Editorial

Barbara Naumann

Dieses Heft ist dem Spiel gewidmet. Lassen Sie uns also spielen. Was wollen wir spielen? Wenn ich einen Vorschlag machen darf: Es könnte das Spiel „Editorial“ sein! Wie das geht? Sie müssen ungefähr die Regeln kennen. Dazu gehört beispielsweise – Regel eins: Sie sind mit dem Inhalt des Heftes vertraut. Regel zwei besagt nämlich, daß Sie sich Gedanken darüber machen müssen, was Ihre Leserinnen und Leser möglicherweise zu entdecken hoffen, wenn sie das Heft mit dem Titel „Spiel / Play“ aufschlagen. Und natürlich, in welchem Ton, mit welcher Art der Information diese angesprochen werden möchten oder sollten. Nicht ganz einfach, finden Sie? Nun, den Inhalt des Heftes könnten Sie vielleicht gleich einmal lesen. Ich kenne ihn schon. So hätten wir faire Ausgangsbedingungen für das Spiel. Wenn Sie so weit sind, kommen Sie zurück zum Ausgangspunkt. Ich warte so lange auf Sie.

Fertig? Beginnen wir also – Sie sind zuerst dran. Sie schlagen vor, mit einem Gedanken zu beginnen, der Ihnen für das Spiel am wichtigsten scheint und der demzufolge alle anderen Aspekte dominieren müßte. Ihr Gedanke lautet: Wer spielt, meint es ernst. Selbst dort, wo ein Spiel in völliger Unverbindlichkeit, in Freiheit und Unabhängigkeit stattfindet, kann es nur gelingen, wenn es nach bestimmten Regeln verläuft und auch das Mißlingen ins Kalkül einbezogen wird. Das Mißlingen hat nicht selten existentielle Konsequenzen, wie man beispielsweise am traurigen Ende von Dostojewskis berühmtem Spieler sehen kann. Damit Spiel Spiel sein kann, muß es ernst oder wenigstens ernst gemeint sein. Darin liegt zudem das fanatisierende Potential jeden Spiels – den Hinweis auf die Fußball-Europameisterschaft, die mit Erscheinen dieses Heftes beginnt, finden Sie an dieser Stelle fast überflüssig. – Für Ihr erstes Argument dürfen Sie auf dem Feld weit nach vorne rücken – für die etwas über-deutliche Fußballerwähnung müssen Sie leider zwei Felder zurück.

Dem halte ich in meinem ersten Spielzug entgegen, daß Sie mit der Insistenz auf Existentialität, Ernst und Tod gar nicht erst auf das Spielerische des Spiels geblickt haben – von dem doch die meisten Beiträge dieses Heftes handeln. Für das Spiel ist ein konsequenzloser Freiraum unerläßlich, denn im Spiel sollen sich Kreativität zeigen und Experimente vollziehen können. Erst im Spiel oder im spielerischen Umgang mit Dingen und Sprache läßt sich das unendliche Potential der Künste erfahren. Kunstwerke, auch sprachliche, Musik und Architektur wären ohne die Spiellust derer, die diese Künste betreiben, wohl gar nicht existent. Um kreativ spielen, finden und erfinden zu können, ist ein sanktionsfreier Raum unerläßlich. Man kann und sollte Roulette auch ohne die russische Variante spielen!

Für dieses Argument darf ich so weit vorausgehen, daß ich Sie auf dem Spielbrett sogar überhole. Unser Spiel honoriert die Erwähnung der Spielregeln! (Ich habe nämlich eine Spielkonzeption erwähnt, die für die meisten Aufsätze dieses Bandes grundlegend ist, aber auch für unser gemeinsames „Editorial“-Spiel, befassen sie sich doch mit dem Verhältnis des Spiels zu den und der Rolle des Spielens in den Künsten, im Denken, und mit ganz konkreten Spielen selbst). Für die überflüssige Erwähnung des russischen Roulettes werden mir aber drei Felder abgezogen. Sie sind mir wieder ein Feld voraus und führen. Wir beide müssen allerdings zu meiner und Ihrer Überraschung noch zwei weitere Felder zurück, da wir eine andere Dimension des Spiels zu erwähnen vergessen haben: den anthropologischen Aspekt. Hier ist die besondere Welterfahrungsweise gemeint, die sich im kindlichen Spielen zeigt und für pädagogische, philosophische und kulturtheoretische Konzepte des Menschen relevant wird. In der Pädagogik Jean Piagets hat sie ihren Niederschlag gefunden, aber auch in der Vorstellung des Menschen als „Homo ludens“ – so jedenfalls lautet ein Buchtitel des Kulturtheoretikers und -historikers Johan Huizinga aus dem Jahr 1938.

Trotz des Feldabzugs ist Ihr Spielstand der bessere, verehrte Leserin, verehrter Leser.

Haben Sie bemerkt, wie leicht es im Spiel fällt, ein ganzes Editorial zu schreiben? Eben.

Ich gratuliere: Sie haben gewonnen!

Wir möchten darauf hinweisen, dass diesmal mit Caroline Torra-Mattenklott ein Redaktionsmitglied als Gasteditorin fungiert; ihr sei hierfür herzlich gedankt.

Unser Dank geht außerdem an die Zürcher Hochschulstiftung und an den Zürcher Hochschulverein für die finanzielle Unterstützung der beiden figurationen-Bände dieses Jahrgangs 2004.

Zürich, im Juni 2004

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