Editorial
Ein kleines Spielzeug, bekannt unter dem Namen ‚Wackelbildchen‘, hat uns diese Lektion vielleicht schon in der Kindheit gelehrt: Etwas kann in einem Moment so sein und im nächsten Moment anders; etwas kann etwas Bestimmtes sein und im Nu schon sein Gegenteil. Ein Clownsgesicht, das abwechselnd lacht und weint, ein Elefant, der die Ohren anlegt und gleich darauf wieder abspreizt, ein Reiter, der mit seinem Pferdchen immer wieder vor- und rückwärts über ein Gatter hüpft –, solche wundersam witzigen Vorgänge konnte man mit den kleinen Wackelbildchen beliebig lange und oft erscheinen lassen. Dieses einfache Spielzeug, ein kleines, unauffälliges Plastikding, wurde manchmal Süßigkeiten-Packungen beigelegt, aber oft waren die kleinen nichtswürdigen Bilder einfach irgendwie da, und man wusste nicht einmal genau, woher sie eigentlich kamen. Und natürlich ahnte man als ein dem Vergnügen hingegebenes Kind nicht, dass sich aus dem Spiel mit den Witzbildchen Einsichten in Grundsätzliches, aus den wackelnden optischen Kippfiguren abgründige philosophische Fragen würden ableiten lassen. Das verzaubernde Entdeckungsspiel mit den umspringenden Zuständen und Ansichten vollzog aber sinnfällig das, was der Philosoph Wittgenstein am berühmten Beispiel seines Hasenentenkopfes unter dem Stichwort ‚Aspektwechsel‘ zu einer seiner wichtigsten erkenntniskritischen Thesen entfaltet hat. (Einen ausführlichen Beitrag zum philosophischen Abenteuer des Aspektwechsels bei Wittgenstein hat zu diesem Heft Christine Abbt beigesteuert.)Â
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Dass es sich bei einem Wackelbild, wenn man es technisch betrachtet, eigentlich um zwei Bilder handelt, die aufgrund einer Rasterung der Bildoberfläche abwechselnd zu sehen sind, also gerade nicht um zwei Aspekte ein und derselben Sache, das hat uns als Kinder wahrscheinlich nicht weiter interessiert, führt uns aber noch auf eine andere Bedeutung der Kippfigur hin. Denn in der Tat kann der Aspekt-Umschlag auch in das Entdecken von Identität münden, die sich in zwei verschiedenen Erscheinungsformen verborgen hat. Das ist ebenfalls dem Philosophen Wittgenstein aufgefallen, der erzählt: „Ich mag zwei Gesichter, die sich nicht ändern, betrachten: auf einmal leuchtet eine Ähnlichkeit in ihnen auf. Ich nenne diese Erfahrung das Aufleuchten eines Aspekts.“[1]
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Die Augen-Lust an den Kippfiguren und das Ausloten ihres Erkenntnispotentials ist nun keineswegs eine Sache der Moderne, auch wenn um 1900 gerade solche Erkenntnisgewissheiten verunsichernden Phänomene in der Physik, in der Philosophie und Psychoanalyse und in den Künsten besondere Beachtung fanden. Am optischen Spiel mit dem Wechsel zwischen Flächigkeit und Tiefe hatten wohl bereits die Innenarchitekten der Antike ihre Freude; hier ein Beispiel eines Fußbodenmosaiks aus der Römervilla beim westschweizerischen Städtchen Orbe: (Abb. 1)
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Auch der Doppelwürfel des Schweizer Geologen Louis Albert Necker (1786–1861) spielt mit der abwechselnden Wahrnehmung von Vorder- und Rückseite: (Abb. 2)
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Wir sind es selbst, die im Gehirn die wechselnde Auffassung von Vorder- und Hintergrund, Flächigkeit und Dreidimensionalität erzeugen. Es sind oft die scheinbar einfachen Kinderfragen, die Wackelbildchenfragen, in denen das Potential zu den ganz großen, grundsätzlichen und philosophischen Problemen steckt. Wenn etwas im Nu auf den einen oder anderen Aspekt umspringen kann, wenn sich ein Ding, eine Ansicht in seiner Doppelnatur zeigt, stellt sich die Frage, was dieses Ding, was diese Ansicht überhaupt sei. Ist Identität möglich? Wir wissen dabei nur so viel, dass wir über Eindeutigkeit nur in den seltensten Fällen verfügen.Â
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Zumeist geht man davon aus, dass Kippfiguren in erster Linie optische Ereignisse seien. Dass dem aber nicht so sein muss, sondern die Kippfigur auch ein Bild bzw. eine Metapher darstellt für die Mehrdeutigkeit und das Umschlagspotential von beinahe allen Befunden, Behauptungen, Ansichten, Formen, Positionen etc., das umschreiben an zahlreichen Beispielen die Beiträge dieses Heftes. Mathematische, rhetorisch-argumentative, literarische, filmische, ästhetische, soziale, psychologische und viele andere Kippfiguren bieten ihr zum Teil erheiterndes, zum Teil erheblich beunruhigendes Potential zur Analyse an. Wie man dieses Potential betrachtet, ist eine Frage des Aspekts… Die Auflösung in Ansichten und Aspekte, die Uneindeutigkeit und das Hin und Her zwischen nur scheinbar identischen Positionen lässt sich als Gedankenspiel leicht zur mise en abyme treiben, end- und haltlos. Gerade hierin liegt für die Künste das Reizvolle am Umgang mit der Kippfigur.
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Der herzliche Dank der Redaktion für die Gastedition und die Zusammenarbeit an diesem Heft geht an Hans-Georg von Arburg von der Universität Lausanne und Marie Theres Stauffer von der Universität Genf.
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Liebe Leserinnen und Leser, bitte beachten Sie: Die figurationen haben eine neue Website und nun auch eine neue Adresse:Â
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www.figurationen.ch
Barbara Naumann Zürich, im September 2012
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 1) Ludwig Wittgenstein (1948/49): Vorstudien zum zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen. In: ders.: Werkausgabe. Bd. 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, 408.
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