Editorial
Die Behauptung, der schweizerische Alpinismus sei keine schweizerische, sondern eine englische Erfindung, ist nicht an den Haaren herbeigezogen: Bereits mehrere Jahre, bevor in der Schweiz, im Jahr 1863, ein Alpenverein gegründet wurde, hatten sich enthusiastische britische Kraxler zum berühmten Alpine Club in London zusammengefunden. Zugelassen waren in Großbritannien nur Männer, und dies sollte sich auch bis weit ins 20. Jahrhundert, genauer: bis 1974 nicht ändern. Allerdings hatten die munteren Bergsteigerinnen der Insel sich unterdessen nicht abschütteln lassen und sich schon im Jahre 1907 zu einer unabhängigen Seilschaft, dem Ladies Alpine Club, zusammengeschlossen. So rückten die sportlichsten Abkömmlinge der einstigen Reisenden der „Grand Tour“, sei es in langen Hosen oder langen Röcken, beherzt auf die Gipfel vor. Was sie dort an sinnverwirrendem Schneegestöber oder atemberaubenden Veduten wahrnehmen konnten, das Überwältigende der Felsen und Gletscher, der Farben und Formen, hinterließ prägende Eindrücke nicht nur bei den Reisenden und Kletterern selbst. Einer der enthusiastischen Alpinisten war Sir Arthur Conan Doyle, der Erfinder des Sherlock Holmes. Er wollte seinen Helden am liebsten gar nicht wieder fortlassen aus dem Gebirge und bescherte ihm an den Reichenbachfällen ein rühmliches Ende im Zweikampf. (Dem gemeinsamen Schicksal von Conan Doyle und Sherlock Holmes ist ein Artikel dieses Heftes gewidmet.)
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Es scheint, als hätten die Besucher aus Großbritannien überhaupt erst die Erhabenheit der schweizerischen Landschaft entdeckt, noch bevor nämlich den Schweizern in ihrer Nahperspektive aufs Gebirge die Wahrnehmung der Landschaft als ausgezeichnete und noch dazu erhabene aufgegangen war. Aber auch zu Tal hinterließen die Besucher aus Britannia zahlreiche Spuren, indem sie Institutionen schafften, die nach der kräfteraubenden Kletterei wieder für die Annehmlichkeiten des Lebens sorgten und aus dem Leben der kleinen und größeren Gebirgsstädte wie Meiringen, Interlaken, Davos und vielen anderen lange Zeit nicht mehr wegzudenken sind: die Grand Hotels und – heute schon ebenso rar geworden wie in London selbst – die Tea Rooms.Â
Mehrere Beiträge dieses Heftes, vor allem diejenigen, die der jüngeren und jüngsten Literatur gewidmet sind, heben hervor, wie stark die Landschaft (und nicht Hotels, Tea Rooms oder andere kulturelle Errungenschaften) nach wie vor als Leitmetapher bei der Konstruktion gegenseitiger Wahrnehmung von Helvetia und Britannia dient. Dass eine Kultur zunächst über die Landschaft charakterisiert werden könne, muss keineswegs nur die Auffassung von Reiseführer-Autoren sein, wie die Artikel über die Schriftsteller Schertenleib und Lappert zeigen. Besonders wenn Länder an den Rändern des United Kingdom wie Irland, Wales oder Schottland zum Thema werden, macht sich in der Literatur ein erstaunliches Wahrnehmungskontinuum der Landschaftsbeschreibung breit, das die überdeutliche Abhängigkeit von den tradierten Mustern des 18. und 19. Jahrhunderts zeigt. Wenn man aber betrachtet, mit welcher Spitzfindigkeit Dorothy Richardson eine schweizerische Pension beschreiben konnte (Oberland, 1927), und mit welcher Sensibilität, Schnelligkeit und farblichen Raffinesse ein britischer Maler wie William Turner schon im 19. Jahrhundert die flüchtigen Licht-, Wasser-, Schnee- und Himmelsereignisse der alpinen Szenerien in die Form seiner Aquarelle zu bannen wusste, erkennt man die stilbildende, auf die Moderne bezogene Kraft dieser Auseinandersetzung. Da ist nichts Idyllisierendes, Verniedlichendes, da findet man keine Alpenmilchromantik. Wer diese sucht, muss heute nicht von Großbritannien in die Schweiz hinüber blicken und auch nicht in die Schweiz reisen, sondern eher nach Indien oder China.
Doch es gibt auch schon sehr frühe und prägnante Beispiele für eine andere, eine nicht auf die Landschaft bezogene Wahrnehmung: Wiederum lange bevor die britannischen Alpinisten die Alpen entdeckten, war ein Schweizer der kulturellen Faszination der britischen Bühnenspektakel erlegen. Der Basler Arzt und Anatom Thomas Platter war im Jahr 1599 nach London gereist und hatte das Globe Theatre besucht, um dort eine Aufführung des Stücks The Tragedy of Julius Caesar von Shakespeare zu anzuschauen (siehe dazu die Texte von Thomas Platter und Peter von Matt). Doch schon am Ende des 16. Jahrhunderts vermochten das große Spektakel, die Kleider- und Trinksitten die Neugier eines Besuchers mehr zu reizen als die Kunst. Dieser Blick aber, der das Aufreizende und Irritierende auf der Straße und in den Kaschemmen sucht, ist nicht nur der Blick des Fremden. Im Gegenteil: Die ersten literarischen Stadtbeschreibungen Londons aus der Feder von Bewohnern der Metropole stellen solche irritierende Aspekte ins Zentrum: Die Diaries des Samuel Pepys gehen auf das große Feuer im Jahre 1666 ein, und Daniel Defoes A Journal of the Plague Year […] 1665 nennt die Quelle von Tod und Verwüstung schon im Titel. „Die tatsächlichen und fiktiven Tagebuchschreiber jener Zeit versuchten dem Phänomen Stadt vornehmlich in Katastrophenzeiten beizukommen“, bemerkt dazu Rüdiger Görner. Das Bild Londons in der Literatur entsprach und entspricht, von Samuel Pepys über Charles Dickens und Virginia Woolf bis zu Will Self, nicht der Konvention der preisenden Stadtbeschreibungen, wie sie Rom, die herrlichste Stadt, ein für alle Mal gesetzt hat. Vielmehr hat sich eine ganz eigene, modern-katastrophische Form der Urbanitätsauffassung im literarischen London entwickelt. Sie wurde geradezu stilbildend für Europa – zumindest so lange, bis die Dichter in Paris, der ‚Hauptstadt‘ des 19. Jahrhunderts, eine ganz eigene Form des Schocks der Modernität entdeckten.Â
Die Erkundungen, die die Autorinnen und Autoren dieses Heftes in den Literaturen und der Alltagskultur von Britannia und Helvetia heute, also nach der Moderne durchgeführt haben, lassen einen erstaunlichen Umstand deutlich werden: Selbst unter globalisierten Bedingungen folgen literarische Befassungen mit dem jeweiligen anderen Land nicht selten einem romantischen Muster: dem der Landschaftserzählung. Die Landschaft scheint, trotz aller kulturellen Annäherung, immer noch ein literarischer Garant für etwas Länderspezifisches zu sein. Der Gegensatz von Stadt und Land, von Urbanität und Landschaft zeigt sich heute ebenso wirksam wie vor der und in der klassischen Moderne. Die Fremd- und Selbstbeobachtung unterliegt immer noch kulturellen und historischen Prägungen, die mindestens so alt sind wie die politischen Konstitutionsphasen der betreffenden Länder. Literatur und bildende Kunst erzählen genau davon: Als die privilegierten und differenzierten Darstellungsformen solcher Wahrnehmungen transportieren sie ein historisches Wissen, das in Europa nach wie vor wirksam ist.
Ein ganz besonderer Dank geht diesmal an die Max Geilinger-Stiftung, Zürich, die die finanzielle Unterstützung dieses Heftes zu ihrer Sache gemacht hat. Lorena Silos Ribas, Literaturwissenschaftlerin aus Barcelona und im vorletzten Jahr Geilinger Junior Fellow am Queen Mary College in London, ist die berufene Gasteditorin dieses Heftes. Ihr dankt die Redaktion herzlich für die sorgsame und inspirierte Zusammenarbeit über drei Länder hinweg.Â
Zürich, im Mai 2010
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1 Rüdiger Görner: London. Literarische Streifzüge. Unveränd. Neuausg. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2008, 24.