Editorial

Barbara Naumann

Für ein Porträtfoto, so erklärte man meiner Mutter in deren Kindheit, für ein Porträtfoto wird der Fotograf unter ein dunkles Tuch hinter der Kamera verschwinden und die Porträtierte eine längere Zeit absolut still stehen und keine Miene verziehen. Für ein Porträtfoto, so erklärte mir derjenige, der mir in den 70er Jahren half, das Fotografieren zu lernen, für ein Porträtfoto wechsele man am besten auf ein leichtes Teleobjektiv, sagen wir: 75 mm. Man solle besser keinen Zoom, sondern ein fixes Objektiv verwenden; sofern es sich um ein seriöses Produkt handele, sei es „besser durchgerechnet“ als die Zooms mit ihren unscharfen Randzonen. Das Weitwinkel-Objektiv von 35 mm sei wirklich nur in jenem Fall zu benutzen, in dem es um Landschaft, Weite, Breite, nicht aber um spezifisch einzelne Objekte ginge. Zudem mache die große Tiefenschärfe des Objektivs seinen Gebrauch für jeden Anfänger leicht genug. Mit einem Tele-Porträtobjektiv war auch das wunderbare Schwarzweiß-Foto meiner Großmutter hergestellt, das in meinem Elterhaus und, in anderen Abzügen und Rahmen, auch in den Häusern der Verwandten zu sehen war. – Solche und ähnliche Episoden über technische Erwägungen, Komplikationen und Freuden des Fotografierens und – bei gesteigerter Ambition – über die Spannung und das Risiko beim Entwickeln und Abziehen der Bilder in der Dunkelkammer – solche Episoden können viele erzählen, die das Fotografieren noch in der Zeit vor der elektronischen Revolution kennengelernt haben. Es handelt sich dabei um ein Wissen, das heute mehr und mehr für Spezialisten und Künstler reserviert ist. In welcher Weise mit dem Wandel des Fotografierens auch ein Wandel des Gebrauchs und der Wertschätzung des Fotos einhergegangen ist, ob man also in einem bestimmten Sinne von einem „Ende“ der Fotografie sprechen könne, das ist eine der Fragen, die im vorliegenden Heft untersucht werden.

„Ende“ heißt auch Ziel, Zweck. Sollte man überhaupt noch von ‚Foto‘ sprechen, wenn das stille Bild nicht mehr das Ergebnis einer spezifischen fotografischen Aktivität ist, sondern gewissermaßen nur eine aus dem medialen elektronischen Datenfluß herausgegriffene ‚Situation‘ bedeutet, dies ist eine weitere Frage dieses Heftes, die nicht nur aus kulturtheoretischer und historischer Perspektive interessiert. Seit die Elektronik die Bildinformation anderen Rechenoperationen gleichgestellt hat, gibt es zunehmend multifunktionale Elektronikgeräte: Telefone, die auch fotografieren können, Rechner, die auch Fotospeicher, DVD-Player und Fernsehgeräte sind, MP3-Player, die sich auch als Bildspeicher gerieren, Fotokameras, die auch Filme aufzeichnen etc. etc. Seitdem die Möglichkeit, immer und überall Bilder herzustellen und hergestellte Bilder zu sehen – ganz gleich ob bewegte oder fixierte, farbige oder schwarzweiße –, in den Alltag Einzug gehalten hat, ist das Foto nicht mehr Zeugnis einer speziellen fotografischen Situation, weder in technischer noch in temporaler noch in kultureller Hinsicht. Es ist auch nicht mehr Zeugnis einer geschlechtsspezifischen Neigung zur oder Abneigung gegen Technik. Das Foto ist immer und überall und für jeden da. Und dennoch überlebt das Foto als ein der Vergangenheit gewidmetes Medium: Nach wie vor werden Fotos, vielleicht als Farbausdrucke, in Rahmen gestellt, in Brieftaschen – die ebenfalls ein Anachronismus sind – gesteckt, als Erinnerungsbilder herumgetragen, als solche auch auf dem Handy betrachtet und von dort versandt. Und immer noch hat das Pressefoto die Aura der Authentizität, auch der politischen, und ist deshalb möglicher Gegenstand von Zensur. Fotografien scheinen polytemporale, polymediale Dinge geworden zu sein, die man so behandeln kann wie einst, weil sie immer noch in eine Präsentationsform gebracht werden können, die der früheren Gebrauchsweise ähnelt. Insofern trägt die Fotografie, wie jedes Medium, ihr Ende von Anfang an in sich – und hat es doch nicht erreicht. Auch wenn kein Farb- und Pixelfoto, so will mir scheinen, je wieder so ausdrucksvoll und schön sein kann wie die schwarzweiße Porträtstudie meiner Großmutter, die mit einer Leica aufgenommen wurde. Vor dem Ende des Mediums und auf dessen Ende hin spielt sich die kulturelle Transformation ab, die lange Geschichte der Verwandlung und der Assoziation, und deren Ende ist nicht abzusehen. Wir danken Ulrich Baer herzlich für die Edition dieses Heftes.

Mit diesem Heft verabschiedet sich Stefan Schreck, der Designer von Cover, Homepage und vielen Layoutideen. Seinen wunderbaren Einfällen verdankten die figurationen bisher ihr optisches Profil. Vielleicht kann die Leserschaft sein Foto irgendwo im Heft entdecken? Die Bildüberschrift dazu muß jedenfalls heißen: Ein riesengroßes und herzliches Dankeschön.



Zürich, im November 2006