Editorial
I’m so tired, I haven’t slept a wink
I’m so tired, my mind is on a blink
I wonder should I get up
And fix myself a drink
No, no, no… [1]
Eine der idyllischen Szenen der wohligen Müdigkeit ist die des Jünglings, der nach einem anstrengenden Weg durch den Wald in den wohl verdienten Schlaf gleitet und so lange schlummern darf, bis er von einer schönen Amazone wieder wach geküsst wird. Dies ist ein bekanntes literarisches Wunschbild. Es war grosso modo erfolgreich von der Antike bis zur Romantik und kündete von einer Müdigkeit, die nicht besser belohnt werden kann. Denn auf den Müden wartete am Ende seines Schlafes die Liebe. Diese Art der glücksverheißenden Müdigkeit entspricht nicht mehr neuzeitlichen Erfahrungen; oft bleibt die Sehnsucht nach dem erquickenden Schlaf unerfüllt; die grundlose süße Müdigkeit ohne schlechtes Gewissen ist zum Anachronismus oder zumindest zur Rarität geworden.
Gerade jetzt, im Frühling, fällt dieser Umstand ganz besonders auf, da man sich vor Ratschlägen kaum retten kann, wie die sogenannte Frühjahrsmüdigkeit mit allen möglichen Hausmitteln und sogar Medikamenten zu überlisten sei. Müdigkeit als Makel, als Fehlschaltung, als schlechte Koordination des Leistungshaushalts – das ist die Sicht der Leistungsoptimierer auf die Erscheinungen einer inzwischen lästig gewordenen Biologie des Menschen. Der gegenwärtig in der Arbeitswelt häufig anzutreffende Phänotyp des rastlosen Wenigschläfers kennt sich entsprechend aus und befragt sich sofort nach den eigentlichen möglichen Ursachen für seine Unpässlichkeit: Vitaminmangel? Stress? Allergie? Zu wenig Sport? Langweilige Partnerschaft? Ein zu langer Winter in diesem Jahr? Müdigkeit gilt als ein Zustand, den es mit allen Mitteln zu vermeiden, mindestens aber zu unterdrücken oder zu verstecken gilt. Man ist als müder Mensch eben nicht en forme und sucht deshalb nach Formen, dem müden Zustand zu entkommen, möglichst ohne den zeitraubenden Schlaf. Eine Antwort auf das ungeliebte Gefühl des Leistungsabfalls sucht der Müde deshalb nicht selten in einer Weise, deren sprachliche Fassung schon das Wiedererstarken, die power benennt: Ein kleiner Schlummer, engl. nap, tut es nicht; es muss vielmehr ein hochwirksames power napping sein, durch das man in wenigen Minuten das Gefühl vollkommener Regeneration wiedererlangt. Undenkbar und gewiss wenig wünschenswert wäre das power napping noch für den berühmten Schläfer Epimetheus, der, in Goethes Pandora, ausruft: „Besser blieb es immer Nacht!“[2] – Epimetheus sagt dies, weil er die schönen Welten seines Traums am liebsten nicht mehr verlassen möchte. Der nicht enden wollende Schlaf – ein äußerst ambivalentes Wunschbild. Dieser Schlaf führt nah an den ewigen Schlaf, den Tod, und macht deutlich, dass die Müdigkeit ein Vorstadium des endgültigen Endes in sich tragen kann. Die Bedeutung der Müdigkeit lässt sich offensichtlich nicht auf die moderne Furcht vor Leistungseinbußen beschränken.
Karel Fabritius’ Gemälde der schlafenden Torwache zeigt einen von Müdigkeit Überwältigten, der den Schlaf nicht fürchten muss (Abb. 1). Seine Aufgabe, die ständige Wachsamkeit, scheint er an das aufmerksamere Hündchen abgegeben zu haben. Vielleicht muss er in diesem Moment ja nichts befürchten, aber sich dessen sicher sein kann der wehrhafte, augenblicklich jedoch wehrlose Mann nicht. Die starke Atmosphäre dieses Gemäldes entsteht aus der Spannung zwischen der vorübergehenden Hilflosigkeit des Mannes, auf den die schutzbedürftigen Bürger zählen, der Ereignislosigkeit des Schlafs und der Unwägbarkeit des ungeschützten Augenblicks. – Den vielen Nuancen und Implikationen der Müdigkeit sind die Beiträge des Heftes gewidmet.
Es gibt zwei wesentliche und erfreuliche Neuerungen, die mit diesem Heft in Kraft treten: Die figurationen befinden sich nämlich unter einem neuen Dach: Die Schweizerische Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) unterstützt die Zeitschrift seit diesem Jahr regelmäßig und die Schweizerische Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik (SGKS) mit ihrer Präsidentin Margrit Tröhler ist unsere Träger-Gesellschaft geworden. Die Kooperation mit der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Zürich wird zugleich fortgesetzt. In Zeiten der immer schwieriger werdenden Finanzierung von Print-Zeitschriften sind wir über diese neue Konstellation sehr glücklich und bedanken uns nach allen Seiten aufs Herzlichste.
Für dieses Heft wird Anna Büsching, Zürich, Satz und Layout übernehmen. Die Redaktion begrüßt sie, die ja schon häufig an der Zeitschrift mitgearbeitet hat, freudig in der neuen Funktion. Dafür hat Pascale Osterwalder, die langjährige Layouterin und Cover-Designerin der figurationen, diesmal den künstlerischen Part mit einer Bildstrecke bespielt.
Marc Caduff und Georges Felten aus Zürich haben dieses Heft ediert und gestaltet. Da beide zugleich Redakteure der figurationen sind, bleibt mir statt des üblichen Dankes nur zu sagen, dass wir gemeinsam auf eine muntere und hellwache Leserschaft hoffen!
Zürich, im April 2013 Barbara Naumann
Fussnoten
1 John Lennon: „I’m so tired“. In: The Beatles/The White Album. Apple Records, 1968.
2 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt. Bd. 6. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. Peter Huber. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993, 664.