Editorial

Barbara Naumann

Kein Zweifel, wir sind von wilden Tieren umzingelt. Von allen Seiten umkreisen sie uns: Problembären in Feld und Wald, Rudel wilder Wölfe in den tiefen Schluchten der Alpen und des Jura. Oben in den Lüften lauern neuerdings wieder angesiedelte Bartgeier auf ihre aasige Beute. Und von unten drohen nasse Füße, für die die wieder erstarkten Aktivitäten der Biber in Flüssen und Bachläufen verantwortlich sind. Zwar muss der pendelnde Städter auf dem Wege zwischen Wohnung und Büro zumeist noch nicht befürchten, die blutigen Lefzen wilder Wölfe zu erblicken. Aber die gefühlte Bedrohung wächst. In der Regel ist das Verhältnis des Städters zum Tier eher positiv sentimentalisch gefärbt; er liebt und sorgt sich um die Tiere in der Ferne. Umso mehr hat er nun Veranlassung, sich Gedanken über die willige Rückkehr von nahezu ausgerotteten Lebewesen zu machen. Den Schäfern auf dem Land ist es kein Rätsel, warum die Wölfe ihnen wieder näher rücken (Abb. 1 u. 2); ihre Ablehnung ist deshalb nahezu einhellig. Den Städter, den Agglomerationsbewohner hingegen erfüllt die Rückkehr des gefährlichen Wildtiers mit durchaus ambivalenten Gefühlen, mit einer Mischung aus Angstschauer und Sentimentalität. Dabei staunt der Stadtmensch wahrscheinlich am meisten über den Umstand, dass die Tiere seine Zivilisation immer noch nicht gänzlich meiden. Sentimentalität, moralische Selbstkritik aufgrund des angespannten Verhältnisses zum Tier und zugleich, aus dem gleichen Grund, ein gewisses Ressentiment: Diese Gefühle scheinen sich fast zwangsläufig einzustellen, wenn es um wilde Tiere geht. – Es ist unübersehbar, Tierspuren finden sich immer mehr inmitten des Fühlens und Denkens der Zivilisation. Derzeit überfluten Buchpublikationen, Artikel, TV-Beiträge, Clips und Videos zum Thema das Publikum – ein weiterer unkontrollierter Strom, den, wenn man so will, die zurückgekehrten Biber im Verein mit den Wölfen und Bären ausgelöst haben.

Kaum aber, dass der tierliebende Zeitgenosse durch das Zutrauen der zurückkehrenden Wölfe, Geier, Biber, Eichelhäher, Stadtfüchse einigermaßen Rechtfertigung und Tröstung findet, erscheinen neue Hiobsbotschaften am Horizont: Der amerikanische Elch droht auszusterben. Er, das große, starke Tier der nordamerikanischen Wälder, wird von einer ungeheuren Zeckenplage, die wiederum Resultat der allgemeinen Klimaerwärmung ist, geschwächt und regelrecht aufgezehrt. Und mit Nachrichten solcher Art, die nicht abreißen, pendelt das Alltagsbewusstsein sofort wieder auf den tristen Normalzustand zurück. Wir haben uns in Bezug auf die Natur an einen melancholischen Gemütszustand fast schon gewöhnt. Die biologische Diversität, so will es scheinen, trägt nurmehr die Signatur des Verlusts. 

Da kommt endlich die gute Nachricht, nach der alle sich sehnen: Die eben noch verschwindenden Tiere kehren als mutige Remigranten zurück in die Zivilisation. Auf einmal scheint doch noch nicht alles verloren. Deshalb gilt jedes Losungshäufchen eines Problembärs, gilt jeder in einem Obergewässer abgelegte Lachslaich als eine Kostbarkeit, und das gerissene Lämmchen wird mit einem mitleidigen Schulterzucken und mit Hilfe der entsprechenden Ausgleichszahlungen an die Besitzer gern in Kauf genommen. Vielleicht, so hofft der Pendler aus der überbauten Agglomeration, vielleicht hat die Natur doch noch die Kraft, rettend auf den Menschen zu wirken und das ganze zivilisatorisch-industrielle De-struktionsgebaren zu kompensieren. Ein Pfotenabdruck hier, ein gerissenes Schaf da – die Tierspuren transportieren, neben aller Beunruhigung, ein extrem tröstliches Versprechen: die möglicherweise erhaltbare Biodiversität. Dieses Versprechen ist zum einen aus biologischer und ökologischer Hinsicht hoch bedeutsam. Zum anderen üben die Tierspuren in moralischer Hinsicht eine starke Wirkung aus. Das zurückgekehrte Tier wirkt als Beruhigung angesichts der berechtigten nagenden Zweifel an der Zivilisation. Beruhigend wirken die Tiere deshalb, weil sie positive Spuren im Gemüt hinterlassen. Sie markieren die Grenzen menschlicher Destruktivität. Dem Städter wie dem Landbewohner, dem vielleicht auffällt, dass immer weniger Insekten seine Balkonblumen umschwirren, erteilt das zurückgekehrte Tier eine Art moralischer Absolution. Plötzlich muss er sich in seinem Lebensstil doch nicht vollkommen zerstörerisch und verwerflich vorkommen.

Seit Darwin den Gedanken unabweisbar hat werden lassen, dass auch der Mensch ein Tier ist, hat das Schicksal der Tiere das Zeug, das menschliche Selbstbewusstsein zu erschüttern. Nicht nur während der Ernährungsskandale wie den diversen BSE-, Gammelfleisch- und Hormonfleisch-Krisen, in denen sich die Selbstschädigung der Konsumenten durch die Schädigung der Tiere reflektiert, nicht nur in religiösen Skandalen wie dem Verbot der Darwin’schen Lehre in christlich-fundamentalistischen Kirchen – generell ist das Verhältnis der Menschen zum Tier ein menschliches Problem, ein Problem seiner Selbstbestimmung und -gewissheit. In der Geschichte der Naturwissenschaften mussten immer wieder scheinbar feste anthropologische Grenzen verschoben oder zugunsten unschärferer Verläufe aufgegeben, musste das menschliche Primat immer neuen Überlegungen abgerungen werden. Zu solchen grenzverschiebenden Einsichten gehört, dass Tiere Gefühle haben, ihre Nachkommen ausbilden und differenziert kommunizieren können. Diese Erkenntnisse münden derzeit wiederum in einen breiten ethisch-politischen Diskurs um die Rechte der Tiere. 

Eine viel beachtete Spitzenposition in der Reihe derjenigen, die das Tier im ethischen Denken des Menschen verankern möchten, nimmt der Verhaltensforscher und Biologe Karsten Brensing ein. Sein Buch Persönlichkeitsrechte für Tiere. Die nächste Stufe der moralischen Evolution[1] ist wohl nicht zufällig in einem christlichen Verlag erschienen. Die Forderung nach Persönlichkeitsrechten für intelligente Tiere – Brensing denkt vor allem an Delphine und Primaten – also nach einer juristisch verbindlichen Rechtssituation für Lebewesen, die selbst keine Rechtssubjekte sein oder sich als solche artikulieren können, mag einerseits schöpfungsfromm wirken, andererseits wirken seine Thesen geradezu zynisch, wenn man bedenkt, wie defizitär es um die Persönlichkeitsrechte von Menschen bestellt ist. Doch Brensing versteht sich nicht als Zyniker, ganz im Gegenteil: Er meint es ernst und zielt auf eine moralische Evolution – wohlgemerkt des Menschen, und nicht des Tiers. Brensing kehrt die klassische Reflexion des Verhältnisses von Mensch und Tier, die seit der Antike in einer differentiellen Logik der Abgrenzung bestanden hat, zugunsten eines vollkommen moralisch gewendeten Einheits-Blicks auf alle Lebewesen um. Die anthropologische Differenz, der Widerstand gegen ein undifferenziertes Denken des Menschen, wird zugunsten eines fundamentalistischen umfassenden Moralprinzips aufgegeben. 

Im Gegensatz dazu weist der Basler Philosoph und Tierphilosoph Markus Wild darauf hin, dass die Philosophie im Verein mit der Biologie und anderen Life-Sciences weiterhin damit beschäftigt sein wird, das komplizierte Geflecht von Unterschieden und Parallelen zwischen Mensch und Tier genauer zu beschreiben: „Ich glaube“, so führte Wild kürzlich in einem Interview aus, „dass es vielmehr ein ganzes Netz von Fähigkeiten ist, das Menschen zu Menschen macht. Dazu gehören zum Beispiel die sprachliche Kommunikation, das soziale Leben, die verlängerte Kindheit oder die Plastizität unseres Gehirns, die uns immer neues Lernen erlaubt.“[2] Neue Einsichten in die komplexe Dynamik der Evolution lassen auch die Ansichten des Mensch-Tier-Verhältnisses immer komplexer werden. 

Es ist auffällig, dass Vorschläge wie die der Persönlichkeitsrechte für Tiere in der Öffentlichkeit zumeist großen spontanen Beifall erhalten. Darin artikuliert sich vor allem Empathie mit dem Tier, die als tierbezogene Variante der christlichen Mitleidsethik in Erscheinung tritt. Denn darin sind sich alle einig, die Wissenschaftler der Life-Sciences ebenso wie die Tierversuche unternehmenden Pharmazeuten und die Konsumenten von Tiersendungen im Fernsehen: Dem Nutz- wie dem Wildtier wird tatsächlich vom Menschen fortwährend Leid zugefügt.

Es lässt sich am Ende nicht leugnen, dass die Begegnung mit dem realen wilden Tier wie eh und je den Atem stocken lässt. Unweigerlich steigen archaische Ängste auf, wenn ein solches Tier – oder vielleicht sogar ein ganzes Rudel – leibhaftig nahekommt. Die Grafik auf dem Heftumschlag setzt sich mit der Visualisierung des Bewegungsprofils eines Wolfes in der Schweiz auseinander und führt zugleich vor Augen, wie die Kontroll- und Abstraktionsstrategien der Wissenschaft und des Tierschutzes aussehen können. Sie entstammt einem Projekt, bei dem die Grafikerin Pascale Osterwalder in Kooperation mit einem Wildhüter aus Graubünden neue Datenvisualisierungen für einen mehr oder weniger ‚unsichtbaren‘ Wolf fand. Auf einer interaktiven Karte wurden dabei der Wildhüterrapport über Spuren und Sichtungen des Tiers mit entsprechenden Zeitungsmeldungen verknüpft (Abb. 3).

Auch jenseits der Gefühlswelten ist der Diskurs um das Tier im Verhältnis zum Menschen von allgemeinem übergreifenden Interesse. So lohnt es sich beispielsweise selbst für eine Tageszeitung wie die Süddeutsche Zeitung, eine regelmäßig erscheinende Rubrik mit dem Titel Artenvielfalt zu unterhalten. Letztlich aber folgen alle Überlegungen zur Biodiversität wie zu der ethischen Aufgabe des Menschen gegenüber dem Tier ein- und derselben Einsicht: dass das Tier immer noch Garant des menschlichen Lebens ist.

Wir danken Manuela Rossini sehr herzlich dafür, uns auf die Fährte der Tiere im gegenwärtigen Denken gesetzt zu haben, und wir hoffen, dass sich unsere Leserinnen und Leser gern der Spurensuche anschließen werden.

Zürich, im März 2014 Barbara Naumann

 

Fussnoten

1 Brensing, Karsten: Persönlichkeitsrechte für Tiere. Die nächste Stufe der moralischen Evolution. Freiburg i. Br.: Herder, 2013.

2 „Können Tiere denken? Fühlen Fische Schmerz? Ein Gespräch mit Markus Wild, dem Inhaber des Lehrstuhls für theoretische Philosophie an der Universität Basel“. In: Basler Zeitung, 9. 11. 2013.

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Abb. 1: Wolf M35 
fotografiert im Februar 2013 im Goms von 
Bauer Klaus Garbely.  
Aus: Walliser Bote, 25. 10.  2013.
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Abb. 2: Wolf M35 
fotografiert im Februar 2013 im Goms von 
Bauer Klaus Garbely.  
Aus: Walliser Bote, 25. 10.  2013.
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Abb. 3: Screenshot des Datenvisualisierungs-programms Wolfsspur, 2005. © Pascale Osterwalder, Georg Sutter