Editorial
„Kein der Mathematik Unkundiger möge hier eintreten“, so soll der Überlieferung nach ein Schriftzug über dem Eingang der von Platon gegründeten Akademie in Athen verkündet haben. Wie sieht es nun umgekehrt aus, wenn kein medientechnischer Aufwand gescheut wird, die Schönheit der Mathematik jenen Unkundigen zu vermitteln? 1.701 Aufrufe gab es bislang für ein Video auf dem Youtube-Kanal der Mathematik-Studentin und Poetry Slamerin Sira Busch.
In dem Video Mathe ist schön!, so Busch, soll es nicht auf „platte“ Weise um Schönheit gehen, etwa indem mit der Fibonacci-Reihe „irgendwelche Muster auf irgendwelchen Dingen in der Natur“ erkannt würden. Eher, so versteht die Laiin, um die inhärente Klarheit theoretischer Mathematik; und nebenbei um ein Anliegen vieler Mathematiker*innen, das der belgisch-französische Chaostheoretiker David Ruelle diagnostiziert hat: die „Liebe zur Schönheit der Mathematik durchaus auch dann mit anderen teilen [zu] wollen, wenn man darauf Wert legt, dass die Mathematik weiterhin unnütz bleibt!“ Auf der Plattform Quora, wo man Wissen miteinander austauscht und die Welt besser verstehen kann ist der Master-Student David Gwiggner anderer Meinung: „Muscheln, Blüten, Blumenblätter und auch andere Naturphänomene wie beispielsweise Tornados oder Hurrikans sind natürliche Dinge, die die Schönheit der Fibonacci-Folge abbilden.“Â
Mit oder ohne Fibonacci-Zahlen, man bekommt die vage Ahnung, dass es bei der – freilich bereits seit der Antike besungenen – Schönheit der Mathematik um Wichtiges für ihr Selbstverständnis geht; etwa darum, ob die Mathematik nicht eine Wissenschaft zur Erklärung der Natur sei, sondern eine tiefe und grundlegende Offenbarung, die in den übrigen Schönheiten – etwa der Natur oder der Kunst – zum Ausdruck komme? Die Lust an der Offenbarung dieser Offenbarung ist dabei mitnichten den medialen Möglichkeiten und dem generellen Mitteilungsdrang der Millennials geschuldet. Vielmehr verweist die Vermittlungslust darauf, dass sich, was das Verhältnis zur Mathematik betrifft, die Geister sehr grundsätzlich scheiden, um vorerst nicht die speziellen Hirne von Mathematiker*innen zu bemühen. War sie den einen während langer Schüler*innen-Tage ein Gräuel und blieb über dunkle Stunden hinweg Beweis des Selbstzwecks schulischer Bildung, werden andere nicht müde, außerhalb von Schulzimmern, Hörsälen oder Anwendungsfeldern in Physik, Finanzwesen uvm. die allumfassende Schönheit der Mathematik zu besingen.Â
Ihre Tiefgründe nicht nur für Eingeweihte, sondern auch Laien zu eröffnen, versprechen neben Youtube & Co auch populärwissenschaftliche Titel gestandener Mathematiker*innen, z.B. The Joy of x. Die Schönheit der Mathematik (2012) aus der Feder des Cornell-Professors Steven Strogatz. Nichts weniger als eine „Welt der Weisheit, Klarheit und Eleganz“ wird hier in Aussicht gestellt – und zwar eben jenen, die von deren Erfahrung seit ihren Schüler*innen-Tagen offenbar ausgeschlossen waren. Strogatz will mit seinem Buch den Weg von der „Vorschule zur Universität“ noch einmal gehen – und diesmal alle mitnehmen, „die auf diesem Gebiet gerne eine zweite Chance hätten – dieses Mal allerdings aus der Erwachsenenperspektive.“ Im Vorwort nimmt diese Rolle ein Freund ein, nicht zufällig ein Künstler, der, generell dem Feld der Wissenschaften zugeneigt, die Mathematik jedoch nicht versteht und das ganze Nachhol-Projekt ins Rollen bringt: „Er kann sich nicht recht vorstellen, was Mathematiker […] meinen, wenn sie einen Beweis als elegant bezeichnen.“Â
Das Lob der Schönheit der Mathematik und die Idee ihrer Vermittlung scheinen verschwistert. Gerade nämlich an der Schönheit der Mathematik lässt sich eine grundlegende Verborgenheit inszenieren, die eine der Pointen dieser Vermittlungs-Rhetorik ist. Dafür steht auch David Ruelles The Mathematician’s Brain (2007). Im letzten Kapitel – „Die Schönheit der Mathematik“ – liest man:Â
Ich hoffe, meine Leser überzeugt zu haben, dass die Liebe zur mathematischen Schönheit für Mathematiker ein zentraler Beweggrund ist, Mathematik zu betreiben und zu lehren. Doch lässt sich in Worte fassen, was die Schönheit der Mathematik ausmacht? Ich möchte hierauf eine Antwort versuchen: Ich meine, die Schönheit der Mathematik liegt in der Sichtbarmachung der verborgenen Einfachheit und Komplexität, die in dem starren logischen Rahmen, den das Fach vorgibt, nebeneinander existieren.
Wovon hoffe ich nun meinerseits, die Leser*innen überzeugt zu haben? Von der Angewiesenheit auf das Ästhetische. Nicht etwa im Sinne einer irgend bestimmbaren universellen Schönheit. Vielmehr schwingt in der Beschäftigung mit der scheinbar so nüchternen Wissenschaft der Mathematik eine starke Begehrenslogik mit, welche sich via Ästhetik übertragen soll. Gleichzeitig bezeugt das Beloben, Besingen und Beschwören vor Publikum, dass die Schönheit der Mathematik zwar ein wiederkehrender Topos ist, aber offenbar auch nicht einfach gegeben. Das vorliegende, von Sonja Hildebrand kuratierte Heft widmet sich daher der wichtigen Aufgabe, den komplementären Behauptungen, mathematische Ordnung sei schön und Schönheit lasse sich mathematisch beschreiben, historisch nachzugehen. Was waren, insbesondere während des 19. Jahrhunderts, die verschiedenen Schauplätze und Begehrenslogiken des Wechselspiels zwischen dem Schönen und der Mathematik?
Als dieser Tage bekannt wurde, dass der diesjährige Latsis-Preis des Schweizerischen Nationalfonds, mit dem besondere Leistungen in der Grundlagenforschung ausgezeichnet werden, an die Mathematikerin Maryna Viazovska, Professorin der ETH Lausanne, geht, wurde sie folgendermaßen paraphrasiert: „Im Gegensatz zu den Geistes- und Sozialwissenschaften müsse man [in der Mathematik] nichts über die Welt um sich wissen und könne trotzdem viel Neues erschaffen“. Dieser kreativ-erfinderische Zug bringt die Mathematik in die Nähe zur Kunst, unterscheidet sie von der Wissenschaft, die sich dem Studium, manchmal auch der Entdeckung von Objekten widmet. Sie sei die „unwirklichste aller Wissenschaften“ und beschreibe doch die „reellste Realität“, so der Mathematiker Don Zagier, der Mathematiker*innen ganz eigentlich für Künstler*innen hält. Hier wird unter anderem deutlich, dass die Ästhetik der Mathematik sich nicht allein als Mathematikgeschichte und Mathematiktheorie erzählen lässt. Dem kommt dieses Heft nach und versammelt auch Perspektiven der Literatur-, Philosophie-, Kunst-, Architektur- und Designgeschichte. ‚Unkundig‘ oder nicht, sind wir eingeladen zu erfahren, wie sich das Verhältnis zur Dingwelt sowie zur Idee der Abstraktion im Laufe der Mathematikgeschichte verändert und was das mit dem Verhältnis zur Ästhetik angestellt hat; und überhaupt, dass mathematisches Wissen und Denken – innerhalb und außerhalb der Mathematik als Disziplin, damals wie heute – aus einer breiteren kultur- sowie medien- oder darstellungsgeschichtlichen Einbettung heraus entsteht, vermittelt und rezipiert wird.Â
Wir danken Sonja Hildebrand und allen Autor*innen für die im besten Sinne einfache, d. h. schöne Zusammenarbeit bei Wahrung eines durchweg hohen Komplexitätsgrades!
In eigener Sache: Dieses Heft ist das erste des neubesetzten Herausgeber*innen-Kreises der figurationen; auch das ist schön. Außerdem begrüßen wir herzlich Tina Rache und Vera Zimmermann als redaktionelle Mitarbeiter-innen und freuen uns auf die Zusammenarbeit.Â
Zürich, im Oktober 2020 Sophie Witt
Â
Fussnoten
1) Sira Busch (2019): Die Schönheit der Mathematik. https://www.youtube.com/watch?v=AefxvAtVd14. Min. 0:52 ff. (zuletzt gesehen: 8. 10. 2020).
2) David Ruelle (2007): Wie Mathematiker ticken. Geniale Köpfe – Ihre Gedankenwelt und ihre größten Erkenntnisse. Übers. v. Nicola Fischer. Berlin u. Heidelberg: Springer, 2010. Amerik. Orig.: The Mathematician’s Brain. Princeton: Princeton UP, 171.
3) David Gwiggner (2019): Wo kommt die Fibonacci-Folge tatsächlich (in der Natur) vor? https://de.quora.com/profile/David-Gwiggner-1 (zuletzt gesehen: 8. 10. 2020).Â
4) Strogatz (2012), Klappentext.
5) Strogatz (2012), 9.
6) Ruelle (2007), 172.
7) George Szpiro (2020): „Mathematik ist die einfachste aller Wissenschaften“. Portrait der Latsis-Preisträgerin Maryna Viazovska. In: Neue Zürcher Zeitung, 29. 9. 2020.  https://www.nzz.ch/wissenschaft/maryna-viazovska-portrait-der-latsis-preistraegerin-ld.1578861?reduced=true (zuletzt gesehen: 8. 10. 2020).
8) Don Zagier (2011): Die Schönheit der Zahlen. In: Max Planck Forschung. Das Wissenschaftsmagazin der Max Planck Gesellschaft 11.4, 12-17, hier 15.