Editorial

Barbara Naumann

Der Name der Zeitschrift – figurationen – wurde im Jahr 1999 nach einiger Sondierung mit weitem Blick gewählt. Es sollte möglich sein, sowohl literarische und ästhetische wie soziale Prozesse der Formwerdung, Signifikanz und Gestaltung wahrzunehmen und für Wahlverwandtschaften mit dynamischen Konzepten wie Konstellation, Gestalt, Prägnanz usf. offen zu bleiben. Da die Zeitschrift zugleich literarische und kulturwissenschaftliche wie auch genderbezogene Themen in wechselnder Reihenfolge beleuchten wollte – und diesen thematischen Wechsel in loser Folge seither auch hat anbieten können –, musste also ein beweglicher Name für dieses Zeitschriftenkind gefunden werden. Es war Edgar Pankow, der die zündende Idee der figurationen hatte. Wie Thierry Greub, Gasteditor des vorliegenden Heftes in der Einleitung ausführt, gab es ähnliche Überlegungen zu einem Namenskonzept einige Jahre später in Köln, aus denen das Internationale Kolleg Morphomata: Genese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen hervorging. Die Entscheidung für den Namen Morphomata, ein griechisches Wort mit starken Konnotationen wie Figuration und Formwerdung, wies in mancher Hinsicht in eine ähnliche Richtung wie unser Zeitschriftenprojekt. Zweifellos ist es kein Zufall, dass Aficionados des Figurationen-Begriffs dort anzutreffen sind, wo das Zusammenwirken von Ästhetik und Poetik in kultureller Perspektive im Vordergrund steht und wo es um soziale und artistische Praktiken, Ausdrucksformen und Ausdrucksbedürfnisse geht – wie beispielsweise bei der Gender-Problematik. 

Aus dem Morphomata-Kreis und speziell von Thierry Greub kam denn auch der Vorschlag, die vernehmbare Figurationen-Affinität zwischen Morphomata und dieser Zeitschrift in ein Heft mit dem Titel Figurationen/Figurations münden zu lassen; ein Vorschlag, den die Redaktion gern aufgenommen hat. Wie breit gestreut die Auffassungen des Begriffs und seine Reflexion in unterschiedlichen Kontexten sein können, dafür liefern die vorliegenden Beiträge viel Anschauungsmaterial. Wer also in den Statements aus dem Morphomata-Kontext nach einer Vereindeutigung oder Reduktion der semantischen Breite und vielfältigen Anwendbarkeit des Begriffs sucht, wird hier nicht fündig werden. Mehr noch: Ließe sich da eine Einsinnigkeit des Begriffs vernehmen, müsste man eine unité de doctrine vermuten, und dies wäre das Gegenteil der Wirkmächtigkeit einer Figuration. Denn bei aller Diversität zielt sie nicht zuletzt auf Kombinatorik, experimentelles Vorgehen und spielerischen Umgang. Wer allerdings nach der Leistungsfähigkeit der Figuration als einer dynamischen Perspektive sucht, wird im breiten Spektrum kunst- und kulturhistorischer, allgemein ästhetischer und (alt-)philologischer Aufsätze dieses Heftes fündig werden. Was schon im allerersten Editorial der figurationen stand und erläutern sollte, wie Figurationen als editorisches Prinzip der Zeitschrift funktionieren, könnte auch für dieses Heft in emphatischer Weise gelten: „Wir hoffen, daß Sie die verschiedenen Figurationen der Themen nach Ihrer Leselust und nach Ihrem Erkenntnisinteresse miteinander kombinieren. Daß sich die Themen auf diese Weise wechselseitig erhellen und in einen Dialog oder Disput miteinander treten, und daß sie obendrein Leserinnen und Leser in einen solchen verwickeln werden – das ist die Hoffnung der Redakteurinnen und Redakteure dieses Heftes.“[1]

Die Frage nach dem, was man sich unter einer Figuration vorstellen kann, bleibt immer virulent. Wie kann man denn überhaupt bemerken, dass ‚Figuration‘ ein Konzept mit Aussagekraft, mit epistemischem und ästhetischem Anspruch ist? Woran merkt man, dass man es mit ‚Figurationen‘ zu tun hat? Ein Beispiel: Sobald man sich in einer anderen Kultur bewegt, tritt spontan die Figuration des Kulturellen in den Vordergrund. Die Figuration macht sich vernehmbar, noch längst, ehe man begonnen hat zu verstehen, Einzelheiten aufeinander zu beziehen, analytisch oder intuitiv das Wie und Was und Warum nachzuvollziehen. In einem solchen Fall umfasst die kulturelle Figuration all das, was nicht selbstverständlich ist, was auffällt, was sich in anderen als den gewohnten Verhältnissen präsentiert. Sie ist ein Ensemble dessen, was Prägnanz besitzt und die Wahrnehmung ent-automatisiert. Ähnliche Figurationen-Erfahrungen lassen sich beinahe überall dort machen, wo Unvertrautes, Erstaunliches, Auffälliges entgegentritt, also auch vor Kunstwerken, in Landschaften, in der Stille sonst belebter Straßen während des Lockdown … und nicht zuletzt vor dem sprachlich nicht Fassbaren. Figurationen entzünden die alltägliche und die wissenschaftliche Neugier und vermitteln ein neues Wahrnehmungsbild. Und dasselbe erhoffen wir nach wie vor von unserer Zeitschrift figurationen.

Wir danken Thierry Greub herzlich für die Initiative zu diesem Heft und die nicht nur in Bezug auf den Titel kongeniale Zusammenarbeit. 

Zürich, im März 2021 Barbara Naumann

 

Fussnoten

1 figurationen 0 (1999), 4.