Editorial

Barbara Naumann

Wenn sich der Blick auf Wahrnehmungsmaschinen richtet, muss das nicht automatisch den Bereich der Ästhetik und der Kunst betreffen. Ebenso kommen die Kameras, Ortungsdienste, Wärmesensoren, Gesichtserkennungssoftwares, kameragestützte Kommunikation am PC oder Smartphone, die Diebstahlssperren, Türcodechecks und viele andere Registrier- und Kontrollsysteme in den Sinn, die den Alltag bestimmen und ununterbrochen festhalten, welche Person sich an welchem Ort befindet, woher sie kommt, wohin sie geht, welche Identität man ihr zuschreiben kann, welche Bewegungs-, Verhaltens- und Konsummuster sich aus den Daten erkennen und – sei es erkennungsdienstlich, kriminologisch oder ökonomisch – nutzen lassen. Dass Wahrnehmungsmaschinen ästhetische Perspektiven erzeugen können und womöglich sogar aus ästhetischen Bedürfnissen entwickelt werden, scheint heute also eher ein sekundärer Effekt zu sein. 

Dennoch gab und gibt es gerade in der Kunst mit ihrer klassischen Doppelorientierung als ars und techné bedeutende Beispiele für die Entwicklung und das Operieren mit Hilfe von solchen Maschinen. Einige wenige mögen hier genügen: Die Herstellung von Umrissportraits, auch Silhouetten genannt, mit Hilfe eines sogenannten Silhouettierstuhls, bei dem der Schattenriss der Person mit Hilfe einer Kerze auf ein transparentes Papier übertragen wird, stellt in manchen Museen noch heute eine Attraktion dar (Abb. 1). 

Im 18. Jahrhundert machte etwa der Zürcher Theologe Johann Caspar Lavater im Zusammenhang seiner physiognomischen Studien häufig Gebrauch von seinem Silhouettierstuhl und verlieh diesem Apparat und seinen Produkten auch bei Nichtkünstlern eine besondere Bekanntheit. Wollte man die Silhouette dann in ein handliches Bildformat transponieren, gab es auch dafür ein Gerät, den sogenannten Storchschnabel oder Pantographen, den man auch gern zur Vergrößerung oder Verkleinerung von Kupferstichen einsetzen konnte. Die sogenannte Perspektivmaschine ist ein ähnlich technisches Hilfsmittel, sie wurde zumeist bei der Landschafts- und Vedutenmalerei eingesetzt. Deren wichtigster Bestandteil wiederum war der Pantograph. Schon Albrecht Dürer hatte in seinem 1525 erschienenen Buch Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt[1] eine erste zusammenfassende Darstellung mathematisch-geometrischer Verfahren zur Erzeugung der Zentralperspektive in der bildenden Kunst geboten; berühmt ist sein Selbstbildnis im Pelzrock (1500), das diese Erkenntnisse minutiös in der Studie des eigenen Antlitzes umsetzt und dabei genau den Vorgaben des goldenen Schnitts folgt (Abb. 2).

Die Liste ließe sich fortsetzen, denn Beispiele für ästhetische Produkte, vor allem Gemälde und Skulpturen, die mit Hilfe von Wahrnehmungsmaschinen erzeugt werden, gibt es unendlich viele. Es sind sowohl die – verglichen mit jener des unarmierten menschlichen Auges – vereinfacht erscheinende Bildproduktion und die exaktere, detailliertere und womöglich schönere Darstellung, die Triebfedern für die Entwicklung von Wahrnehmungsmaschinen bildeten. 

Die Artikel dieses Heftes unterstreichen aber nicht nur deren Geschichte und Funktion; sie zeigen nicht nur deren praktische, pragmatische und aisthetische Ziele. Ebenso verfolgen sie die Spuren der Sinnes-Armaturen im Hinblick auf grundsätzliche und heute virulente Dimensionen. „Die Zweckbestimmungen technischer Medien und Apparate mögen sich heute unendlich diversifiziert und verfeinert haben, sie selber in unüberschaubarer Vielfalt zum Einsatz kommen – bei all dem lässt sich immer noch erkennen: Geboren aus technischen, medizinischen, physikalischen u. ä. Interessen, agieren die Wahrnehmungsmaschinen als Vermittler zwischen technischer Praxis, Aisthesis und ästhetischer Kunstproduktion und lassen wissenschaftliche, technische und künstlerische Intentionen unter Umständen ineinander übergehen. Isoliert aus den pragmatischen, alltäglichen Zusammenhängen, vermögen die artistischen Installationen der Wahrnehmungsmaschinen Aufmerksamkeit für Wahrnehmungs- wie Überwachungsprozesse zu erzeugen und mit ihrem spielerischen Potential auch die Kritik an der Unbekümmertheit zu beflügeln, die im Bezug auf Überwachungs- und Kontrollfunktionen häufig anzutreffen ist. 

Unter den gegenwärtigen Bedingungen der massenhaften Überwachung und Kontrolle geben die Maschinen der Wahrnehmung ebenfalls zu gesellschaftlichen Diskussionen Anlass. Die Frage drängt sich auf, wer die Datenflut der maschinengenerierten Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Menschen erzeugen, zirkulieren lassen, nutzen darf und welche ökonomischen, politischen und sozialen Machtverhältnisse sich aus ihnen ableiten lassen. Deutlich wird ein Gesamtbild, in dem die artistischen Verwendungen von Wahrnehmungsmaschinen, die kontrollierte oder chaotische Generierung von Wahrnehmungen so gut beschreiben können, weil sie sich die Freiheit nehmen, sich an der Schnittstelle von kunst-, wissenschafts- und technologiebasierter Gesellschaftsentwicklung anzusiedeln.

Wir danken Marie Theres Stauffer und Stefan Kristensen für die Gestaltung dieses Heftes und die fruchtbare Zusammenarbeit. Neu im Redaktions-team begrüßen wir herzlich Nadine Jirka.

 

Zürich, im Oktober 2016 Barbara Naumann

 

Fussnoten

1  Dürer, Albrecht: Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt. Nürnberg: Verlag Alan Wofsy, 1981. 

 

01EditorialAbb 1
Abb. 1: Silhouettierstuhl. Kupferstich von J. R. Schellenberg (1740–1806). Phot. Graph. Slg. München. Aus: Heinrich Leporini: „Bildnissilhouette“. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Bd. II. Stuttgart: Druckenmüller, 1940, Sp. 691-695, http://www.rdklabor.de/w/?oldid=88945 (zuletzt gesehen: 12.10.2016).
01EditorialAbb 2
Abb. 2: Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock (1500). Öl auf Holz, 67x49 cm. München, Alte Pinakothek.