lesen“, schreibt Max Schur über das Sterben Sigmund Freuds. Die letzten von Balzacs Hand erhaltenen, aber kaum mehr lesbaren Worte sind mit einer ähnlichen Erfahrung befasst. Sie lauten: Je ne puis lire, ni écrire, „Ich kann weder lesen noch schreiben.“[36] (Abb. 3)Â
Auch im Chagrinleder und in Jenseits des Lustprinzips gibt es eine letzte Phase der Auseinandersetzung mit dem Tode, und auch sie hat zu tun mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Sobald nämlich vom Schreibenden das Verhältnis zum Tode als Selbstverhältnis wahrgenommen wird, ist der Diskurs mit der möglichen Erschöpfung der Beschreibungspotentiale konfrontiert. Die handlungsorientierte Beschreibung des Todesbegehrens durch den Roman und die thematische Beschreibung des Todesbegehrens durch die Metapsychologie gehen dann ihrerseits, in einem Akt der Wiederholung, zurück auf die Frage nach der anfänglichen Beziehung von Text und Tod. In dieser Phase des literarischen beziehungsweise metapsychologischen Diskurses tritt die Textualität selbst in ihrer Endlichkeit und Vergänglichkeit hervor. Das Schreiben über den Tod wird durchsichtig auf das eigene, letztlich unaufschiebbare Sterben, auf die Möglichkeit der eigenen Nichtgegenwart, einer erinnerungs- und zeichenlosen Abwesenheit ohne Rest, Wiederkehr und Auferstehung. Versetzt in den Horizont des textuellen Entzuges wandelt sich die Erscheinungsweise des Todes. Er ist nun nicht mehr nur der Gegenstand einer Geschichte beziehungsweise das Thema oder das intentionale Objekt einer Theorie, sondern ein textuelles Ereignis, das performativ eingebunden ist in die narrative Abfolge des Romans beziehungsweise in die Konstitution metapsychologischer Geltungsansprüche.Â
So kennzeichnet Balzac mithilfe des Chagrinleders das Verhältnis Raphaëls zum Tode als ein Verhältnis zu einem immer problematischer werdenden Text. Die Eselshaut ist auch ein Schriftstück. Der konstative und der performative Charakter des auf ihm befindlichen Textes koinzidieren. Die auf dem Leder versammelten Buchstaben tun genau das, was sie besagen. Mit jeder Artikulation eines Wunsches, den sie gewähren, werden sie selber kleiner und streben der Unlesbarkeit zu. „Dieses Leder wird stets kleiner, wenn ich einen Wunsch ausspreche“, sagt Raphaël. „Es ist eine Antiphrasis.“[37] Als textuelles Emblem des Todestriebes ist die Eselshaut eine ironische Antiphrasierung des Wunsches. Die auf ihr befindlichen Schriftzeichen beschreiben die Sanduhr des Lebens und Lesens (Abb. 4). Sie bieten eine Lektüre, die zugleich sich selbst und den Leser erschöpft. In der Eselshaut verbindet sich der Doppelsinn der Erschöpfung: das Auskosten der Ressourcen und das Ende der Genussfähigkeit. Die von Roland Barthes so genannte „Lust am Text“ erweist sich für den Protagonisten Balzacs zugleich als eine Krankheit zum Tode. Das mitlaufende Lesezeichen des Chagrinleders ist die ansteigende Erschöpfung der vitalen Energien. Die Leselust, die Lust, die die Lektüre der Eselshaut bereitet, wird durch fortschreitenden Realitätsverlust und schließlich durch den Tod erkauft. Die Annäherung an den Tod zieht nicht nur den Lesenden, sondern auch die Lesbarkeit des Textes in Mitleidenschaft. Der Text schrumpft ein, bis der Tod und die absolute Unlesbarkeit ineinander übergehen. In dem Augenblick, da Raphaël stirbt, zerfällt die Eselshaut zu Staub. Der Tod selbst lässt sich nicht lesen. Er bleibt das schlechthin Unvorstellbare (Abb. 5).
Dieser eigentlichen Unlesbarkeit des Todes entspricht, dass bereits die textuelle Ausformung des Todestriebes auf der Eselshaut in arabischen Lettern, also in Fremdsprache offeriert wird. Das Versprechen der letztlich auf den Tod hin ausgerichteten Lust bleibt dem Leser in seiner originalen, ursprünglichen Form unzugänglich. Es teilt sich ihm allein auf dem Umweg der Übersetzung mit. Raphaëls Verhältnis zum Tode ist also auf den Mechanismus der Übertragung angewiesen, der Übertragung zwischen den Zeichen, den Idiomen, den Sprachen. Was immer Raphaël über den Tod und zumal über den eigenen Tod denken mag, es muss in einem gewissen Sinne imaginär, fabelhaft und metaphernbedürftig bleiben. Dieses uneigentliche Verhältnis zum Tode charakterisiert Balzacs Roman im Ganzen. Der Roman führt vor, dass die Entfaltung einer erzählbaren Geschichte vom Tode einhergeht mit dem allmählichen, aber unaufhaltsamen Entzug der ursprünglich textuellen Motivation, die dem Roman seinen Namen gegeben hat, dem Chagrinleder. Was zurückbleibt, der Roman über den Tod, hat den Charakter einer Übersetzung, die ihre Vorlage aufgezehrt hat und nun als Leerstelle und blinden Fleck in sich verwahrt.
Die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben, von denen Freud in Jenseits des Lustprinzips berichtet, sind nicht weniger einschneidend als die von Balzac geschilderten. Freimütig räumt Freud den spekulativen Charakter seiner Ãœberlegungen ein, er macht auf den „geradezu mystischen Eindruck“[38] seines Gedankenexperiments aufmerksam und unterlegt die eigene Forschung mit „guten Gründen zum Mißtrauen“.[39] Tatsächlich stellt sich für Freud die Annahme von Todestrieben eher als eine metapsychologisch sinnvolle Hypothese dar denn als ein der Beobachtung zugängliches Phänomen. Der Wahrheitsanspruch der Hypothese über die Existenz des Todestriebes wird von Freud im Unentschiedenen belassen. „Man könnte mich fragen“, schreibt er, „ob und inwieweit ich selbst von den hier entwickelten Annahmen überzeugt bin. Meine Antwort würde lauten, daß ich weder selbst überzeugt bin noch bei anderen um Glauben für sie werbe. Richtiger: ich weiß nicht, wie weit ich an sie glaube.“[40] Die klassischen Mittel der metapsychologischen Theoriebildung sind damit erschöpft: Freud weiß nicht, inwieweit er seinen eigenen Ãœberlegungen Glauben schenken darf. Es gäbe – vielleicht – noch etwas über den Todestrieb zu sagen, aber es kann im Rahmen einer positiven Wissenschaft nicht mehr gesagt werden.Â
Dies ist also die Zumutung, die von Jenseits des Lustprinzips ausgeht: wissenschaftlich unbegründbar und möglicherweise doch folgerichtig und unabweisbar zu sein. Die Schwierigkeit, wenn nicht sogar die Unmöglichkeit einer direkten Beobachtung des Todestriebes veranlasste Freud, von der Analyse spezifischer Phänomene, die hypothetisch mit dem Todestrieb in Zusammenhang stehen (wie etwa der Wiederholungszwang und der Sadomasochismus), überzugehen zu einer Analyse der angewandten Beschreibungsverfahren. Wollte man diesen Vorgang mit dem Vokabular der Hermeneutik reformulieren, so könnte man sagen: Die Analyse des Beschreibungsverfahrens antwortet auf die Frage, wie ein Phänomen zu denken sei, dessen Existenz nur spekulativ erschließbar ist.Â
Insbesondere verweist Freud auf die Erfordernis, die metapsychologische Anschauung des spekulativen Gegenstandes durch eine Art „Bildersprache“[41] zu bewerkstelligen. Dabei geht es nicht nur darum, Beobachtungen mittels dieser Bildersprache zu beschreiben, sondern – wie im Fall des Todestriebes – Wahrnehmungen durch die Bildlichkeit der Sprache allererst zu generieren. Das Sprachbild funktioniert somit als Auslöser des erkenntnisleitenden Wahrnehmungsprozesses und Medium der Mitteilung zugleich. „Sonst könnten wir die entsprechenden Vorgänge überhaupt nicht beschreiben, ja, würden sie gar nicht wahrgenommen haben.“[42]Â
Es überrascht wenig, dass die Wertschätzung der erkenntnisgenerierenden Leistung des Sprachbildes Freuds eigene Arbeit in eine wesentliche Nähe zu jenen Diskursformen rückt, die man gemeinhin der ‚Literatur‘ zurechnet, in eine Nähe also zu jenen Romanen, Novellen, Dramen und Gedichten, die Freud – bis zu seinem Tode – wichtig waren. Man weiß, dass Freud schon lange vor Jenseits des Lustprinzips literarische Konfigurationen dem Namen und der Sache nach als analytische Modellformen genutzt hat: Man denke etwa an die Formulierung des Ödipus-Komplexes oder die Theorie des Narzissmus. In Jenseits des Lustprinzips liegen die Dinge aber anders. Denn Freuds Analyseverfahren ist es hier, Wahrnehmung durch Beschreibung zu generieren und nicht nur durch die Beschreibung gleichsam dokumentarisch zu verdoppeln. Wir haben es damit nicht mehr mit einer positiven Wissenschaft zu tun, sondern mit Literatur – mit einer Schreibweise, die sich der Bilder, genauer: einer spekulativen Metaphorik bedient, ohne darum den Anspruch auf Erkenntnis ganz aufzugeben. Bereits der Titel des Essays von Freud – Jenseits des Lustprinzips – ist eine solche a-wissenschaftliche, spekulative Metapher. Er ist Ausdruck der Verlegenheit, keine exakten Angaben über die Existenz und den Ort des Todestriebes machen zu können und doch zugleich ein sinnfälliges Bild für das, was vielleicht möglich ist. Die umwegige Diskursform, die Freud einschlägt, führt ihrerseits auf keinen positiven Gegenstand der Erkenntnis. Sie bleibt spekulativ und beantwortet die Frage nach der Existenz des Todestriebes nicht. Aber der diskursive Umweg gibt Raum und Zeit, das Dilemma der erschöpften Theoriebildung angesichts des Todes zu entfalten.Â
Was Freud mit Balzac – letztlich – verbindet, sind insofern nicht nur gemeinsame Themen oder thetisch formulierbare Erkenntnisse, wie etwa die Annahmen zum Wiederholungszwang, zum Unbewussten und zur ökonomischen Darstellung des Trieblebens. Es ist vielmehr die Einsicht, dass die Spekulation über den Todestrieb zur indirekten, zur übertragenen Rede veranlasst und dass diese Übertragung – die Ãœbertragung des namenlosen Ursprungs des Todestriebes in die uneigentliche Rede –, die Möglichkeit der Beschreibung, der Literatur und der metapsychologischen Bildersprache, der Wahrnehmung und der Einsicht allererst erschafft. Es ist dieser gemeinsam geteilte Umstand, der das Chagrinleder und Jenseits des Lustprinzips als gegenseitige allegorische Konfigurationen lesbar macht. Das eine sagt das andere auf andere Weise. Im Chagrinleder kommt auf andere Weise ein Jenseits des Lustprinzips zu Wort; und in Jenseits des Lustprinzips führt die erschöpfte Theorie auf eine literarische Bildersprache, die angesiedelt ist im Zwischenraum von Fiktion und Realität. Die Annahmen vonJenseits des Lustprinzips enthalten ein diskursives Risiko ohne Netz und doppelten Boden: „[I]ch weiß nicht, wie weit ich an sie glaube“, schreibt Freud.Â
Die Literatur und die Wissenschaft mögen zwar vom Tode handeln. Und beide, Freud und Balzac, tun dies im Chagrinleder und in Jenseits des Lustprinzips. Aber Freud und Balzac kommen auch auf jenen Punkt zu sprechen, da der Tod sich dem eindeutigen, positiven Zugriff der Beschreibung entzieht und nicht selbst beim Namen genannt werden kann. Dies ist dann in den Werken (und auch im Leben) Freuds und Balzacs jeweils der Moment, da die Schwierigkeiten mit dem Lesen beginnen und die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit des Gesagten aufgeschoben werden muss. Es ist der Moment der letzten Phase, da das Kommen des Todes unabweisbar wird und die Gefahr einer absoluten Unlesbarkeit durch keine Pädagogik oder Wissenschaft mehr aufgehoben werden kann. Freud und Balzac haben in ihren Texten nicht nur in vermeintlich objektiver Weise vom Tode gehandelt, sondern die individuellen und textuellen Effekte des Todestriebes beschrieben. Und sie sind dabei auf nicht zufällige, sondern unausweichlichen Defigurationen des buchstäblichen Lesens gestoßen, die die Lektüre zum Tode mit sich führt. Darin liegt gewiss kein Trost für diejenigen, die leben und lesen wollen und ihre Hoffnungen – möglicherweise als Literaturwissenschaftler – ganz an die Lust am Text gebunden haben. Aber es liegt etwas anderes in dieser Erkenntnis, was Freud und Balzac wichtig gewesen ist: nämlich eine größere Nachsicht gegenüber den literarischen, den theoretischen und den persönlichen Erschöpfungszuständen und eine neue Möglichkeit, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben umzugehen.
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Bibliographie
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Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. Einleitung von Riccardo Steiner, Frankfurt a. M.: Fischer, 2000 (= ftb 10438).Â
Freud, Sigmund (1915): „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“. In: ders.: Studien-ausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a. M.: S. Fischer,Â
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1969–1979 (= Conditio humana). Bd. 3 (1980 [1975]), 213-272.
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2 Schur (1977 [1973]), 619.
3 Aus der umfangreichen Literatur zu Freud und Balzac besonders hervorheben möchte ich die Studien von Weber (1979) und Brooks (1985); ein Sammelband mit Aufsätzen zu Balzacs Peau de chagrin liegt vor mit: Duchet (1979). Keine dieser Arbeiten setzt sich jedoch mit der Balzac-Rezeption Freuds auseinander.
4 Vgl. Freud (1920).
5 Balzac (1834/35), 1050; dt., 342.
6 Vgl. Balzac (1829).
7 Balzac (1829), 920; dt., 782. Siehe dazu meine Arbeit: Pankow (2004).Â
8 Balzac (1829), 983 f.; dt., 853, Übersetzung geändert.
9 Freud (1920), 264.
10 Â Freud (1920), 264.
11 Â Freud (1920), 264.
12 Â Freud (1920), 264.
13 Â Freud (1920), 271.
14 Â Freud (1920), 246.
15 Â Freud (1920), 246, kursiviert von Freud.
16 Â Freud (1920), 247.
17 Â Balzac (1829), 984; dt., 853.
18 Â Freud (1920), 234.
19 Â Freud (1904), 303, kursiviert von Freud.Â
20 Â Balzac (1830, 1833, 1839), 303; dt., 155.Â
21 Â Balzac (1830, 1833, 1839), 307; dt., 160.
22 Â Balzac (1829), 1027; dt., 904.
23 Â Balzac (1829), 1027; dt., 904.
24  Freud (1920), 217 f.
25 Â Balzac (1831), 209; dt., 185.
26 Â Balzac (1831), 209; dt., 185.
27 Â Balzac (1831), 217; dt. 194.
28 Â Shakespeare (1609).
29 Â Freud (1920), 271.
30 Â Balzac (1831), 88; dt., 45.
31  Walter Benjamin schreibt in dem Essay über den Erzähler Nikolai Lesskow: „Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen.“ Benjamin (1936), 450. Einige Seiten später heißt es: „Das was den Leser zum Roman zieht, ist die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen.“ Benjamin (1936), 457.
32 Â Freud (1968 [1960]), 452.
33 Â Freud (1920), 264.
34  Freud (1920), 248 f.
35  „Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und sooft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben“. Freud (1915), 49.
36  Gautier (1885), 111. Balzac hatte die Zeile am Fuß eines Briefes an Théophile Gautier hinzugefügt, den er am 20. Juni 1850 diktierte.Â
37  Balzac (1831), 204; dt., 179, Übersetzung geändert.
38 Â Freud (1920), 263.
39 Â Freud (1920), 268.
40 Â Freud (1920), 267.
41 Â Freud (1920), 268.
42 Â Freud (1920), 268.
Abb. 2: La Peau de chagrin. Titelvignette der Edition des Jahres 1838. Stich nach einer Zeichnung von Antoine Baron. Aus: Honoré de Balzac: La Peau de chagrin. Paris: Delloye et Lecou, 1838.
Abb. 3: Balzacs letzter erhaltener Schriftzug: Brief an Th. Gautier vom 20. 6. 1850. Aus: Gaëtan Picon: Balzac [1956]. Paris: Seuil, 1990 (= Écrivains de toujours), 185.
Abb. 4: La Peau de chagrin. Die Sanduhr des Lebens und des Lesens. Aus: Honoré de Balzac: La Peau de chagrin. In: ders. Œuvres complètes illustrées. Publiées sous la direction de Jean-A. Ducourneau. Paris: Les Bibliophiles de l’Originale, 1966 [Bd. 1-16 = „Furne corrigé“]. Bd. 14, 1-224, hier: 26.