Editorial

Barbara Naumann

Das Glück wollte es, daß mir auf diesem Boulevard, wo die Spekulation regiert, auch ein Börsenmakler entgegenkam. Es war ein dicker, mit sich selbst zufriedener Herr, sichtbar bestrebt, Gelassenheit und Würde auszustrahlen. Er nötigte seinem Körper eine Drehbewegung auf, so daß die Schöße seines Gehrocks sich regelmäßig auf seinen Schenkeln ein- und abrollten, ähnlich dem wollüstigen Röckchen der Taglioni, die sich
nach vollendeter Pirouette zum Publikum wendet, um den Applaus aus dem Parkett entgegenzunehmen. Diese kreiselnde Bewegung stand in Einklang mit seiner Beschäftigung. Er rollte wie sein Geld.
[1]

Dieser Passus stammt aus Honoré de Balzacs Théorie de la démarche, deren erste Stücke bis in das Jahr 1833 zurückreichen und die später im Rahmen einer umfassenden Pathologie de la vie sociale zum Schlussteil der Comédie humaine (1830–1856) werden sollte. Ein Pariser Boulevard in Börsennähe ist Balzacs Forschungsfeld. Die Aufmerksamkeit des Beobachters gilt den Passanten des Boulevards, aber nicht deren bloßes Vorhandensein fasziniert ihn, sondern deren eigentümliche Erscheinungs- und Bewegungsformen. Der ‚Pathologe des sozialen Lebens‘ betrachtet die alltägliche Szene mit geschultem Blick; er sucht nach Auffälligkeiten, nach Signifikanzen von Habitus, Gestus und Ausdruck der Person. Nicht die stillgestellte, einer kontemplativen Sinnesarbeit sich darbietende Person beobachtet der Autor der Comédie humaine. Das, was sich etwa am Paradigma der Körperskulptur entdecken ließe, nämlich der statuarische Ausdruck von Muskelspiel und Körperform, lässt Balzac in seiner Beschreibung des Börsenmaklers beiseite. Vielmehr ist es der in Bewegung versetzte Körper, der den Autor fasziniert; ein Körper, der mit der Eigentümlichkeit seines rollenden Ganges den seelischen Zustand des Individuums („bestrebt, Gelassenheit und Würde auszustrahlen“) und dessen Denken und Handeln im Sinn ökonomischer Interessen zum Ausdruck bringt. Hier geht ein Mann, der die Gesetze der gesellschaftlichen Bewegung mit seinem rollenden Gang verkörpert. Sein Gang ist nicht bewusst, nicht kontrolliert, und doch vollführt er auf der Bühne des Boulevards einen signifikanten Auftritt. Balzac vergleicht den Gang des Börsenmaklers mit dem Spitzentanz der damals berühmten, stilbildenden Tänzerin Marie Taglioni (Abb. 1). Hier wird der Pathologe des Sozialen zum Ironiker der Lebenswelt. 

Der Essayist Balzac beobachtet zum einen die ‚Arbeit der Sinne‘, ihre Beteiligung am Ausdruck eines Typus und Habitus. Er leistet zugleich selbst eine solche aisthetische Arbeit, indem er einen analytischen Blick auf das Alltägliche, auf Menschen und ihre Dinge, auf Kleidung, Mode und Nahrung, auf menschliche und zwischenmenschliche Bewegungs- und Begegnungsformen wirft. Ihn interessiert, kurz gesagt, der Habitus seiner Zeitgenossen und all jene Objekte und Umstände, die an dessen Hervorbringung beteiligt sind. Aus heutiger Perspektive könnte man seine sozialpathologischen Schriften als eine „Kulturwissenschaft der vergänglichen Dinge“ bezeichnen. [2] Balzac konnte sich dabei am Sensualismus des 18. Jahrhunderts und besonders an der von Denis Diderot prominent entwickelten aisthetischen Aufmerksamkeit schulen. Diderots Sensorium für das Spiel der Sinne und der Sinnlichkeit in den etablierten Künsten und über diese hinaus, welches die Beiträge dieses Heftes ins Zentrum stellen, war für Balzac und nach ihm beispielsweise für Autoren wie Heinrich von Kleist und E. T. A. Hoffmann prägend. Kleists Marionettentheater (1810) und E. T. A. Hoffmanns Puppen, Automaten und mit Brillen und Teleskopen bewehrte Figuren, sie setzen die ‚Arbeit der Sinne‘ in Form der Kritik einer medial und apparativ aufgerüsteten Sinnlichkeit fort, indem sie daran geknüpfte Glücks- oder Heilserwartungen ebenso regelmäßig in Katastrophen münden lassen, wie sie die rationalistischen Lebensentwürfe ihrer Protagonisten demontieren.

Der überraschend moderne kulturanalytische Zug Balzacs wurde in der Tat geprägt durch Autoren und Theorien des 18. Jahrhunderts, die sich bereits mit der ‚Arbeit der Sinne‘ bei der Formung des Individuums befasst hatten. Der soziale Status, die geistigen und körperlichen Vermögen, das Geschlecht, sowie die prägende Funktion der Arbeit – sei es in der Kunst, sei es auf anderen Gebieten, fallen zuerst im Rahmen der Aufklärung ins Gewicht. Ganz besonders hervorzuheben ist hier Diderot, der das Gravitationszentrum des vorliegenden Bandes bildet. Balzac konnte von ihm ebenso die physiologische Betrachtungsweise lernen wie den sensiblen und ironischen Blick auf menschliche Figuren und Konstellationen. Die zerrissenen Figuren Diderots – z. B. der Neffe Rameaus – bringen ihr Denken, Wissen und Fühlen in einem starken gestisch-körperlichen Repertoire zum Ausdruck. Dies tun ebenfalls die Figuren Balzacs. Nicht zufällig wurde der Schauspieler für Diderot zu einer paradigmatischen Figur, an der sich, wie Alexander Honold in seinem Beitrag formuliert, stets die „Kluft zwischen äußerlicher Geltung und innerer Gefühlslage auftut“. Solche Aufrisse bilden die Ansatzpunkte des Pathologen des Soziallebens. Ebenso prägend waren für Balzac nicht zufällig der Arzt und Phrenologe Franz Joseph Gall und der Zürcher Physiognomiker und Pathognomiker Johann Caspar Lavater, dessen Schriften Balzac ausführlich zur Kenntnis genommen hatte. Ein markanter Leitsatz Balzacs, „Der Gang ist die Physiognomie des Körpers“ [3], formuliert gewissermaßen Ergebnisse der formenden ‚Arbeit der Sinne‘, bündelt physiognomische und pathognomische Interessen und transponiert sie in die Welt der beschleunigten gesellschaftlichen und ökonomischen Bewegung des 19. Jahrhunderts.

Der Gang von Diderot über Balzac, E. T. A. Hoffmann und Kleist könnte weiter geführt werden bis in die jüngste Zeit, etwa zu Thomas Bernhard, der Diderot seine „Reverenz“ als einem „Meister des Widerstreits und der dialogischen Wechselrede“ erwiesen und, wie jener, in seinen Stücken das körpersensorische Moment an die Entwicklung von Gedanken und Gefühlen geknüpft hat. Dies zeigt – unter anderem – Alexander Honold, der Gasteditor dieses Heftes, in seinem Beitrag. 

Die Redaktion dankt ihm herzlich für die Konzeption des Heftes, freudvolle Anregungen und die Eleganz, mit der er seine ‚Arbeit der Sinne‘ in den Dienst dieses Heftes gestellt hat.

Zürich, im Oktober 2017, Barbara Naumann

 

Fussnoten

1 Honoré de Balzac (2002): „Theorie des Gehens“. Übers. v. Christiana Goldmann. In: ders.: Pathologie des Soziallebens. Hg. v. Edgar Pankow. Leipzig: Reclam, 98-154, hier: 138. Frz. Orig.: „Théorie de la démarche“. In: L’Europe littéraire, 1833. 

2 Edgar Pankow (2002): „Ein anderer Balzac. Der Autor der Menschlichen Komödie als Pathologe der Alltagskultur“. In: Honoré de Balzac: Pathologie des Soziallebens. Übers. v. Christiana Goldmann. Hg. v. Edgar Pankow. Leipzig: Reclam, 7-36, hier: 12.

3 Balzac (2002), 124.

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Abb. 1: Die von Balzac erwähnte Tänzerin Marie Taglioni in der Rolle der Sylphide. Aus: http://wikipedia.org/wiki/La_Sylphide (zuletzt gesehen: 11.10.2017).