Editorial/Einleitung
Erschöpfung indiziert Endlichkeit. Quellen können erschöpft sein und endgültig versiegen. Dies gilt ebenso für materielle Ressourcen wie für psychische und geistige. Doch erschöpft sich in dieser reinen Negativität die Bedeutung der Erschöpfung nicht. Das deutsche Wort Erschöpfung weist deutlicher als etwa das englische exhaustion oder das französische épuisement auf den Umstand, dass in der Erschöpfung auch Schöpfung enthalten ist, dass aus dem Ende der Verfügbarkeit etwas Neues hervorgehen kann.Â
Erschöpfung und Schöpfung. Entgegen dem ersten Anschein handelt es sich bei diesem Begriffspaar nicht um einen bloßen Widerspruch. Man hat es vielmehr mit einem komplementären Phänomenen zu tun. Zur Endlichkeit der Schöpfung gehört von Anfang an das Moment der Erschöpfung. Die Verlagerung einer Grenze oder die Eröffnung eines Horizonts, die durch eine Neuschöpfung – sei es in der Kunst oder den Wissenschaften – in die Welt gesetzt wird, ist immer auch ein Zeichen dafür, wann und wo die Schöpfung an ihr Ende kommt. Ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit folgend, muss sich jede Schöpfung erschöpfen können, um überhaupt eine konkrete Gestalt oder Werkform anzunehmen und nicht bloß konfus auszuwuchern. Die Erschöpfung ist auch eine Produktivkraft, ohne die es keine Schöpfung geben kann.Â
Zunächst einmal legt das Denken der Erschöpfung eine Vielfalt der Szenarien des Nicht-mehr oder sogar Nie-mehr nahe: Die immer weiter um sich greifende industrielle Produktion führt mit unausweichlicher Konsequenz zur Erschöpfung der materiellen Ressourcen der Erde. Obwohl dies spätestens seit dem 19. Jahrhundert thematisiert wurde, drang dieser Umstand erst im 20. Jahrhundert ins allgemeine Bewusstsein. Heute gehört das Wissen um die Erschöpfbarkeit der Ressourcen und die Notwendigkeit der Reduktion des Ressourcenverbrauchs zum politischen und ökologischen Alltagsgeschäft. Die Erschöpfung zeigt sich in ganz verschiedenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexten. Immer weniger gilt die Erschöpfung als Ausnahmefall. Der Zustand der Erschöpfung scheint ein ständiger Begleiter, ein strukturierendes Moment des Alltags zu sein: in der Arbeitswelt und Ökonomie ebenso wie in Wissenschaft und Kunst. Im Burnout kulminieren Effekte einer permanenten Überbeanspruchung. Aber auch der nicht an Burnout leidende Arbeitnehmer westlicher Gesellschaften wird aufgrund eines ununterbrochenen Zwangs zu kommunizieren, zu funktionieren, Leistung zu erbringen zumindest phasenweise an den Rand der Erschöpfung gedrängt und von Erschöpfungszuständen bedroht. Jonathan Crary hat die Ideologie der permanenten Wachheit und Leistungsbereitschaft treffend das „24/7-Modell“ genannt.[1] Allerdings berichten Soziologen und Mediziner auch, dass zur Nichtarbeit gezwungene Arbeitslose über noch mehr Stress- und Erschöpfungsphänomene klagen als sie während ihrer Berufstätigkeit erfahren haben.[2] Fehlende soziale Integration und fehlende Belohnungsmuster für erbrachte Leistungen scheinen die Erschöpfung selbst bei reduzierter Arbeitsbelastung noch zu intensivieren. Erschöpfungsphänomene sind kein Privileg von Gruppen, die gesellschaftlich gemeinhin als Leistungseliten angesehen werden. Nicht zufällig findet der Burnout-Diskurs gegenwärtig größte Aufmerksamkeit in den Medien. Folgt man der Berichterstattung über das Phänomen der individuellen Erschöpfung in wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Publikationen, dann liegt der Schluss nahe, dass der Burnout in den letzten fünf Jahren zur Signatur unserer Zeit geworden ist.
Erschöpfung kann allerdings auch von einer anderen Seite betrachtet werden. Den Zustand der Ermüdung und Erschöpfung als einen schöpferischen Zustand erfahren zu können, scheint vor allem Künstlerinnen und Künstlern vorbehalten zu sein. Von Saint Pol-Roux sagt André Breton im Surrealistischen Manifest, er habe folgendes Schild an seine Tür gehängt, bevor er sich zum Schlafen begab: „Le poète travaille.“ [3]Â
Das Aussetzen fokussierter Aufmerksamkeit, die der Erschöpfte erfährt, transformieren Künstlerinnen und Künstler nicht selten in einen Zustand erhöhter Phantasiebildung und intensivierter Imaginationsfähigkeit. In der Erschöpfung kann die Phantasie schöpferisch, da unreglementiert und frei von instrumentellen Zwecken mit sich selbst verhandeln. Es scheint, wenn auch bisher selten bedacht, ein kreatives und innovatives Potential der Erschöpfung zu geben. Das Ende der Ressourcen, die Erschöpfung, die in ökonomischer und ökologischer Hinsicht unausweichlich zu Innovation und Veränderung zwingt[4], kann auch in ästhetischer Hinsicht als Freiheit zur Innovation und Veränderung aufgefasst werden. Dazu stimmt der utopische Befund aus Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen über die poietische Kraft der Natur:
Mag es seyn, daß die Natur nicht mehr so fruchtbar ist, daß heut zu Tage keine Metalle und Edelsteine, keine Felsen und Berge mehr entstehn, daß Pflanzen und Thiere nicht mehr zu so erstaunlichen Größen und Kräften aufquellen; je mehr sich ihre erzeugende Kraft erschöpft hat, desto mehr haben ihre bildenden, veredelnden und geselligen Kräfte zugenommen, ihr Gemüth ist empfänglicher und zarter, ihre Fantasie mannichfaltiger und sinnbildlicher, ihre Hand leichter und kunstreicher geworden.[5]Â
Ein Blick auf jüngste arbeitssoziologische Forschungen zeigt indes, dass sich der „neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello) auch diese utopische Denkfigur bereits teilweise zu eigen gemacht hat. Gerade die heute ‚innovativsten‘ Coaching-Programme für Führungskräfte zehren nicht mehr so sehr vom „Phantasma unerschöpflicher menschlicher Ressourcen“, sondern schreiben der Burnout-Krise selber ein schöpferisches und innovatives Potenzial zu; diese vermöge „einer neuen Art des Ressourcenmanagments“ zuzuarbeiten, da sie die Betroffenen zu „Selbsttechniken nachhaltigen Ressourcenmanagments“ im Sinne von mehr ‚Empathie‘ und ‚Responsivität‘ animiere – mit dem (vorhersehbaren) Resultat, dass die Subjekte noch stärker als bisher „in sich selbst nach neuen Quellen der Wertschöpfung suchen.“[6]
Dieses Heft versammelt Beiträge einer Tagung im L’arc in Romainmôtier im November 2013. Organisiert, großzügig unterstützt und souverän moderiert wurde die Tagung von Veronika Sellier. Wir danken herzlich für ihr großartiges Engagement und ihre freundliche Begleitung unserer Tagung – wie so vieler weiterer Kooperationen während ihrer langjährigen erfolgreichen Tätigkeit im L’arc.
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Die Redaktion trauert um das langjährige Redaktionsmitglied, unsere liebe Kollegin und Freundin Alexandra Kleihues. Nach einer mutig und tapfer ertragenen schweren Krankheit ist sie am 13. Februar 2015 verstorben. Ihre ausgezeichnete Expertise und Sorgfalt, ihr Einfallsreichtum und ihre Liebenswürdigkeit werden uns sehr fehlen.
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Zürich, im März 2015, Georges Felten, Barbara Naumann, Edgar Pankow
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Fussnoten
1 Jonathan Crary (2014):Â 24/7. Schlaflos im Kapitalismus. Ãœbers. v. Thomas Laugstien. Berlin: Wagenbach, 16. Engl. Orig.:Â 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep. London: Verso, 2013.
2 Stellvertretend für eine Flut von ähnlichen Publikationen sei hier genannt: Alain Ehrenberg (2015): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Übers. v. Manuela Lenzen u. Klaus Martin. 2., erw. Aufl. Frankfurt a. M.: Campus. Frz. Orig.: La Fatigue d‘être soi. Dépression et société. Paris: Odile Jacob, 1998.
3 André Breton (1924): Manifeste du surréalisme. In: ders.: ŒuvresÂ
complètes. Bd. 1. Hg. v.Â
Marguerite Bonnet u. a. Paris: Gallimard, 1988 (= Bibliothèque de la Pléiade), 309-346, hier: 319.
4 Um nur ein konkretes Beispiel für die Verwandlung von Mangel in Nützlichkeit zu nennen: Man denke etwa an das ETH-Plastikflaschen-Projekt „Sauberes Wasser dank Sonnenlicht“: http://www.simplyscience.ch/energie-umwelt/articles/sauberes-wasser-dank-sonnenlicht.html (zuletzt gesehen: 23. 3. 2015).
5 Novalis (1802): Heinrich von Ofterdingen. In: ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 1. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999, 309.
6 Sighard Neckel/Greta Wagner (2013): „Erschöpfung als ‚schöpferische Zerstörung‘. Burnout und gesellschaftlicher Wandel“. In: dies (Hg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp, 203-217, hier: 215 f.