Zwielicht: Zur musikalischen Struktur einer romantischen Stimmung

Ulrich Tadday

 

 

Das Gedicht Zwielicht entsteht 1811 oder 1812 und erscheint 1815 zuerst ohne Titel im Roman Ahnung und Gegenwart des Joseph Freiherr von Eichendorff.[1] Mit Titel wird es erst 22 Jahre später publiziert, als eines der Wanderlieder, die 1837 in den Gedichten Eichendorffs versammelt und veröffentlicht werden.[2] Aus dieser Ausgabe, nicht aus dem Roman, schreibt Clara Schumann das Zwielicht 1839 ab. Es ist eines von 15 Eichendorff-Gedichten, die sie in das sogenannte Abschriftenbuch übernimmt, eine Sammlung von insgesamt 169 Abschriften von Gedichten zur Composition, die Clara und Robert Schumann 1839 anlegen und bis in das Jahr 1852 fortführen.[3]

Das Gedicht Zwielicht

Bevor auf die Vertonung des Textes Robert Schumanns eingegangen werden kann, soll das Gedicht Eichendorffs in der Abschrift Clara Schumanns – an dieser Stelle zum ersten Mal im Autograph
abgedruckt – wiedergegeben werden (Abb.
 1):[4]

Zwielicht.

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,

Wolken ziehn wie schwere Träume –
Was will dieses Grau’n bedeuten?

Hast ein Reh du, lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald’ und blasen,
Stimmen hin und wieder wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,

Freundlich wohl mit Aug’ und Munde,
Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib’ wach und munter!
 [5]

Da Schumanns Vertonung die Abschrift Claras aus Eichendorffs Gedichten von 1837 zugrunde liegt, braucht bei der musikästhetischen Interpretation der Kontext des Romans, in dem das Gedicht zuerst erschien, nur am Rande berücksichtigt zu werden, zumal davon auszugehen ist, dass Schumann zwar die Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts [6], den Roman Ahnung und Gegenwart aber höchstwahrscheinlich nicht gelesen hat.

Eine für das Gedicht Zwielicht immer noch maßgebliche Interpretation legte Oskar Seidlin in seinen Versuchen über Eichendorff vor, die dem Doppelgänger-Motiv verpflichtet ist:[7]

Immer wieder hat Eichendorff diese Selbstverfremdung des eigenen Ich beschrieben, das Abgleiten in die Diskontinuität bis zu dem Punkte, wo jedes in sich Geeinte in eine Zweiheit zerfällt und die Identität mit sich selbst verliert – am schönsten in einem seiner bekanntesten Gedichte, dem er sicher nicht von ungefähr den Titel „Zwielicht“ gegeben hat.[8]

Der Begriff der Zweiheit, den Seidlin für seine Interpretation des Zwielichts stark macht, soll im Rahmen dieser Interpretation, die nach dem Stimmungs-Gehalt und der Stimmungs-Struktur des Gedichtes in der Vertonung von Robert Schumann fragt, wieder stärker an den Begriff der Einheit zurückgebunden werden. Dies nicht nur weil Zweiheit Einheit als Negativfolie voraussetzt, sondern weil die sich entzweiende Einheit – bei Eichendorff wie bei Schumann – zwar zu zerbrechen droht, jedoch nicht zerstört wird – weder psychologisch, noch philosophisch und auch nicht ästhetisch, sei es literarisch oder musikalisch. Zugespitzt formuliert, erscheint die Stimmung im Zwielicht also nicht eindeutig zweideutig, sondern zweideutig eindeutig, falls man dies so sagen kann. Gemeint ist, dass sich die vorreflexive Stimmung zu Anfang des Gedichtes am Ende reflexiv verdichtet. Wie die Frage zu Beginn: „Was will dieses Grau’n bedeuten?“ nach einer reflexiven Beantwortung verlangt, so richtet sich der poetische Appell am Schluss: „Hüte dich, bleib’ wach und munter!“ an das Bewusstsein des Tages und gegen das Unbewusste des Schlafes, des Traumes und gegen den Nihilismus der Nacht. Der poetische Appell ist eine eindeutige Warnung vor der Zweideutigkeit, die der Dichter hier ausspricht, vor einer Entzweiung des Ich und dem damit einhergehenden Verlust der Identität, die sich gegen die Bedrohung ihrer Existenz behauptet, immer wieder behaupten muss, weil sie diese nicht bewältigen kann. Der poetische Appell ist also auch eine Anerkennung der Zweideutigkeit als Teil der Existenz, die sich im Zwielicht, zwischen Tag und Nacht, dialektisch aufgehoben findet. Im Zwielicht und nur im Zwielicht – darin liegt das Schwebende der romantischen Stimmung – wird der Mensch der Ungewissheit seiner Existenz selbst gewiss.

Die dialektische Spannung zwischen Zweiheit und Einheit macht sich im Gedicht auf unterschiedlichen Ebenen bemerkbar. Formal betrachtet scheint die Einheit des Gedichtes durch die Regelmäßigkeit des Versfußes und des Blockreims garantiert. Auch die Strophenform, die vor allem durch die Korrespondenz der beiden Binnenstrophen begründet wird, ist symmetrisch. Beides kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gedicht kein in sich geschlossenes Ganzes ist: 

Wenn das Lied vom Zwielicht diskontinuierlich ist, dann nicht im Sinne einer additiven Aneinanderreihung von Situationsbildern und Stadien, sondern im Sinne einer wirklichen Entzweiung und Aufspaltung. Nicht nur, daß das Thema des Gedichts, das grauenhafte Fremd- und Bedrohlichwerden der Welt, sich in zwei Stränge zerlegt, in die dämmrige Abendstimmung hier und die Gefährdung menschlicher Beziehung dort; wichtiger ist, daß in der Komposition selbst eine Doppelgleisigkeit zutage tritt.[9]

Gleichwohl kommt es, mag man mit und gegen Seidlin einwenden, nicht zur offenen Fraktur zwischen der ersten und zweiten Strophe. Jedoch durchzieht das Gedicht ein feiner Riss, dessen wir im Wort „Grau’n“ gewahr werden. Im Augenblick des „Grau’n“, als Moment der Gewahrwerdung begriffen, wird die „Natur […] zum Echo, zum Medium, zum Instrument der Expression des menschlichen Gefühls. Das Subjekt sucht in der Natur ein Anderes, um sich selbst zu finden“[10] – oder um sich selbst nicht zu verlieren. So gesehen, könnte die vermutete Keimzelle des Gedichtes tatsächlich Achim von Arnims Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) entstammen, in dem geschrieben steht: „es war die Zeit des Zwielichtes, wo die Undeutlichkeit des Sehens sich leicht auch der innern Empfindung mitteilen kann.“[11] Es ist wohlgemerkt die „Undeutlichkeit des Sehens“, nicht die Undeutlichkeit der Natur als solche, die sich der „innern Empfindung“ mitteilt. Die eigentliche Stimmung des Zwielichts ist also keine bloß dinghafte, keine unheimliche, schaurige, grauenvolle Stimmung, die von sich aus durch die äußere Natur auf den Menschen wirkt, sondern eine, die erst in der inneren Natur des Menschen entsteht und dann auf sie zurückwirkt. Im Zwielicht erlebt der Mensch sich in einem wechselseitigen Verhältnis zur Welt, die eine romantische Welt ist, aus der er nicht heraustreten, fliehen kann, in der er gefangen bleibt und immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird und so einsam zurückbleibt wie der Jäger Friedrich im 17. Kapitel von Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart: 

Der Abend rückte heran, in den Thälern wurde es schon dunkel. Die Jagd schien geendigt, nur einzelne kühne Schützen sah man noch hin und wieder an den Klippen hängen, von den letzten Widerscheinen der Abendsonne scharf beleuchtet. Friedrich stand eben in höchster Einsamkeit an seine Flinte gelehnt, als er in einiger Entfernung im Walde singen hörte: Dämm’rung will die Flügel spreiten, […]. [12]

Die Einsamkeit der romantischen Seins- und Welterfahrung ist insofern widersprüchlich, als sie ästhetisch kommuniziert wird, um überwunden zu werden, wobei das Scheitern dieses Überwindungsversuchs wiederum Teil der ästhetischen Kommunikation selbst ist. Das Gedicht Zwielicht befindet sich also in einem zweifachen Widerspruch, in einem ästhetischen und einem epistemischen. Letzterer besteht in der Erkenntnis der Nicht-Erkennbarkeit eines letzten Grundes allen Seins, ersterer in der romantischen Subjektivität dieser Erkenntnis, die ihre epistemischen Schranken ästhetisch zu überwinden versucht und dabei scheitert, „so daß Dialektik der Romantik heißen kann: Jeder Versuch, die herrschaftlich strukturierte Subjektivität durch den Sprung ins ,ganz Andere‘ zu überwinden, führt statt zur ersehnten Rückkehr zur Substantialität zu nichts anderem als zur Diktatur einer hypertrophen Subjektivität.“[13] Diese Subjektivität, genauer gesagt: die Gefahr, die von ihr ausgeht, macht Eichendorff zum kritischen Gegenstand seines Gedichtes, in dem einerseits eine romantische Stimmung herrscht, die sich „einer eindeutigen Kategorisierung als subjektiv bzw. objektiv entzieht“.[14] Andererseits wird das Schwebende dieser Stimmung von Eichendorff gleichsam reflexiv geerdet. Die „hypertrophe Subjektivität“ wird von ihm, und darin unterscheidet er sich von Frühromantikern wie Friedrich Schlegel, eindeutig als Gefahr erkannt und so explizit angesprochen wie der implizite Leser des Gedichtes auch.

Das Lied Zwielicht

Nicht von ungefähr also bekennt Robert Schumann im Brief vom 22. Mai 1840 gegenüber Clara: „Der Eichendorff’sche Cyklus ist wohl mein aller Romantischstes und es steht viel von Dir darin, Du meine liebe theure Braut.“[15] Als Schumann diese Zeilen an Clara richtet, steht er noch ganz unter dem Eindruck seiner Eichendorff-Erfahrung im Allgemeinen wie der Vertonung des Gedichtes Zwielicht im Besonderen, die er am 19. Mai 1840 begonnen hatte (s. Autograph, Abb. 2). Eine beeindruckende Interpretation des Schumann-Liedes hat Reinhold Brinkmann unter dem Titel Das ungenaue Unisono veröffentlicht.[16] Den Sechs Kommentaren zu Schumanns „Zwielicht“ von Brinkmann soll an dieser Stelle quasi ein siebter angeschlossen werden. Dieser stellt sich der Frage, wie Schumann die Dialektik von Einheit und Zweiheit in Töne und ins Werk setzt, oder mit anderen Worten: wie Schumann das epistemische Problem des Zwielichts ästhetisch kommuniziert. 

So wie der Leser des Gedichtes der romantischen Stimmung des „Grau’ns“ in einem Wort gewahr wird, so erfährt auch der Hörer des Schumann-Liedes die Zweideutigkeit der Stimmung von Anfang an, und zwar in einer sehr eindeutigen Weise (vgl. Abb. 3): Schumann notiert das Lied unter dem Vorzeichen der Tonart e-Moll. Diese Grundtonart wird in den ersten sieben Takten des Liedes aber nicht sicher bestätigt. Zwar beginnt das Lied mit den Tönen g’-e’, also abfallend mit der kleinen Terz der Grundtonart in Quintlage, jedoch wird dieser erste Anklang nicht wahrgenommen, weil die Töne g’-e’ Teil eines zuerst abwärts- und dann aufwärtsgebrochenen Akkordes sind, der sich wiederum seiner eindeutigen Bestimmung entzieht. Die Töne dieses Akkordes cis’-e’-g’, die abwärts über den Durchgangston d’ erreicht werden, können entweder als verkürzter A-Dur-Septakkord mit Auflösung nach D-Dur oder als verkürzter kleiner Fis-Dur-Nonenakkord bzw. als verminderter Septakkord mit Auflösung nach h-Moll gelesen werden. Legt man die erste Lesart zugrunde, wird mit dem Durchgang der parallelen Sexten in Takt 2 (d’-fis’, e’-cis’, h’-d’, c’-a’ | h-gis’) die Tonart E-Dur auf der ersten Zählzeit in Takt 3 erreicht, die wiederum in verschleierter Gestalt eines primlosen kleinen Nonenakkordes in Erscheinung tritt. Geht man von der zweiten Lesart aus, gelangt man über die enharmonische Verwechslung der Note gis’ zu as’ zum verminderten Septakkord auf h. Beide Lesarten ergeben insofern einen Sinn, als sie nicht nur beide in Takt 4 nach a-Moll, zur Subdominante von e-Moll führen, sondern darüber hinaus auch noch beide durch den Komponisten bestätigt, quasi autorisiert werden. Vergleicht man nämlich die entsprechende Harmonisation der Stelle in Takt 35, so wird offenbar, dass Schumann selbst die Lesart von der einen zur anderen Hälfte des Taktes wechselt. Dass sich das Ohr im Gegensatz zum Auge mehr für den verminderten Septakkord und weniger für den verkürzten, d. h. primlosen kleinen Nonenakkord entscheidet, hat gleich mehrere Gründe. Der erste Grund liegt im Intervallverhältnis des verminderten Septakkordes an sich, der aus drei vollkommenen kleinen Terzen zusammengesetzt ist, so dass das Gehör seine Umkehrungen nicht erkennen kann. Da es darüber hinaus mehrere Möglichkeiten gibt, den verminderten Septakkord samt seiner enharmonischen Umdeutungen aufzulösen, erscheint er in Schumanns Zwielicht als Symbol für Mehrdeutigkeit schlechthin. Vor der funktionsharmonischen Folie einer zunächst plagalen Kadenz, die von der Dominante h-Moll über die Subdominante a-Moll zur Tonika e-Moll führt und dann über F-Dur zu einer neapolitanischen erweitert und abgeschlossen wird, vernimmt man die Auflösung eines verminderten Septakkordes insgesamt drei Mal harmonisch versetzt als Sequenz. Der zweite Grund liegt in der Verdeutlichung, die Schumann bei der letzten Wiederholung vornimmt, indem er die harmonisch unbestimmte Klavierbegleitung der Singstimme vollstimmig setzt und am Ende die Ambiguität des Anfangs scheinbar aufhebt. Der ,nachschaffende Hörer‘[17] wird die vorreflexive Stimmung des Anfangs, die sein Gefühl gefangengenommen hat, am Ende reflektieren und verstehen, dass er sich vor dem „Grau’n“, das er empfindet, „hüten“ muss, auch wenn er oder gerade weil er nicht wirklich wissen kann, was es genau bedeutet. 

Wie im Großen so im Kleinen, könnte man meinen, vollzieht sich die harmonische Verdichtung der Stimmung, die von der Zweiheit zur Einheit führt, bereits in den ersten acht Takten. Die Eindeutigkeit, mit der die Kadenz auf der ersten Zählzeit von Takt 8 zu schließen scheint, ist jedoch relativ, denn der oktavierte Grundton E-e im Bass klingt unmittelbar in die Zwei- bzw. Mehrdeutigkeit der Takte 9 und 10 über: Erstens begründet der oktavierte Basston E-e die Tonika e-Moll, zweitens die Mollsubdominante in Bezug auf die angenommene Tonika h-Moll, drittens die Quinte des verkürzten Dominantseptakkordes A-Dur zur angenommenen Tonika D-Dur, viertens die Septime des kleinen Fis-Dur Nonenakkordes und fünftens eine Terz im verminderten Septakkord mit Auflösung nach h-Moll. Dieses und weitere, beinahe beliebig wählbare Beispiele der von Dieter de la Motte so genannten „Klangunterterzung“ [18] legen sehr eindrucksvoll Zeugnis vom „verstörten harmonischen Fundament“ [19] eines Liedes ab, das am Ende nicht etwa in Dur ausklingt, sondern mit einer authentischen Kadenz in Moll schließt: Drei kurz geschlagene Akkorden heben einerseits die im rezitativischen Ton vorgetragene letzte Zeile des Gedichtes: „Hüte dich, bleib’ wach und munter!“ wie ein musikalisches Ausrufezeichen hervor, weshalb Robert Schumann wahrscheinlich die letzte Zeile des Gedichtes in der Abschrift Claras unterstrichen hat. Andererseits können und sollen sie das Fortsingen des Liedes in der Fantasie des Hörers nicht verhindern. Denn Schumann komponiert bewusst ein widersprüchliches Ende, quasi ein Ende ohne Ende, das nicht verhallen, sondern nachhallen soll wie Eichendorffs poetischer Appell.

Die romantische Stimmung im emphatischen Sinn – im Gedicht als dialektische Spannung von Zweiheit und Einheit aufgehoben – ist in Schumanns Lied ästhetisch allgegenwärtig. Sie ist die kompositorische Keimzelle, der ästhetische Grundgedanke schlechthin und deshalb nicht nur in der Harmonik, sondern in jeder Faser der Faktur nachweisbar. Dass es in Schumanns Zwielicht keine Ereignisse, sondern nur eine Struktur gibt, findet seinen äußeren Grund in der Strophenform des Gedichtes, die Schumann variiert, seinen inneren in der achttaktigen Binnenstruktur des musikalischen Gedankens, von dem jede Strophe getragen wird. Diese achttaktige (Binnen-)Struktur setzt sich zusammen aus dreimal zwei Takten und einer ein- bis zweitaktigen Kadenz mit einer Überleitung. Die zweitaktige Struktur, die dreimal wiederholt wird, besteht – wie bereits beschrieben – aus einem zuerst ab- und dann aufwärtsgebrochenen Akkord (Takte 1, 3 und 5) und aus einem in Sexten abwärts geführten Gang (Takte 2 und 4), der die Oktave in den Takten 6 und 7 zunächst chromatisch, dann diatonisch weiter abwärts bis zum Grundton hin durchschreitet. In den Takten 2 bis 4 handelt es sich, vereinfacht gesehen, um parallele Sexten, komplementär betrachtet sogar um Terzparallelen. In Wirklichkeit aber handelt es sich um ,verrückte‘ Sexten[20], deren Ober- und Unterstimme gegeneinander zu Septimen verschoben werden, so dass die dialektische Spannung von Einheit und Zweiheit als Spannung von Konsonanz und Dissonanz durch die ästhetisch-musikalische Erfahrung unmittelbar begriffen wird. Die so gespreizte Stimmung, die in der dritten Strophe mit den Takten 27 und folgenden durch den in Gegenbewegung hinzutretenden Bass ihren Höhepunkt erreicht, hat Reinhold Brinkmann im Anschluss an Theodor W. Adorno unter dem Begriff des ,ungenauen Unisono‘ scharfsinnig analysiert: 

Singstimme und obere Klavierstimme sind identisch und nicht identisch zugleich. Sie laufen parallel im Einklang (beziehungsweise in Oktaven, je nach Stimmlage der Interpretation) und sind doch durch minimale Differenzen, die sich in Reibungen und – an einigen Stellen – in betonten Dissonanzen artikulieren, unterschieden. Entscheidend ist aber, daß diese Differenzen nie so weit gehen, daß von zwei selbständigen Stimmen die Rede sein könnte; sondern: es bleibt satztechnisch eine Stimme, deren Verdopplung Interferenzen zeigt.[21]

Wesentlich ist, dass das ,ungenaue Unisono‘ kein akzidentelles, sondern ein substantielles Moment der Komposition im Kern ist, der sich aus den ersten beiden Takten des Liedes herausschält. Diese enthalten nämlich nicht nur die Klavierstimme, sondern auch die Singstimme – wenn man so will, wird die Melodie aus der Begleitung heraus geboren. Diese tritt im ersten Takt durch den semantisch signifikant gespreizten Tritonus-Sprung g’-cis’ hinaus ins Leben, das von Geburt an sich selbst entfremdet ist, denn bereits zu Beginn der ersten Strophe in Takt 8, wenn das Lied zur Sprache findet, fallen die Töne g’ und cis’ nicht mehr so zusammen, als wären sie eins und identisch.

Über den biographischen Bezug des Liedes zum Leben von Clara und Robert Schumann ist immer schon viel, manchmal zu viel und gerne geschrieben worden. Dass Friedrich Wieck die eheliche Verbindung seiner Tochter Clara mit Robert Schumann mit allen Mitteln seiner Macht zu verhindern versuchte, ist bekannt. Am 19. Mai 1840 – dem Datum, das links oben auf dem Autograph des Liedes steht – schreibt Schumann an seine Braut Clara, die sich zu der Zeit bei der Mutter, Marianne Bargiel, in Berlin aufhält:

Ich fühle mich wohl, doch auch sehr angegriffen, und mich macht meine eigene Musik jetzt so krank und schmerzlich vor Glück. Komme nur bald, daß wir wieder zusammen wandern können; ich komme wenig aus; das Alleingehen ohne dich [geht] macht mich ganz traurig. Aber fliegen kann ich schon zuweilen und bin oft in weiter Zukunft. Könnt’ ich Dir Alles recht ordentlich sagen, wie mir’s zu Muthe ist.[22]

Es spielt keine Rolle, ob die viel zitierten Tonbuchstaben E-H-E, die im Zwielicht Takt 16 bis 19 in der Bassstimme mit anschließendem Quartsprung aufwärts erklingen und das ganze Lied authentisch mit drei Akkorden beschließen, von Schumann in die Textur des Liedes eingraviert worden sind oder nicht. Strukturell gesehen dürfte Reinhold Brinkmann recht haben, wenn er in Hinsicht auf das „EHE-Kryptogramm“ feststellt, „daß diese privat biografische Sphäre ästhetisch nebensächlich bleibt.“[23] Dass das Zwielicht und die romantische Stimmung, die darin herrscht, von Schumann aber erlebt und nicht bloß vertont wurde, bleibt in Anbetracht der oben angeführten Briefstelle unbestritten. Diese ist in ihrer Zweideutigkeit so eindeutig wie das Lied, von dem hier die Rede war.

Am 10. Oktober 2010 ist Reinhold Brinkmann verstorben.
Dieser Aufsatz ist ihm gewidmet.


1 Eichendorff (1984), 221.
2 Eichendorff (1837), 7, vgl. Eichendorff (1993), 11 f., dazu Eichendorff (1994), 39.
3 Kaldewey (1991).
4 Vgl. Brinkmann (1997), 50.
5 Eichendorff (1993), 11 f.
6 Appel (1991), 186.
7 Vgl. Seidlin (1965), 238-280.
8 Seidlin (1965), 240 f.
9 Seidlin (1965), 242.
10 Klinger (1995), 165.
11 Zit. n. Eichendorff (1994), 40.
12 Eichendorff (1984), 220 f.
13 Klinger (1995), 170.
14 Wellbery (2003), 704.
15 Schumann (2001), 1043; vgl. auch Tadday (1999), 225.
16 Brinkmann (1997).
17 Vgl. Kranefeld (2000).
18 de la Motte (1984), 178 f.
19 Brinkmann (1997), 58.
20 Vgl. Schnebel (1981), 4-89.
21 Brinkmann (1997), 60.
22 Schumann (2001), 1038.
23 Brinkmann (1997), 60.

 

Bibliographie

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Abb1TaddayAbschriftClaraSchumannsw
Abb. 1: Joseph von Eichendorff: Zwielicht. Abschrift von Clara Schumann, 1839/40, © Robert-Schumann-Haus Zwickau (Archiv-Nr.: 4871, VIII,  4-A3).
Abb2Tadday
Abb. 2: Robert Schumann: Vertonung von Eichendorffs Zwielicht. Autograph, 1840. In: Herwig Knaus: Musiksprache und Werkstruktur in Robert Schumanns „Liederkreis“. Mit dem Faksimile des Autographs. München/Salzburg: Musikverlag Emil Katzbichler, 1974 (= Schriften zur Musik 27), o. S.
Abb3Tadday
Abb. 3: Robert Schumann: Zwielicht. In: ders.: Liederkreis Opus 39 für Singstimme und Klavier. Fassungen 1842 und 1850. Originaltonarten für hohe Stimme. Hg. v. Kazuko Ozawa. München: G. Henle, 2010 (Urtext), 24.