Editorial

Caroline Torra-Mattenklott

Quer über den nördlichen Teil des Berliner Breitscheidplatzes zieht sich in unregelmäßigen Windungen ein schmales Band aus Goldbronze. Es führt von der Bordsteinkante der Budapester Straße über den Bürgersteig und die Treppenstufen hinauf bis zur gerasterten Betonwand der 1961 eingeweihten neuen Gedächtniskirche von Egon Eiermann. Unter dem Metallband befindet sich ein Spalt, der eigens in die Granitplatten, die Betonstufen und das farbige Bodenmosaik vor der Kirche eingearbeitet wurde, um die Legierung aufzunehmen – er wird von ihr zugleich verdeckt und hervorgehoben. Der „Goldene Riss“, entworfen vom Berliner Architekturbüro merz merz, markiert die Stelle, an der am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen durch einen islamistischen Terroranschlag ums Leben kamen und viele weitere verletzt wurden. Er erinnert an die Schneise der Verwüstung, die der als Mordwaffe missbrauchte Sattelschlepper auf dem Weihnachtsmarkt hinterließ, bevor er am Straßenrand zum Stehen kam. Vor allem aber soll er die Wunde symbolisieren und symbolisch verschließen, die das Attentat im gesellschaftlichen Alltag aufgerissen hat.[1] Das Modell, an dem die Gestaltung des Gedenkortes sich orientiert, ist das japanische Kintsugi, ein Reparaturverfahren aus dem 16. Jahrhundert, bei dem die Scherben zerbrochener Keramik- oder Porzellangefäße mit einem goldhaltigen Lack zusammengefügt werden.[2] Durch die kunstvolle Reparatur werden die Bruchlinien nicht zum Verschwinden gebracht, sondern betont und veredelt. Die reparierten Gegenstände, denen man ihre Geschichte ansieht, haben im Vergleich zum Neuzustand an Wert gewonnen.

Dass die symbolische Reparatur am Sockel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, deren Turmruine als Kriegsmahnmal an eine frühere Versehrung erinnert, trotz ihrer ästhetischen Qualität eine notdürftige bleibt, belegen nicht nur die Traumata und unwiederbringlichen Verluste der Überlebenden. In den Pollern, Gitterkörben und Metallbarrieren, die den Breitscheidplatz bis heute säumen, manifestiert sich auch unübersehbar die Sorge vor weiteren Attentaten. Was die Reparatur auf symbolischer Ebene heilen soll, ist in der sozialen Realität mitnichten befriedet.

Gegenstand des vorliegenden Heftes sind Reparaturen im Medium der Literatur; es handelt sich also primär um Reparaturen auf symbolischer Ebene. Deren Beschreibung geht jedoch einher mit der Erkenntnis, dass die lebensweltlichen Läsionen, von denen die literarischen Texte handeln – die Kriegsverbrechen der italienischen Faschisten in Äthiopien, die Brandrodung des brasilianischen Regenwalds, der Alltagsrassismus in Deutschland, die Erfahrungsarmut und Ressourcenknappheit der Gegenwart, die Isolation während der Pandemie und die Auswirkungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine –, oftmals irreparabel bleiben. Damit verweisen die hier versammelten Beiträge indirekt auch auf die Grenzen des Reparaturbegriffs selbst. Claus Leggewie, der bereits 1995 und erneut in einem Aufsatz von 2016 von der Notwendigkeit einer „Reparaturgesellschaft“ sprach, hatte eine nachhaltige Ding- und Warenkultur im Sinn, die zugleich einen kompetenteren, ‚mündigen‘ Umgang mit Technik und neue Formen gesellschaftlichen Zusammenhalts („Geselligkeit und Konvivialismus“) implizieren sollte.[3] Gedacht war dabei u. a. an reparierbare technische Geräte, an Praktiken der Umnutzung und des Upcycling, an Online-Reparaturnetzwerke und Repair Cafés.[4] Wenn man diese Vision auf individuelle und kollektive Traumata oder, noch weiter gefasst, auf die multiplen Verlusterscheinungen der Moderne bezieht, wie es Andreas Reckwitz, anknüpfend an Bruno Latour und Aleida Assmann, im letzten Kapitel „Die Moderne reparieren?“ seines neuen Buchs Verlust. Ein Grundproblem der Moderne vorschlägt[5], suggeriert dies, dass komplexe ökologische, soziokulturelle und psychische Schäden repariert werden können wie eine zerbrochene Teekanne oder ein defekter Computer. Je nachdem, ob man mit der Reparaturmetapher traditionelle handwerkliche Techniken wie das Sockenstopfen und Kesselflicken, präzise Ingenieursleistungen oder die Hacks versierter Bastler:innen assoziiert, wird man das Weltbild hinter solchen Visionen als nostalgisch, hemdsärmelig oder technoid wahrnehmen.

Mit einem herkömmlichen Verständnis von Reparatur ist die Vorstellung einer verlorenen Ganzheit und Funktionalität verbunden, die prinzipiell auf technischem Wege wieder hergestellt werden kann, auch wenn dabei unter Umständen Spuren der Versehrtheit erhalten bleiben. Ob diese Metaphorik den vielfältigen kulturellen Phänomenen angemessen ist, die unter das weite Konzept der Moderne und ihrer negativen Begleiterscheinungen subsumierbar sind, wäre zumindest zu diskutieren. Christian Metz zeigt in seiner Einleitung zu diesem Heft, dass auch Konzepte der Reparatur denkbar sind, die sich vom pragmatischen Modell des geschlossenen Reparaturzyklus lösen: In der Denkfigur einer ursprünglichen und irreduziblen Reparaturbedürftigkeit der Welt, deren Brüchigkeit nur mit einem „relationale[n] Gefüge endloser Reparaturen“[6] beizukommen ist, erfährt der Reparaturbegriff eine dekonstruktive Wendung, die seinen Gebrauch – um mit Claude Lévi-Strauss zu sprechen – als bricolage (‚Bastelei‘)[7] erscheinen lässt.

Mit dem Thema „Literarische Reparaturen/Literary Repairs“ knüpft dieses Heft an die beiden Themenhefte des Jahrgangs 2023 („Gemeinschaftlichkeit/Commonality“ und „Die Stärken der Schwäche/Virtues of Vulnerability“) an: Auch in diesen Heften ging es um die Möglichkeit, Verletzlichkeit als Potential für positive Entwürfe gesellschaftlicher Transformation zu interpretieren. Wir danken Christian Metz für die Konzeption und allen Autor:innen für ihre Beiträge zu diesem Heft. Philippe P. Haensler, Sourenna Djafari und Ana Preuß, deren Mitarbeit in der figurationen-Redaktion mit diesem Heft endet, danken wir sehr für ihre engagierte und kompetente Unterstützung. Neu dabei sind Isabel von Holt und Paula Bannasch (beide Universität Hamburg) – wir heißen sie hiermit herzlich willkommen.

Berlin, im Oktober 2024 Caroline Torra-Mattenklott

 

Fussnoten

1) Vgl. HG Merz (2020): Gedenkort Breitscheidplatz. Eine räumliche und symbolische Verankerung für die Erinnerung. In: KWG Magazin. Ausgabe zum 1. September 2020. 125. Jubiläum der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, 50 f., hier 50.

2) Vgl. Merz (2020), 51.

3) Claus Leggewie (1995): Die 89er. Porträt einer Generation. Hamburg: Hoffmann und Campe, 186-192; Jürgen Bertling/
Claus Leggewie (2016): Die Reparaturgesellschaft. Ein Beitrag zur Großen Transformation? In: Andrea Baier u. a. (Hg.): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Bielefeld: transcript, 2016, 275-286, das Zitat 277. Bertling/Leggewie (2016), 275, 277-280.

4) Andreas Reckwitz (2024): Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 410-424, zu Assmann, Leggewie und Latour 419. 

5) Vgl. Aleida Assmann (2013): Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes in der Moderne. München: Hanser, 281-312, und Bruno Latour/Christophe Leclercq, Hg. (2016): Reset Modernity! Ausstellungskat. ZKM, Karlsruhe. Cambridge, MA: MIT Press.

6) Vgl. die Einleitung zu diesem Heft, 10.

7) Zur dekonstruktivistischen Interpretation des bricolage bei Lévi-Strauss vgl. Jacques Derrida (1967): La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines. In: ders.: L’écriture et la différence. Paris: Seuil, 1979, 409-428, hier 417-419. Dt. Übers.: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen.  In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Dt. Übers. v. Rodolphe Gasché. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 21985, 422-442, hier bes. 430-432.

Quer über den nördlichen Teil des Berliner Breitscheidplatzes zieht sich in unregelmäßigen Windungen ein schmales Band aus Goldbronze. Es führt von der Bordsteinkante der Budapester Straße über den Bürgersteig und die Treppenstufen hinauf bis zur gerasterten Betonwand der 1961 eingeweihten neuen Gedächtniskirche von Egon Eiermann. Unter dem Metallband befindet sich ein Spalt, der eigens in die Granitplatten, die Betonstufen und das farbige Bodenmosaik vor der Kirche eingearbeitet wurde, um die Legierung aufzunehmen – er wird von ihr zugleich verdeckt und hervorgehoben. Der „Goldene Riss“, entworfen vom Berliner Architekturbüro merz merz, markiert die Stelle, an der am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen durch einen islamistischen Terroranschlag ums Leben kamen und viele weitere verletzt wurden. Er erinnert an die Schneise der Verwüstung, die der als Mordwaffe missbrauchte Sattelschlepper auf dem Weihnachtsmarkt hinterließ, bevor er am Straßenrand zum Stehen kam. Vor allem aber soll er die Wunde symbolisieren und symbolisch verschließen, die das Attentat im gesellschaftlichen Alltag aufgerissen hat. Das Modell, an dem die Gestaltung des Gedenkortes sich orientiert, ist das japanische Kintsugi, ein Reparaturverfahren aus dem 16. Jahrhundert, bei dem die Scherben zerbrochener Keramik- oder Porzellangefäße mit einem goldhaltigen Lack zusammengefügt werden. Durch die kunstvolle Reparatur werden die Bruchlinien nicht zum Verschwinden gebracht, sondern betont und veredelt. Die reparierten Gegenstände, denen man ihre Geschichte ansieht, haben im Vergleich zum Neuzustand an Wert gewonnen.