„… ein gewisser Zustand“

Kleists somnambule Charaktere

Hans Richard Brittnacher

Als das lange 19. Jahrhundert am Vorabend des Ersten Weltkrieges zu Ende geht, hat die schwermütige Stimmung aus Abschied, Verfallenheit und Untergangswissen ihr zentrales kulturelles Paradigma im Müdigkeitssyndrom gefunden, dessen elegische Klänge in den Texten der Zeit klagend intoniert werden.[1] Schon am triumphalen Beginn dieses langen Jahrhunderts, als die neu entstandene bürgerliche Gesellschaft ihre Charta deklarierte, waren Krisenerfahrungen ein konstitutiver Bestandteil des neuen Selbstbewusstseins; ausdrücklich musste Kant seinen Zeitgenossen „Mut“ zusprechen, um sich der Bevormundung – ihrem Zwang, mehr aber noch ihrem verlockenden Sog – zu entwinden.[2] Aber das Freikämpfen aus dem Gehorsam verlieh dem neuen Denken seine Frische und bezwingende Kraft und setzte sich bald als unisono formulierter Optimismus durch. Anstelle der aus Glauben und Aberglauben genährten Ängste der Vergangenheit war das Bekenntnis zur Wachheit getreten – Mündigkeit, Zeitgenossenschaft, Tatkraft, hellwache politische Intervention sind verpflichtende Leitideen der räsonierenden Öffentlichkeit des bürgerlichen Zeitalters.[3] Die Zuversicht zu einem Lebensentwurf, den zu gestalten dem Subjekt selbst, nicht länger dem Schicksal, aufgegeben war, prägte auch das Hochgefühl seiner Sozialisationsgeschichten. Zweifel am Selbstbewusstsein des neuen Zeitalters waren den aus dem langen Schlaf der Unmündigkeit erwachten Bürgern so verdächtig wie Zweifel am Tageslicht. Sie galten als die Gegenstimmen der Irrationalen und ewig Malkontenten: defätistische Seufzer über die Gewalt, mit der das Dunkel der Nacht vertrieben worden war.

Die „gebrechliche Einrichtung der Welt“

Wer nicht wie die Vertreter der romantischen Generation auf Konfrontationskurs zu Licht, Tag und Munterkeit ging, wer wie Heinrich von Kleist zwar erhebliche Ressentiments gegen den autoritären Katechismus der alten Ordnung hegte, aber den allzu hochmütigen Versprechen der neuen Ordnung nicht glauben wollte, musste nach einer Sprache suchen, die im kulturellen Inventar der Zeit gar nicht vorgesehen war, keine Vokabeln kannte und kaum Resonanz finden konnte. In einer doppelten Verneinung, die dem Optimismus der Aufklärung genauso wie den restaurativen Seufzern der Romantiker die Zustimmung verweigert, etablieren Kleists Texte eine eigene Semantik: In ihnen wird jenseits der Morgenröte des neuen Denkens und zugleich jenseits nächtlicher Ausschweifungen der Romantik eine Art traumverlorene, halbwache Schläfrigkeit zum Signum einer Subjektivität, die den Fanfarenklang der Vernunft so wenig hören wie dem Lockruf der Regression folgen wollte.

Kleists Helden sind müde im Sinne eines apriorischen Zweifels am Sinn des Tuns: Sie sind schon verdrießlich und verträumt, noch bevor sie gehandelt haben, und die Resultate ihres Handelns scheinen ihrer Skepsis recht zu geben, nicht ihren Hoffnungen. Lange schien auch dem Kadetten der Militärakademie, der sich von strategischen Leistungen imponieren ließ, die Überlegenheit des aufklärerischen Denkens unstrittig. Mehr noch: Die Orientierung an den Idealen der Aufklärung war für ihn, wie er seinem Freund Rühle im Aufsatz, den sichren Weg des Glücks zu finden […] anvertraute, die unerlässliche Voraussetzung eines gelingenden Lebens.[4] Allerdings bereitete ihm das Fehlen einer legitimatorischen Instanz zunehmend Probleme, muss doch das, was legitimiert, von anderer Art sein, als das, was legitimiert wird. Die Selbstbezüglichkeit der Vernunft jedoch setzte diese Hierarchie der Werte außer Kraft – wo alles auf anderes verweist, droht der Denker in den Taumel einer nicht endenden Semasiologie ohne Letztbegründung zu geraten.[5] Infiziert vom Gift des Zweifels lautete bald Kleists Kardinalfrage, „ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“[6] Die der Verlobten Wilhelmine von Zenge im Brustton der Überzeugung mitgeteilten, im Überschwang der Überzeugung nachgerade diktierten Grundsätze eines aufgeklärten Weltvertrauens werden bald hinfällig: „Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr – / Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat“.[7] Der instrumentelle Einsatz von Denken und Sprechen, Strategie und Rhetorik haben als die dominierenden diskursiven Orientierungen nur Unglück in die Welt gebracht. Worten, die lügen, und Handlungen, die Zwecke verfolgen, ist die „gebrechliche Einrichtung der Welt“ – so Kleists immer wieder bemühte Metapher zur Charakterisierung eines beständig gefährdeten Lebens[8] – nicht gewachsen.

Die Zweifel an der Zuverlässigkeit einer vernunftgeleiteten Erkenntnis greifen bald auch auf die Sprache über. Schon früher beklagt Kleist, „daß es uns an einem Mittel zur Mittheilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht mahlen u was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke.“[9] Auch in das Selbstgespräch schleicht sich das Gift des Zweifels ein. Die Popularität der Diaristik um 1800 bezeugt den pietistischen, aber auch aufklärungsinduzierten Optimismus des Schreibens: Die von Tag zu Tag fortgeschriebene Erkenntnis und Vergewisserung des eigenen Selbst beruht auf dem Grundprinzip einer kontinuierlich gelingenden Selbstreflexion. Aber Kleist will nicht einmal mehr dem eigenen Tagebuch seine Gedanken mitteilen, weil, wie er Wilhelmine von Zenge anvertraut, „mich vor allem Schreiben ekelt.“[10] Die von ihm selbst so schmerzlich empfundenen Zweifel an den Möglichkeiten von Sprache und Erkenntnis gibt Kleist in seinen dramatischen und narrativen Experimenten seinen Protagonisten als habituelle Voraussetzung mit – als Bedingungen ihres fast unvermeidlichen Scheiterns. Kleists Heldinnen und Helden sprechen sogar in ihren Liebesdialogen aneinander vorbei[11], weil sie ihren Herzensdiskurs einer dazu ganz ungeeigneten Sprache anvertrauen müssen, die alles, was ihrem Empfinden noch klar ist, ausgesprochen zur Unkenntlichkeit entstellt. Was die Sprache ihres unvermeidlich trügerischen und täuschenden Charakters wegen gerade im intimen menschlichen Miteinander anrichtet, ist eine Unordnung der Einsichten und Empfindungen, die nicht selten tödlich endet. Alkmenes abschließendes berühmtes „Ach“, in einer Situation vollständiger Desorientierung nur noch gehaucht, verzichtet endgültig auf den Versuch einer präzisen Artikulation des Intimitätsdesasters und flüchtet sich in einen Laut, der dem Verstummen näher steht als der Verständigung. In riskanten, fast schon artistischen Hypotaxen, die in der Sprache um 1800 ihresgleichen suchen, müht Kleists Diktion sich verzweifelt, die Erfahrung einer aus ihren Fugen geratenen Welt grammatisch noch zu bändigen, aber immer wieder muss die Unsagbarkeitstopik die verbale Ohnmacht des Schreibenden angesichts der ‚Gebrechlichkeit‘ der Welt und der zu ihrem Verständnis untauglichen kognitiven und semantischen Mittel einbekennen: „Unaussprechlich“, „unbeschreiblich“ und „unsäglich“ sind die immer wieder bemühten Vokabeln sprachlicher Not. Ihr Satzzeichen findet die Ausdruckskrise im Gedankenstrich, von dem niemand so bedeutsam Gebrauch machte wie Kleist – seinen wohl berühmtesten Einsatz erhält er, als es darum geht, die Vergewaltigung der in Ohnmacht gesunkenen Gräfin von O… vielsagend zu verschweigen. Der Gedankenstrich bezeichnet jenen Ort, den keine Sprache erreicht. Die Fassungslosigkeit dessen, der nicht zu denken wagt, was doch geschehen ist, flüchtet sich in das sprachliche Zeichen der Absenz – es markiert die Leerstelle zwischen zwei Gedanken, deren einer nicht mehr gilt, während der neue noch um Form ringt.

Kleists Apologie von Traum und Schlaf

Dieser universelle Zweifel, ob sich in einer ‚gebrechlichen‘ Welt wohl noch zuverlässig Gebrauch machen lasse von den Möglichkeiten des Verstandes und der Sprache, wird pariert allein durch die Erfahrung, in einem Raum vor aller Sprache noch ein verbindliches Axiom des Handelns finden zu können. Hier, in einer inneren Gewissheit, in der „innigsten Innigkeit“[12] finden Kleists Helden einen letzten Halt – es ist ein vorbewusster seelischer Zustand, der gegen alle intellektuellen Operationen intransigent zu sein scheint: die letzte Instanz der Selbstvergewisserung, die dem von den Täuschungen und der Lüge bedrohten und angewiderten Bewusstsein als unveräußerliches letztes Exil bleibt. Das Vertrauen von Kleists Protagonisten auf eine innere Gewissheit jenseits der trügerischen Welt des Sprechens und Denkens geht einher mit Zuständen der Schläfrigkeit, des Halbschlafs, des Tagtraums. In der Müdigkeit siegt der Körper über den Geist – eben dies aber sind Phänomene, wie sie zur gleichen Zeit vielfach im Magnetismus und Somnambulismus zu beobachten waren und wie sie von der an den verborgenen Kräften der menschlichen Seele interessierten romantischen Wissenschaft, namentlich von Gotthilf Heinrich Schubert in seinen Ansichten zur Nachtseite der Naturwissenschaft [13], intensiv studiert wurden. Kleist schenkte ihnen bekanntlich besondere Aufmerksamkeit[14], wurde hier doch der Beweis erbracht, dass es der Vernunft nicht ohne weiteres zugängliche, in ihrer Wirkung aber nachweisbare Kräfte gebe. Befremdlich, ja verstörend, ist der Gewaltcharakter dieser Phänomene, der sich in Formen physischen und psychischen Extremismus äußert, in bedingungsloser Hingabe wie bei Käthchen, in erotischer Raserei wie bei Penthesilea, im katalektischen Stupor, in dem der Träumende gefangen liegt. Dass solche Kräfte nicht allein unbestreitbar vorhanden sind, sondern sich auch gegen jeden Versuch ihrer Manipulation durch einen analytischen, ‚zergliedernden‘ Verstand nachgerade gleichmütig behaupten, verleiht ihnen in der Perspektive des von der Vernunft so maßlos enttäuschten Kleist eine ganz besondere Dignität. Im Magnetismus wirken, nicht anders als in der chemischen Gleichnisrede von Goethes Wahlverwandtschaften, in der Natur schlummernde Kräfte unwiderstehlich auf den Menschen ein – Goethe nannte derlei „dämonisch“.[15] Was immer die Protagonisten seines Romans auch unternehmen mögen, dem widerstehen zu wollen, sich ihm zu widersetzen – zuletzt erliegen sie ihm.

Trotz seines literarischen Zugeständnisses an die Fatalität solcher Kräfte nahm Goethe das Schlafwandeln Käthchens als Beleg für die pathologische Disposition seines Urhebers: „Ein wunderliches Gemisch von Sinn und Unsinn“. Zum Entsetzen Riemers, der sich das Exemplar des Käthchens nur ausgeliehen hatte, warf Goethe es mit den Worten „Verfluchte Unnatur“ ins Feuer.[16] Im vergeblichen Kampf um Autonomie – ob im Roman Goethes, im Drama Kleists oder in der Wirklichkeit bei den Probanden Mesmers oder Justinus Kerners[17] – wiederholt sich die Pantomime des um Wachsamkeit bemühten, aber erschöpften Menschen, der schließlich, aller Anstrengung zum Trotz, die Augen offenzuhalten, in den Schlaf sinkt oder vielmehr ‚fällt‘.

Die Sprache liefert, je mehr der Sprecher ihre strategischen Absichten vergisst und sich ihrer naiven Anschaulichkeit überlässt, Wahrheiten, die hinausreichen über den propositionalen Sinn der Sätze. Dass der Ermüdete, wie sehr er sich auch ans Wachsein klammert, schließlich in den Schlaf ‚fällt‘, macht im Bild des Sturzes das Abgründige des Wechsels deutlich – Schlafen und Wachen sind getrennte Zonen, wer in der einen ist, kann nicht in der anderen sein. Wer einschläft, gibt nach: Das Bewusstsein beugt sich dem Gewicht des Körpers, der niedersinkt. Die Müdigkeit des Schläfrigen steht schon im Zeichen der bevorstehenden Niederlage: Sie ist ein Schwellenzustand, nicht länger im Wachsein zuhause, aber noch nicht in der Bewusstlosigkeit angekommen. Sie ist angefüllt von beidem und doch keines von beidem zugleich. Im Halbschlaf haben Allmachtphantasien und Abstraktion gleiches Recht. Was der Ordnung des Wachseins nur als Desertion von der Vernunft erscheinen kann, ist zugleich ein für Erfahrungen anderer Art aufgeschlossener Wahrnehmungszustand. Zwischen der Welt des wachen Bewusstseins und des tiefen Schlafs gibt es keine Verbindungswege, nur den Wechsel von Phasen: Wachsein, Halbschlaf, Traum. Wer folglich in der Wachwelt wie ein Schlafender agiert, muss jenen, die im Licht des Tages stehen und handeln, verdächtig erscheinen: sei es, dass sie in der Mimik der Träumer, in ihren Worten oder in den Bewegungen der Schlafwandler die Einwirkung buchstäblich dämonischer Mächte vermuten, sei es, dass sie sich hier mit einem Abgrund der menschlichen Natur konfrontiert glauben, der für eine an den Lichtqualitäten des Menschen orientierte Anthropologie dunkel bleiben muss. Träume sind „der blinde Fleck der Aufklärungsanthropologie“.[18]

Die Träume eines preußischen Offiziers …

Vor der Macht der Träume ist nicht einmal ein preußischer Offizier sicher: Den Prinzen Friedrich findet die Hofgesellschaft in der ersten Szene von Kleists Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg – „Es ist Nacht“ schreibt die Regieanweisung vor und es wird in diesem Traumspiel, mag auch bald der Tag anbrechen, nie wirklich hell – unziemlich gekleidet und nicht bei Sinnen: Er „sitzt mit bloßem Haupt und offner Brust, halb wachend, halb schlafend, unter einer Eiche und windet sich einen Kranz.“[19] Dass er sitzt und doch zur Hälfte schläft, statt dem Eigenwicht des Körpers im Schlaf zu folgen, macht den liminalen Status seines Wachschlafs deutlich. Wenn ein preußischer Offizier am Vorabend einer entscheidenden Schlacht in derangiertem Aufzug sich „eitel wie ein Mädchen“[20] einen Kranz flicht, ist der Nachweis erbracht, dass der Somnambulismus die von ihm Betroffenen nicht nur der sozialen Ordnung entrückt, sondern offenbar auch noch jener der Geschlechter. Der schlaftrunkene, von seinem nächtlichen Genius beseelte Prinz verweigert die Konvention des Gesprächs: Was man Friedrich sagt, nimmt er nur zu Hälfte wahr, er deutet die Worte anders, als sie gemeint sind. Den Ruhm eines Helden, so belehrt der einigermaßen perplexe Kurfürst den „Rasenden“[21], den „Sinnverwirrten“[22], erwerbe man sich am Tage und im Kampf: „Im Traum erringt man solche Dinge nicht!“[23] Dem Prinzen selbst ist sein Zustand nicht geheuer: Kaum aufgewacht, verflucht er seinen Somnambulismus; aber auch hier verrät die Sprache, was er eigentlich meint, sowenig er dies auch sagen kann: Der vom Schlafwandeln als einem ihm gemäßen Zustand affizierte Prinz wünscht sich paradoxerweise nicht ans Licht des Tages, sondern wieder in das Dunkel der Nacht: „Daß mich die Nacht verschläng’! Mir unbewußt / Im Mondschein bin ich wieder umgewandelt!“[24] Tatsächlich werden die unerhörten Reize der Nacht im verlockenden Vokabular einer ars amandi anschaulich gepriesen:

Und weil die Nacht so lieblich mich umfing,
Mit blondem Haar, von Wohlgeruch ganz triefend,
Ach! wie den Bräutgam eine Perser-Braut,
So legt’ ich hier in ihren Schoß mich nieder.[25]

So muss es nicht wundern, dass Friedrich nach somnambul verbrachter Nacht mit der dem Schlafwandler auch in Wachzuständen eigenen Zerstreutheit die ausdrücklich gegebene Anweisung, erst nach Befehl anzugreifen, überhört. Weil er, selbstversunken, nicht vom Kommandeur, sondern vom Herz seine Ordre empfängt, greift er befehlswidrig in die Schlacht ein – und wendet mit einem Husarenstück das Kriegsglück. Es ist seine Insubordination, die den Ausgang der Schlacht zugunsten der Preußen entscheidet. Gleichwohl wird ihm vor dem Kriegsgericht der Prozess gemacht – die Hoffnung des Kriegshelden auf Begnadigung erfüllt sich nicht. Erst als er selbst die Rechtmäßigkeit des über ihn gesprochenen Todesurteils gutheißt, kann der Kurfürst auf Gnade erkennen. Die Forschung ist lange dem Wortlaut des Stücks gefolgt und hat die Anerkennung des förmlichen Rechts als sittliche Reifung des übermütigen Prinzen gedeutet. Aber das Stück feiert auch die Ergebung in den Willen des Inneren, jenen Gehorsam, den Prinz Friedrich der Stimme seinem Herzen erweist, und tut die ihm abgenötigte Zustimmung zur positiven Satzung als Formsache ab: „Mir ziemt’s hier zu verfahren, wie ich soll!“[26] Ist diese Zustimmung dem Helden abgerungen und einmal gegeben, kann das Drama die Gattung wechseln und vom tödlichen Ernst der Tragödie zum heiteren Tonfall der Komödie wechseln, die unbekümmert wie Shakespeares Zauberspiele das Genie des Schlafes feiert. In einem sonderbaren Traumspiel – als habe es Angst vor der eigenen Courage, sich unmissverständlich zur tieferen Wahrheit des Schlafs zu bekennen[27] –, erlöst es den Held aus seiner Todesangst, begnadigt ihn und führt ihm obendrein die Braut zu. Damit sind am Ende des Dramas, wie Max Kommerell in einer rettenden Deutung ausgeführt hat, „die Welt und der Träumer so, wie sein Schlaf beide erschaffen hat […] Der Schwärmer fand den Lorbeer, er bestand die Schlacht, er empfängt das doppelte Symbol der fürstlichen und weiblichen Gunst.“[28] Die tiefere Wahrheit des Schlafs muss indes keineswegs friedlich sein. Hegels Besorgnis, dass in Kleists Drama „das magnetische, der Somnambulismus, das Schlafwandeln als das Höchste und Vortrefflichste dargestellt“ werde, womit sich der weiche, zarte, in seinem Traum befangene Prinz von Homburg zuletzt als „erbärmlicher General“[29] erweise, übersieht die Entschlossenheit, mit der die dem Traum ergebenen Helden Kleists die Wahrheiten, die ihnen der Schlaf flüsterte, Ernst nehmen und umsetzen. Der Chauvinismus des letzten Verses verrät, welch militärisch segensreichen Folgen sich auch ein Generalstab von solch impulsiven, dem eigenen Inneren vertrauenden Entscheidungen erhoffen darf (wie wenig er diese auch zugeben kann): „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“[30]

… und einer schwäbischen Prinzessin

Eine ähnliche unbegreifliche, aus ihrem Inneren aufgestiegene Macht hat auch das Käthchen von Heilbronn in Kleists gleichnamigen Drama so sehr ergriffen und erotisch auf den Ritter Wetter vom Strahl gepolt, dass sie ihm, nicht länger bei Sinnen, wie von einem Magneten gezogen folgt: Am Tage, da sie ihn erstmals in der Werkstatt des Vaters gesehen, sei sie, wie der empörte Theobald berichtet, leichenblass, wie vom Blitze getroffen, zu Boden gestürzt. Nun folge sie ihm, so klagt er weiter, „gleich einer Metze, in blinder Ergebung, von Ort zu Ort; geführt am Strahl seines Angesichts, fünfdrähtig, wie einen Tau, um ihre Seele gelegt“.[31] Mit dem Begriff „Metze“ übersetzt die Sprache des Dramas die magnetische Anziehungskraft, um ihre Befremdlichkeit noch zu unterstreichen, in das Bild biologischer Hörigkeit: Käthchen folgt dem Grafen, „wie ein Hund, der von seines Herren Schweiß gekostet“[32] hat. Wetter, der erfragen will, „warum sie hinter mir herschreitet, einem Hunde gleich“[33], erhält Antworten, die zeigen, dass sich die Befragte – ähnlich wie Friedrich – in einem eigentümlich zwischen Gegenwartsbewusstsein und Traumverlorenheit stehenden Zustand befindet: Käthchen ist sich im Klaren, mit dem Grafen zu sprechen, aber hat keine weitere Einsicht in ihre Situation. Sie hört nur ihn, reagiert nur auf seine Fragen, als sei niemand sonst gegenwärtig. Ihr ganz auf Wetter ausgerichtetes Verhalten, mit dem sie sich buchstäblich dem Ritter hinterher geworfen hat, erscheint als besinnungslose Leidenschaft einer ihrer Empfindungen und Sinne nicht mehr Mächtigen. Es wundert nicht, dass Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik in diesem Verhalten die Verabschiedung jeder willentlichen Freiheit zu erkennen glaubte, eine Selbstaufgabe, die bis zum Extrem der „unfreien, knechtischen, hündischen Aufopferung der Würdigkeit des Menschen“[34] reiche. Dass Käthchen mehrfach vor Wetter niederkniet und ihn als „mein hoher Herr!“[35] anspricht, macht ihre Demut, ja ihre Unterwürfigkeit offensichtlich und relativiert andererseits die Brutalität seiner Bemächtigungsphantasien als eine von ihrer Willigkeit überhaupt erst provozierten Aggression:

Der Hirsch, der von der Mittagsglut gequält,
Den Grund zerwühlt, mit spitzigem Geweih,
Er sehnt sich so begierig nicht,
Vom Felsen in den Waldstrom sich zu stürzen,
Den reißenden, als ich, jetzt, da du mein bist,
In alle deine jungen Reize mich.[36]

Theobald führt wegen der Ergriffenheit Käthchens, die er sich so wenig wie der Graf erklären kann, Klage vor dem Femegericht. Er verdächtigt den Graf übler Absichten – Teufelei müsse im Spiel sein, wenn ein so braves Mädchen wie sein Käthchen unversehens alle Hemmungen verliere: „[I]ch klage ihn schändlicher Zauberei, aller Künste der schwarzen Nacht und der Verbrüderung mit dem Satan an!“[37] Der Graf hingegen, einstweilen noch ein Mann nüchterner Ansichten, vermutet eher eine psychische Verwirrung: „Daß sie ein Wahn betört, ist klar“.[38] Theobalds Empörung und Wetters Diagnose, Dämonisierung und Pathologisierung, sind die gängigen Reaktionen auf ein Verhalten, das unzugänglich bleibt gegen die Vorhaltungen der Vernunft und trotz aller offensichtlichen Bizarrerie sich seiner selbst unerschütterlich gewiss ist. Der Somnambulismus präsentiert sich als ein präreflexives Orientierungswissen: Im Schutz der Nacht weiß es sich offenbar besser aufgehoben als am Tage. Später, in der berühmten Holunderbuschszene, realisiert Wetter Käthchens Verliebtheit als unwiderleglichen Tatbestand, obgleich er auch jetzt noch eine zwar possierliche, im Grunde aber nicht ganz statthafte biologische Disposition dieses Charakters vermutet: „wie ein Murmeltier“[39] schlafe sie, „wie ein Jagdhund“[40] träume sie, und: „Verliebt ja, wie ein Käfer, bist du mir.“[41] Dass sie im Schlafe spricht, und dabei zur Clairvoyance befähigt ist, deren Triftigkeit vom Ausgang des Dramas bestätigt wird – „Zu Ostern, über’s Jahr, wirst du mich heuern“[42] –, verleiht auch hier, im Märchenspiel nicht anders als im Preußendrama, dem Somnambulismus eine Dignität, in deren Glanz zuletzt auch die Unbeirrbarkeit Käthchens steht. Am Ende werden sowohl die dämonische wie die pathologisch-erotische Lesart ins Unrecht gesetzt, um die höhere Wahrheit der Liebe zwischen Käthchen und Wetter vom Strahl „transzendent zu verbürgen und die Liebenden über alle Hindernisse hinweg schließlich mit traumwandlerischer Sicherheit zum glücklichen Ende zu führen.“[43] In der von Missgunst, Lüge und Verstellung verdunkelten Welt sehen nur die Schlafwandler klar: Das Suspendieren des Wachzustandes ist Voraussetzung persönlicher Integrität und effektiven Handelns.

Liebe, Traum und Tod

Dass der Traum die Wahrheit einer intensiven Liebe verbürgt, mag die Wirklichkeit auch alles aufbieten, um eine solche Liebe zu verhindern, macht auch Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo deutlich. In Haiti, dem „in Empörung begriffenen Mohrenland“[44], wo die vormaligen schwarzen Sklaven gegen ihre weißen Unterdrücker rebellieren, ist nichts riskanter und nichts unwahrscheinlicher als die Liebe eines Weißen zu einem Mischlingsmädchen, zumal wenn dieses von seinen Partisaneneltern als Lockvogel missbraucht wird. Aber Toni liebt den, den sie nicht lieben darf, aus einer Eingebung heraus, deren frappante Unwahrscheinlichkeit von einem Paradoxon illustriert wird: Zu ihrer Entscheidung, sich an die Brust des Fremden zu legen, gelangt Toni „nach einem flüchtigen, träumerischen Bedenken“.[45] Dass Denken und Traum sich einen flüchtigen Moment teilen können, findet in der semantisch durch körpersprachliche Reaktionen codierten Erzählwelt Kleists seine Entsprechung in einem „überaus reizenden Erröten“.[46] Als unwillkürliche physische Reaktion ist das Körperzeichen wahrhaftiger als ein mit trügerischen Worten formuliertes Liebesgeständnis je sein könnte. Gerade die im Moment der Flüchtigkeit gewonnenen Einsichten sind die verbindlichsten: „Das Flüchtige ist das wirklich Bleibende“[47], denn die Lüge paktiert mit dem Dauerhaften. Nur in der Epiphanie des flüchtigen Moments wird der Einblick in die sonst verschlossene Wahrheit gewährt. Dass Flüchtigkeit auch „der Vorbote des Todes“[48]ist, kann freilich nur den schrecken, der am Leben hängt – nicht Kleist, der schon 1801 der Verlobten schrieb: „Das Leben ist das einzige Eigenthum, das nur dann etwas werth ist, wenn wir es nicht achten.“[49] Wenn Kohlhaas nach seiner entwürdigenden Behandlung auf der Tronkenburg seinen aufflammenden Zorn niederkämpft und statt dessen „auf eine träumerische Art“[50] zu seinen Pferden tritt, ist im Grunde die erfolgreiche Strategie eines Partisanenkriegs bereits beschlossene Sache: „Statt die Lage zu überdenken, beginnt Kohlhaas zu träumen; statt rational [zu] um[ ]reißen, welche Taktik und Strategie die Situation erforderte, schaltet er sein Bewußtsein aus.“[51]

Die Schlafwandler Kleists wissen zwar um ihr Schlafwandeln, aber nichts mehr von dem, was sie während ihres Schlafwandelns wussten. Im Traum weiß Prinz Friedrich, dass er Natalie liebt – kaum erwacht, hat er ihren Namen vergessen.[52] Gustav von der Ried ist sich im Traum einer Liebe unerschütterlich sicher, die er im Wachzustand verleugnet: „Ein tiefer Traum, von dem sie der Gegenstand zu sein schien, beschäftigte ihn; wenigstens hörte sie, zu wiederholten Malen, von seinen glühenden, zitternden Lippen das geflüsterte Wort: Toni!“[53] Als ob Toni ahnte, dass Gustavs Erwachen ihr den Tod bringt, zögert sie, „ihn aus den Himmeln lieblicher Einbildung in die Tiefe einer gemeinen und elenden Wirklichkeit herabzureißen.“[54] Die Sprache Kleists, die mit ihrer spezifisch invertierten Topographie den Schlaf oben im Himmel und den Wachzustand unten beim Gemeinen und Elenden platziert, gibt Tonis Ahnung recht. Wachgeworden verneint Gustav, was ihm der Schlaf versichert hat und erschießt seine scheinbar wortbrüchige Geliebte – obwohl er dem unschuldigen Wissen seines Traums hätte vertrauen sollen, nicht den in der Wirklichkeit gewechselten und deshalb trügerischen Worten. Toni hatte, um das Misstrauen der Eltern zu zerstreuen, eine Lügengeschichte fingiert. Nicht der Traum lügt, sondern die Sprache – dass sie es so überzeugend kann, zeigt ihre Brauchbarkeit für jede Intrige. Gustavs Wechsel vom Schlaf zum Erwachen als Wechsel von der Liebe zum Jähzorn zeigt freilich auch, wie gebrechlich die vom Schlaf gewährten Einsichten in einer von Misstrauen regierten Welt sind. Als Toni, tödlich in die Brust getroffen, ihrem Mörder mit den letzten Worten noch erklären will, warum sie ihn band, versagt nicht nur ihr Körper, sondern vielsagend kollabiert auch die Sprache des Erzählers: „Dich, liebsten Freund band ich, weil – – !“[55] Ein Gedankenstrich reicht für den Verrat, den der Verstand am Herzen beging, nicht hin – das abschließende Ausrufungszeichen nach dem zweiten Gedankenstrich bekräftigt in sprachloser Unmissverständlichkeit die Infamie einer vernünftigen Schlussfolgerung.

Das sichere und richtige Wissen, das den Figuren Kleists im Schlaf vermittelt wird, verweist auf einen Zustand, der sich in Halbschlaf und Traum als eine andere, diffuse, aber verlässlichere Wissensordnung und Handlungsorientierung anbietet. Kleists Rehabilitation des Vorbewussten zu einem Organon höherer Erkenntnis vertraut der Phantasie ein Vermögen an, das die von der strategischen Disposition vergiftete Sprache der Vernunft verloren hat. Im Zustand allgemeiner Auflösung, wie er nach dem Erdbeben in Chili herrscht, glauben sich Josephe und Jeronimo sicher. Allein Donna Elisabeth weiß, dass die Sehnsucht nach Gewalt nur pausiert und sieht die Gefahr, die den vom Glück des Überlebens trunkenen Protagonisten verborgen bleibt. Sie vermag dies dank ihrer Nähe zu einem Wissen, das nicht im Schatten des Lichts steht: Ihre Hellsicht gewinnt sie „mit träumerischen Blicken auf Josephe“.[56] Was ihr „träumerisch[]“ dämmert, will der stolze Don Fernando – dem die „Röte des Unwillens“[57] das Antlitz färbt – nicht wahrhaben. Er, ein Bruder des jähzornigen Gustav, der mit seinem Handeln und Denken in der Welt des Tages zuhause ist, nimmt die Zeichen des Unheils nicht wahr, die sich der gedanklich abwesenden Elisabeth mitteilen. Wenn es allen anderen Figuren aus Kleists erzählten Welten so vorkommt, als ob die jeweiligen Protagonisten nicht sich selbst gehorchen, sondern, wie von einem Magneten gezogen einem fremden Willen folgten, kommen diese doch dem, was sie lieben und wünschen – oder hassen, wie im Falle Kohlhaas’ –, mag es ihnen selbst auch unbewusst sein, näher, als ihnen je im Wachzustand möglich wäre. Im Zustand träumerischer Absenz ist es möglich, Zeichen zu deuten, die dem Wachen verborgen bleiben. Gelegentlich gar gelingt ihnen das Unmögliche: in versöhnende Balance zu bringen, was im Wachzustand als Antagonismus unerträglich ist.

Das Zeugnis der Marionette

Die besinnungslose Anhänglichkeit Käthchens lässt den misstrauischen Theobald im Grafen Wetter einen Manipulator vermuten, der sein Opfer „fünfdrähtig“ am Gängelband führe – hier wird die Nähe zu einer Figur offensichtlich, die immer wieder als Schlüsselmetapher der Poetik Kleists erkannt wurde: die Marionette. In einem eigentümlichen Dialog gelangen die beiden Redner, eben weil sie nicht recht bei der Sache sind, mal „zerstreut“[58], mal „betreten“[59]argumentieren, durchweg paradox, niemals logisch, zu Behauptungen, die ihre Berechtigung gerade aus der Verabschiedung vernünftiger Diskursmuster beziehen. Widerstandslos, gehorsam führt die Marionette, was der Marionettenspieler den Drähten, an denen sie hängt, als Bewegungsimpulse mitteilt, in vollendeten Figuren aus – so wie die Helden und Heldinnen in Kleists Dramen und Erzählungen sich so lange in träumerischer Sicherheit durch die Welt bewegen, wie sie den Kräften ihres Innern gehorchen. Ihre besondere Anmut gewinnt die Marionette, so die Pointe von Kleists dezidiert antiklassischer Argumentation[60], aus dem apriorischen Verzicht auf Reflexion: Anmutig ist sie, weil der „letzte Bruch von Geist“[61] aus ihr entfernt ist. Das Bewusstsein hingegen richtet „Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen“[62] an: Der Jüngling etwa, der die Anmut des Dornenausziehers nachahmen will, büßt sie in dem Maße ein, wie sein Versuch, sich ihrer im wiederholten Nachstellen der Urszene zu vergewissern, an der planvollen Inszenierung des Vorgangs, also dem Gebrauch der Vernunft, scheitern muss. Der Bär fechtet mit unfehlbarer Sicherheit, weil keine störende Reflexion die bewusstlose Kreatur zu behindern vermag. Dass der Gliedermann, so Kleists wohl größte Provokation, anmutig über allen Begriff hinaus sei und deshalb mit Gott vergleichbar, verweist auf jenen archimedischen Punkt in Kleists Poetik, wo aus dem Absolutismus eines durch keine Reflexion getrübten Vertrauens heraus Schönheit und Wahrheit in eins fallen.

Zumeist werden die facultates inferiores bei Kleist nur defensiv behauptet, als Kräfte, die trotz der Übermacht eines lärmenden Optimismus sich in aller Stille als geheimnisvolles Residuum erhalten haben. Gelegentlich aber behaupten sie sich auch in offener Auseinandersetzung: Mehr noch, der spürbare Widerstand wird ihnen zur Quelle einer beflügelnden Kraft. Das geschieht der Marionette in dem Maße, in dem die Wirklichkeit sich ihrer Bewegung als Hemmung entgegensetzt: „Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben.“[63] In einem anderen seiner poetologisch aufschlussreichen Essays erläutert Kleist diesen Gedanken am „Donnerkeil“ des Mirabeau: Vom Zeremonienmeister des Königs angehalten, die Versammlung der Stände aufzulösen, entwickelt der empörte Mirabeau eine zunächst noch „verworrene Vorstellung“ aus ihrer „völligen Dunkelheit“.[64] Die widrige Präsenz des Zeremonienmeisters befeuert noch seinen rhetorischen Sturmlauf. Immer wieder Atem holend und neu ansetzend spitzt er seine anfangs noch diffuse Aggression schließlich zur völligen Klarheit zu, nämlich einer unmissverständlichen Provokation des Königs. In mehreren Beispielen verdeutlich Kleist, wie es gerade der Widerstand ist, aus dem die Klugheit des inneren Wissens ihre Kraft bezieht. In seiner äußeren Gestalt reproduziert der Essay, was er beweisen will – erst am Ende, nach all den umständlich entwickelten und künstlich in die Länge gezogenen Ausführungen, gelangt die These zum pointierten Ausdruck: „Denn nicht wir wissen, es ist zuallererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.“[65] In der Paradoxe Von der Überlegung wird die Opposition zu der allseits gelobten „Überlegung […], besonders der kaltblütigen und langwierigen“, zur Demonstration einer ihr weit überlegenen Kraft, nämlich der des „herrlichen Gefühls“: Denn „die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat.“ Während der Tat verwirrt sie nur, verzögert die Handlung und hemmt den Handelnden. Wer sich ihr überlässt, wird „unfehlbar den Kürzeren ziehen und unterliegen“.[66] Im Vertrauen auf die Kraft, die am Widerstand wächst, behauptet sich die der Seele des Menschen einwohnende Kraft. Kleists Apologie des inneren Gefühls sucht hier den Schulterschluss mit einer Theorie der Impulsivität, deren interventionistische Brauchbarkeit die vermeintlich strategische Überlegenheit der instrumentellen Vernunft mindestens pariert, wenn nicht gar widerlegt.

 

Bibliographie

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Bartl, Andrea (2005): Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800. Tübingen: Francke.

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Brittnacher, Hans Richard (2001): Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle. Köln u. a.: Böhlau.

Földényi, László F. (1999): Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. München: Matthes & Seitz (= Batterien 66).

Goethe, Johann Wolfgang von (1972): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. 10. Hamburg: Wegner.

Gruber, Bettina (2000): Die Seherin von Prevorst: Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur. Paderborn: Schöningh.

Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, 81975.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1955): Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin: Aufbau.

Herzfeld, Marie (1891): „Fin de siècle“. In: Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Reclam, 2000, 260-265.

Janz, Rolf-Peter (1981): „Die Marionette als Zeugin der Anklage. Zu Kleists Abhandlung ‚Über das Marionettentheater‘“. In: Walter Hinderer (Hg.): KleistsDramen. Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam, 31-51.

Kleist, Heinrich von (1987): Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (= Bibliothek deutscher Klassiker 26).

Kleist, Heinrich von (1990): Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 3. Hg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (= Bibliothek deutscher Klassiker 51).

Kleist, Heinrich von (1997): Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4. Hg. v. Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (= Bibliothek deutscher Klassiker 122).

Kommerell, Max (1965): „Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist“. In: Jost Schillemeit (Hg.): Deutsche Dramenvon Gryphius bis Brecht. Frankfurt a. M.: Fischer, 185-222.

Košenina, Alexander (2009a): „Traum“. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist Handbuch. Stuttgart: Metzler, 371-379.

Košenina, Alexander (2009b): „Wahn und Wahnsinn“. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist Handbuch. Stuttgart: Metzler, 373-375.

Schubert, Gotthilf Heinrich (1808): Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden: Arnoldische Buchhandlung.

Sembdner, Helmut, Hg. (1984a): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Frankfurt a. M.: Insel (= Dokumente zu Kleist 1).

Sembdner, Helmut, Hg. (1984b): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Frankfurt a. M.: Insel (= Dokumente zu Kleist 2).

Strauß, Botho (1972): „Traum“. In: Kleists Traum vom Prinzen Homburg. Programmheft Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin.

 

Fussnoten

1 Programmatisch dafür steht der Roman Trætte Mænd (Müde Seelen) des Norwegers Arne Garborg aus dem Jahre 1891. Vgl. dazu Herzfeld (1891); Brittnacher (2001).

2 Vgl. Begemann (1987).

3 Vgl. Habermas (1962).

4 Vgl. Kleist (1990), 515-530.

5 Vgl. Földényi (1999), 225.

6 Kleist (1997), 205.

7 Kleist (1997), 205.

8 Vgl z. B. Kleist (1990), 186 u. 27.

9 Kleist (1997), 196.

10 Kleist (1997), 224.

11 Vgl. Bartl (2005), 318 f.

12 Kleist (1997), 23.

13 Schubert (1808).

14 Detaillierte Nachweise bei Barkhoff (1995), 244. Zur Zeit der Abfassung des Käthchens informierte Kleist sich über tierischen Magnetismus, u. a. pflegte er Umgang mit Schubert. Noch vor Schubert war Kleist mit Reils Psychiatrie und wohl auch mit Gmelins Arbeiten Über thierischen Magnetismus (1787) und Neure Untersuchungen über den thierischen Magnetismus (1787) bekannt geworden. Vgl. dazu Košenina (2009b).

15 Goethe (1972), 175.

16 Vgl. Sembdner (1984a), 314.

17 Vgl. Gruber (2000).

18 Košenina (2009a), 371.

19 Kleist (1987), 557.

20 Kleist (1987), 559.

21 Kleist (1987), 560.

22 Kleist (1987), 563.

23 Kleist (1987), 560.

24 Kleist (1987), 563.

25 Kleist (1987), 563.

26 Kleist (1987), 623.

27 So lässt sich denn auch das Stück als Wunscherfüllung lesen, wie Botho Strauß vorgeschlagen hat. „Der Traum des armen Heinrich Kleist vom glücklichen Prinzen Homburg, der, zart und mächtig, […] seine großen Sehnsüchte und Wunschbilder gegen die herrschenden engen Lebensbedingungen durchsetzt und schließlich, wie im Wunder, ihre paradiesische Erfüllung erlebt. Und gleichzeitig verwandelt sich die kalte, schwache, weil nur mehr formal funktionierende Staatsordnung in eine lebenskräftige, menschenwürdige, politische Gemeinschaft, in der der Außenseiter […] zum ersten Helden aufsteigt.“ Strauß (1972).

28 Kommerell (1965), 190.

29 Hegel (1955), 546.

30 Kleist (1987), 644.

31 Kleist (1987), 329.

32 Kleist (1987), 329.

33 Kleist (1987), 404.

34 Zitiert nach Sembdner (1984b), 420.

35 Z. B. Kleist (1987), 406.

36 Kleist (1987), 430.

37 Kleist (1987), 324.

38 Kleist (1987), 275.

39 Kleist (1987), 405.

40 Kleist (1987), 405.

41 Kleist (1987), 406.

42 Kleist (1987), 407.

43 Barkhoff (1995), 240. Barkhoff resümiert hier eine konventionelle Lesart. Seine Ausführungen gehen indes erheblich weiter, wenn er zeigt, wie Kleist – bei aller Achtung vor der seelischen Kraft der somnambulen Erfahrung – doch auch, anders als die Gläubigen unter seinen Zeitgenossen, den Somnambulismus um seine Unschuld bringt. Vgl. dazu Barkhoff (1995), 256, zumal wenn man den in Kleists Penthesilea ins Bild gesetzten Umschlag des magnetischen Rapports in Sadomasochismus in Rechnung stellt.

44 Kleist (1990), 227.

45 Kleist (1990), 236.

46 Kleist (1990), 236.

47 Földényi (1999), 134.

48 Földényi (1999), 415.

49 Kleist (1997), 247.

50 Kleist (1990), 24.

51 Földényi (1999), 415.

52 Vgl. Kleist (1987), 565.

53 Kleist (1990), 248.

54 Kleist (1990), 248.

55 Kleist (1990), 258.

56 Kleist (1990), 205.

57 Kleist (1990), 212.

58 Kleist (1990), 563.

59 Kleist (1990), 558.

60 Vgl. Janz (1981).

61 Kleist (1990), 557.

62 Kleist (1990), 560.

63 Kleist (1990), 557.

64 Kleist (1990), 535.

65 Kleist (1990), 540.

66 Kleist (1990), 554.