Editorial
Diese Körper, jene Zeichen
„[S]chön, wie ein junger Gott, ein wenig bleich im Gesicht“ tritt in Heinrich von Kleists Erzählung Die Marquise von O… (1808) der junge Graf ins Zimmer, um die Hand der Marquise zu erbitten. „Die Marquise wußte nicht, was sie von dieser Aufführung denken solle. Sie sah, über und über rot, ihre Mutter, und diese, mit Verlegenheit, den Sohn und den Vater an; während der Graf vor die Marquise trat, und indem er ihre Hand nahm, als ob er sie küssen wollte, wiederholte: ob sie ihn verstanden hätte?“ Bleich und rot, durch diese Körperzeichen diametral entgegengesetzt und verbunden, stehen sich die beiden Protagonisten gegenüber. Sie können nicht wissen – und ebenso wenig können es an dieser Stelle der Erzählung die Leser*innen –, ob sie sich eines Tages als Liebende und als Eltern finden werden, oder ob sie sich aufgrund des Übergriffs, des Sündenfalls, der ihrer Verbindung und der Schwangerschaft der Marquise zugrunde liegt, auf immer hasserfüllt entzweien würden.
In unvergleichlicher Weise hat Kleist das Vermögen des Körpers und das Bedürfnis der Psyche zu unwillkürlichen Zeichen und die daraus resultierenden Abgründe des Verstehens und Missverstehens zur Grundlage seiner Erzählungen und Dramen gemacht. Aus der Verschlingung, der möglichen Entsprechung oder aber Gegenläufigkeit von Sprach- und Körperzeichen, lässt Kleist literarisch produktive und zutiefst verunsichernde Handlungszusammenhänge entstehen. Er setzt den oft intuitiv vorausgesetzten Gegensatz von unwillkürlichem Körperzeichen und intentional geführter (dichterischer) Sprache in Szene und lässt dabei die Sprache auch das ‚wissen‘, was sie nicht explizit sagt und doch in ihrem Formenreichtum, ihrer Mehrdeutigkeit mitteilen kann. Kleist schreibt, als ob seine Texte beständig die unbeantwortbare Frage des Grafen, „ob sie ihn verstanden hätte?“, an seine Leser richteten, und er kalkuliert die Modulation der Sprach-Semantik als eine Möglichkeit, aus der nicht nur Bedeutungsreichtum und Differenzierungsvermögen, sondern Verunsicherung und Gefahr resultieren können.
Die bis heute anhaltende Konjunktur der Graphologie ist ein weiteres Beispiel für die höchst spekulative, doch wirkmächtige Hypothese, dass sich der Charakter körperlich, nämlich im Hand-Schriftzeichen darstelle. Edgar Allan Poe kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu: In seinem Aufsatz Autography (1841 f.) spielt er mit der Polysemie des Ausdrucks character als ‚Schriftzeichen‘ und ‚Persönlichkeitszug‘ und behauptet, die Psyche und Moral eines Autors, quasi als ein Physiognomiker, aus der Handschrift erschließen zu können: „I am more than half serious,“ insistiert er, „in all that I have ever said about manuscript, as affording indication of character.“ Kleist und Poe sollten hier, stellvertretend für viele andere Autor*innen, Erwähnung finden, da sie die häufig verhängnisvolle Dramatik der Bedeutungsgenese und der Rezeption von Körperzeichen in Szene zu setzen wussten.Â
Auch heute ist der Körperbezug eine Signatur der jeweiligen Gesellschaft, und dies im Hinblick auf künstlerische, kulturelle und gesellschaftliche Wahrnehmungsprozesse. Der Körperbezug gewinnt unter den Bedingungen der gender-spezifischen modernen Körper-Technologien, der Medizin und der digitalisierten Körper-Bild-Produktion und -zirkulation beständig an Brisanz.
Natürlich wären hier viele Dichter und Theoretiker zu nennen – und die Beiträge dieses Heftes widmen sich einem breiten Spektrum von bedeutsamen historischen und gegenwärtigen Positionen –, die den semiotisierten Körper zum Skandalon ihrer Texte erklären. Dem Zusammenhang von Körper und Schrift hat der Semiotiker und Schrift-Theoretiker Roland Barthes große Aufmerksamkeit gewidmet. Für ihn führt ein direkter Weg von der Bewegung der schreibenden Hand zur Entstehung der Literatur. Die schreibende Hand ist für ihn, wie die Literatur selbst, Medium des erotisch begehrenden Körpers. Dass die Psyche sich ebenso der Körperzeichen bedient wie der somatisierende Körper und beide enorme Anforderungen an die Lesekompetenz und die Leseverfahren der Mediziner, Psychologen usf. stellen, diese Erkenntnis hat seit Sigmund Freud an Tragweite stets zugenommen. In den Ausführungen des Kunsttheoretikers Georges Didi-Huberman – der ebenfalls einen theoretischen Grundpfeiler dieses Heftes bildet – zum symptomalen Text und symptomalen Kunstwerk haben die Thesen Freuds einen weiteren Körperbezug und eine weitere Differenzierung erfahren.
Heute wird der menschliche Körper in bisher ungekanntem Maße als formbares semiotisches Objekt aufgefasst. Durch Fitnesstraining und Ernährungsstrategien, durch Dermabrasion und plastische Chirurgie, künstliche Hautpigmentierung, Implantate und chirurgische Fettreduktion, Tattoos, durch Haartransplantation und Körperenthaarung und unendlich viele weitere Verfahren scheinen Körper hauptsächlich als Objekte der Wunsch-Formation und Deformation, als Arbeitsfeld der Selbststilisierung und -zurichtung zu funktionieren. Die Möglichkeiten digitaler Produktion und Zirkulation von Körperbildern vervielfachen die Wunschkörper und das Wissen um deren Bearbeitungstechniken bis ins Unendliche. Zudem beschleunigen Medizin und Sportindustrie wirksam die Durchkapitalisierung des Körpers und die Vermarktung seiner möglichen Modifikationen.
Der Körper gibt nicht nur Zeichen, er wird immer mehr als Zeichen in Anspruch genommen, und dieses Zeichen wird gesetzt, gemacht, verändert. Es findet ein beständiges, aus dem Begehren nach mehr Schönheit, mehr Souveränität, mehr Attraktivität, mehr Anerkennung quellendes Re-Writing der Körper statt. Dieses Begehren ist prinzipiell unstillbar. Vielleicht deshalb sind die Texte Kleists und Poes und so vieler anderer, die sich von unwillkürlichen Körperzeichen haben faszinieren lassen, auch heute noch aktuell. Mit der Modifikation und Zurichtung des Körpers nämlich ist den Krisen des Selbstverhältnisses nicht beizukommen.
Sophie Witt, Mitglied der Redaktion, hat dieses Heft kuratiert. Dafür danken wir anderen Redaktionsmitglieder ihr herzlich! Neu im Redaktionsteam begrüßen wir außerdem Anna Büsching und Gary Wetz.Â
Zürich, im Oktober 2018 Barbara Naumann
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Fussnoten
1 Heinrich von Kleist (1808): „Die Marquise von O…“. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hg. v. Helmut Sembdner. München: Hanser, 1985, 104-143, hier: 110.
2 Edgar Allan Poe (1984): Essays and Reviews. Hg. v. G. R. Thompson. New York: The Library of America, 1322.