Editorial
Noch zum Ende des 18. Jahrhunderts beinhaltete der Begriff ‚Arabeske‘ ein großes Glücks- und Freiheitsversprechen. Es war Friedrich Schlegel, der an die Arabeske die Vorstellung endloser Kombinatorik und unendlicher Fülle knüpfte. Er löste die Arabeske aus der Vorstellung des Ornamentalen und formte sie zu einem Begriff um, der das Ganze der künstlerischen Lebendigkeit und Inventionslust, den „Witz“, umfaßte. So konnte er die Arabeske zur Chiffre einer ästhetischen Befreiungsstrategie erklären. Die Kunst, die Literatur sollten sich nach dem Modell der Arabeske in alle Richtungen bewegen, historische und ästhetische Hauptlinien aufgreifen und sich in schöner Freiheit selbständig weiterentwickeln. Intendiert war nichts weniger als die Lösung von klassizistischen Poetiken und Gattungsregeln, die Wendung zur polyphonen Fabulierkunst des Romans. „Chaos = Arabeske“, lautete eines der enthusiastischen Schlegelschen Schlagworte, das fortfährt: „Romantische Poesie = Chaos“. Die Reichweite des Begriffs ‚Arabeske‘ für die romantische Dichtungstheorie kann man vielleicht ermessen, wenn man sich vor Augen führt, daß in Schlegels ästhetisch-poetische Lust an der Befreiung auch die Weiblichkeit, aber auch – und im gleichen Atemzug – das ganze Christentum einbezogen war. Das Weibliche als „Naturarabeske“ hielt sich seiner Vorstellung nach immer in der Nähe des dichterisch-kreativen Chaos auf. Und das Christentum wurde in die Reihe der produktiv-chaotisch-arabesken Denk- und Darstellungsformen gerückt: es sei „ursprünglich arabesk“. „Gott zu konstruieren“, hieß es auch, „ist vielleicht nur arabesk und ganz modern.“
Dem Schlegelschen begriffs-chaotischen Enthusiasmus steht man heute fern. Feministinnen müßten die Naturarabeske eher als Schimpfwort auffassen, und christlich-theologische Argumente würden nicht gerade die Arabeske zu ihrem Ausgangspunkt wählen. Überhaupt verbindet sich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen und religiösen Szenarien mit der Vorstellung des Arabischen und der Arabeske spontan eher nicht das lustvolle Fabulieren, das ästhetische oder lebensweltliche Experiment oder gar die Vorstellung einer Befreiung von Politik- oder Geschlechterzwängen. In bezug auf die Rolle der Weiblichkeit herrscht in den westlichen Gesellschaften der Eindruck vor, daß die ‚Arabeske‘ ausschließlich eine Welt hinter dem Schleier beschreibe, daß arabisch-islamische Kulturen eher Horte der Restriktion als solche des schöpferischen Chaos irgendwelcher Couleur seien. Das vorliegende figurationen-Heft ermöglicht mehr als nur Blicke hinter den Schleier. Literatur, Musik, Kultur- und Genderdebatten in verschiedenen arabischen Ländern und in verschiedenen historischen Konstellationen werden untersucht, und dabei ist eine Fülle von Entdeckungen zu machen: Kulturelle Verbindungen von Orient und Okzident werden sichtbar, die die Vorstellung einer grundsätzlichen und womöglich nur religiös bedingten Scheidung beider Kulturräume als ethnozentrisches Phantasma sichtbar machen. Überdies zeigen die vielfältigen Artikulationsformen Gender-bewußter Autorinnen (und Autoren) aus arabischen Ländern – historischen wie gegenwärtigen –,
in welch grundsätzlicher Weise Weiblichkeit als Movens der Artikulation, Narration (Literatur) und generell der ästhetischen Ausdrucksformen fungiert. An der Arabeske wird deutlich, daß kulturelle und ästhetische Deutungsmuster der Integration Gender-spezifischer Aspekte bedürfen. Insofern ist dieses Heft auch ein Plädoyer für differenzierte und komplexe Betrachtungsweisen, die die weiblichen Sprachen der Künste nicht nur als Sprachen der Politik oder Sprachen der Unterdrückung verstehen lassen. Es geht zugleich um die Darstellung ganz eigenständig weiblicher Handlungsmöglichkeiten im arabischen und nicht nur arabischen Raum. All dies ist „ursprünglich arabesk“, wie Friedrich Schlegel vielleicht auch dieses Heft bezeichnet hätte...
Unser besonderer Dank geht an Angelika Neuwirth und Barbara Winckler für die sorgsame und inspirierte Edition dieses Heftes, mit dem die figurationen thematisch Neuland betreten.
Zürich, im Juni 2005 Â