Kein gefallenes Mädchen. Keine Opfermutter. Kein Mutteropfer.
...aber in erster Linie erschreckte sie der Gedanke,
noch einmal ein Kind zu bekommen.
Gut genug, wachsam genug,
stark genug und so fürsorglich sein zu müssen – noch einmal.
So viel länger am Leben bleiben zu müssen.
O Gott, dachte sie, errette mich.
Wenn Mutterliebe nicht sorgenfrei war, brachte sie einen um. [1]
Es gibt Beschreibungen, die sind nicht dicht im Sinne von reichhaltig und komplex, sondern dicht in dem Sinne, daß sie die denkende Leserin regelrecht in sich einsperren, indem sie die Welt oder das Leben, die an Auswegen ohnehin nicht immer reich sind, vollends abdichten. Das Bemühen, die dichten Mauern solcher Beschreibungen zu durchbrechen, verbraucht die Kraft von Generationen Einzelner, die sich in ihren Selbstdefinitionen dagegen stemmen und die von diesem Sichstemmenmüssen noch lange nicht frei sind, auch wenn sich eine ganze philosophische Schule der (dekonstruierenden) Öffnung solcher Beschreibungen verschrieben und in diesem Zusammenhang sowohl die Ethik als auch die ‚Narration‘ mit guten Argumenten zu neuen Ehren gebracht hat. So wie nach Hegel einige bedeutende Philosophen mit aphoristischen Formen, die zwischen dialektischen Erörterungen und lyrischen oder quasilyrischen Erzählungen changierten, versuchten, Öffnungen in das allzu geschlossene philosophische System zu schlagen, ohne Geist und Sprache aufzugeben, so könnte es heute an der Zeit sein, in die allzu dichte und abdichtende Beschreibung der menschlichen Seele und der Beziehungen zwischen den Menschen, wie sie die Ökonomie, die Soziologie, die Biologie, die Fachpsychologie und die Psychoanalyse – und in allen diesen Bereichen des Wissens die genderorientierten Abteilungen – leisten, Öffnungen zu bringen, die uns einzelne kleine Versagerinnen oder Kämpferinnen noch ein bißchen leben und sprechen lassen.[2] Hinsichtlich des Themas „Mutterkonzepte“ kann ein solcher Versuch als geradezu staatstragend angesehen werden, solange es ein staatliches Interesse daran gibt, daß Kinder geboren und großgezogen werden. Denn unter all den einander widersprechenden oder durch schiere Kumulation unmöglich machenden Anforderungen, die an Mütter von außen und von innen, von Kindern und von Vätern, Großmüttern, Lehrern, Ärzten, Psychologen, Arbeitgebern, Freundinnen und Politikern, aber nicht zuletzt auch von ganz eigenen Ansprüchen, Wünschen und Erschöpfungen gestellt werden, droht bei Frauen, die Mütter werden, die innere Stimme zu verstummen, und bei Frauen, denen ihre eigene Stimme lieb ist, die Lust auf und an Mutterschaft zusammenzubrechen – „und plötzlich hört Venedig auf zu sein“.[3] Wenn aber eine Lust auf Mutterschaft nicht mehr aufkommen kann, weil offenkundig nur sehr opferbereite Menschen vielleicht imstande wären und sich zutrauen dürften, für die lange Zeit, in der Kinder eine Mutter haben sollten, annähernd gut genug zu sein, dann gibt es weniger Kinder, und – ein oft vernachlässigter Aspekt – unfrohe dazu. Dieser Zustand ist in der westlichen Welt und speziell in Deutschland trotz beachtlicher Maßnahmen der Politik ziemlich weit fortgeschritten. Bereits 1985 schrieb die Philosophin Christina von Braun über die Gründe
Die Geburtenraten werden offensichtlich von ganz anderen Faktoren gesteuert als jenen, mit denen Politiker sie zu beeinflussen versuchen, und je größer der Einfluß ist, den eine übergeordnete Instanz auf die Mütter und Väter auszuüben versucht, desto geringer scheint der Erfolg zu sein. Die Geburtenraten, so möchte ich sagen, werden weitgehend bestimmt vom Selbstbild jener, die sich in ihren Kindern reproduzieren möchten. Sie werden gesteuert vom Wunsch, ja der Lust, sich selbst zu spüren. Je entwerteter das Selbstbild ist, desto geringer wird auch das Verlangen danach, sich zu reproduzieren. Je weniger man sich seiner Grenzen, seiner Existenz sicher ist, desto mehr wird man auch davor zurückschrecken, die verschwommenen Ich-Grenzen durch ein Kind zusätzlich aufweichen zu lassen.[4]
In eine ähnliche Richtung zielt ein Beitrag von Katharina Rutschky zur neuesten Debatte um die Kinderunlust der Deutschen vom März diesen Jahres. Sie geht noch ein wenig weiter als von Braun in der Benennung einer historischen Dimension der Sache:
Auch wenn man gelernt hat, Statistiken, Umfragen und Dunkelziffern gründlich zu misstrauen, lässt sich nicht bezweifeln, dass eins der reichsten und gewiss sichersten Länder der Welt – wenn auch nur um Dezimalstellen hinterm Komma, verglichen mit Schweden und Frankreich – hinsichtlich der Geburtenquote seit langem ganz unten rangiert. Zusammen mit Deutschland versammeln sich da unten in den Surveys Italien, Japan, Spanien – Portugal und Griechenland sind später noch dazugestoßen: alles Länder, die in ihrer jüngsten Geschichte mörderische, kriegerische, totalitäre und autoritäre Regime durchzustehen hatten. […] Kann jemand im Ernst glauben, dass die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts (mit Abstrichen die der anderen genannten Länder) keine Spuren, keine Wunden und Verwerfungen im Generationenvertrag hinterlassen hat? Der seelische Vertrag, betreffend katastrophische Erfahrungen und ungeheure Schuld, ist bedeutsamer und wirkungsmächtiger als jener, den Adenauer mit der Umlagefinanzierung der Rentenversicherung 1957 ausrief und dessen Nichteinhaltung am Anfang der gegenwärtigen Debatten um die Geburtenquote stand.[5]
Die schweißtreibende Vorstellung, die in Deutschland seither eine umstandslose Begeisterung für die Mutterschaft nachhaltig behindert, ist die der Opfermutter. Für ihre aufopfernde, sich selbst und die Kinder einem absurd pervertierten, verbrecherischen, staatlich verordneten‚ Ideal‘ opfernde Haltung bekommt sie ein Mutterkreuz, und zum Dank begeistert sie sich für einen geisteskranken Führer, der andere, nichtarische oder politisch widerständige Mütter mitsamt ihren Kindern zu Tausenden metzeln läßt. Dieser seinerzeit in Schützengrabenschnulzen wie Gute Nacht Mutter besungenen Opfermutter gegenüber werden in dem mehr oder weniger gelingenden oder mehr oder weniger hilflos scheiternden Versuch, eine freie demokratiefähige autonome Weiblichkeit zu konstruieren, manchmal schneidend kinder- und mütterfeindliche Vorstellungen idealisiert. Daß es überhaupt so etwas wie eine Triebgrundlage für den Wunsch nach Kindern und den Impuls, sie zu versorgen, gebe, muß bestritten werden, der Gen-Egoismus bespöttelt, der notorische Eleganzverlust stillender Mütter süffisant und angewidert als „Enterotisierung“ beschrieben, das halsbrecherisch erschöpfende Gezappel der sogenannten Karrierefrauen als Rabenmuttertum abgekanzelt werden, und manchmal hat man den Eindruck, ein weibliches ‚Subjekt‘ wird aus einer Mutter heute im richtigen Leben wie in den entsprechenden Dramen und Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts erst, wenn mal eine ein Kind getötet und also die selbstverständliche Grundlage aller dieser (kindlichen, nämlich aus der Perspektive ehemaliger Kinder von Müttern vorgenommenen) Beschimpfungen, die Annahme, daß eine Mutter trotz allem ihr Kind durchzubringen versucht, zerstört hat.
Auch das große Mißverständnis, der Kampf um Liberalisierung der Abtreibung sei bereits ein Befreiungskampf gewesen, scheint mir in dieses Problemfeld zu gehören. Die Debatten um dieses Thema sind politisch weiterhin derartig aufgeladen, daß man sie lieber vermeidet, wenn man nicht die Zeit hat, sie sehr umsichtig und ausführlich darzustellen. Es sei hier darum nur bemerkt, daß es vom strikten Verbot und dem Versuch, die Fortpflanzung auf Kosten der Mütter durchzusetzen, über die Parole „mein Bauch gehört mir“ bis zu den einsichtigen Äußerungen eines Ratsvorsitzenden der EKD, der die Freude am Kind nicht gegen die Frauen, sondern mit den Frauen erreichen will, ein langer Weg war und daß unter westlichen Intellektuellen die Verkaterungen nach den verschiedenen Meinungsräuschen ebenso anzuhalten scheinen wie diese (an manchen Orten der Welt immer noch in Bluträusche umkippenden) Rigorismusexzesse selbst.
Gefallene Mädchen, gefallene Kinder, gefällte Urteile
In Neuberesinchen, einem Stadtteil von Frankfurt an der Oder, waren im Juni 1999 zwei Kleinkinder 14 Tage lang in ihrer Wohnung eingesperrt. Die Mutter war unterwegs, besuchte ihren Freund, kein Vater in der Nähe. Als die Mutter zurückkehrte, waren die Kinder elend verstorben. Empörung und Unverständnis über den Tod dieser verlassenen Kinder trieben die Menschen scharenweise in den Gerichtssaal, und wie in den vergangenen Jahrhunderten darf eine solche Frau allenfalls auf die etwas verständigere Neugier der Künstler hoffen. Der Film Die Kinder sind tot (Aelrun Goette, Deutschland 2003) zeigt nach Auskunft der Beschreibung
eine Welt, die von der Gesellschaft abgeschrieben und sich selbst überlassen ist. Er beschreibt das Leben zerrissener Menschen, die versuchen, mit einer Schuld zu leben, der sie nicht entrinnen können. Und er setzt sich mit dem Verhältnis von der Täterin zu ihrer Mutter auseinander, eine Mutter-Tochter Tragödie [sic], die die intimen Hintergründe der Tat beschreibt.[6]
Diese Tat war im wörtlichen Sinne eine Untat: Die Mutter der Kinder verweigerte die Taten, die täglich zu tun sind, damit kleine Kinder leben und wachsen; sie setzte nach eigenen Aussagen darauf, daß ihre Mutter, die in der Nachbarschaft lebte, sich schon um die Kinder kümmern werde, und ging zu einem Mann, in den sie verliebt war. Das gesunde Volksempfinden‘ empört sich hier wie immer in solchen Fällen besonders darüber, daß eine Frau aus (unwürdiger) Liebe zu einem (unwürdigen) Mann ihre Pflichten gegenüber Kindern versäumt. Die sattsam bekannte Ausspielung des einen Frauenbildes gegen das andere, also das der heiligen, sich selbst und vor allem ihre auf Männer gerichteten erotischen Impulse aufopfernden Mutterfrau gegen die Vorstellung der zügellosen, pflichtvergessenen Hurenfrau, der ihre Männergeschichten wichtiger sind als ihre Kinder, hat vermutlich nicht nur bei den Bildungsfernen bisher alle Analysen überlebt. Auf ihre hilflose und entsetzlich folgenschwere Weise scheint die junge Mutter in Neuberesinchen dagegen aufbegehrt zu haben – das könnte sie für ‚uns‘, die privilegierten Frauen, denen so etwas Schreckliches nicht passiert ist, interessant machen. Wenn man ihre Mutter im Film reden hört, ist man tatsächlich in Versuchung, an deren Mitschuld zu glauben und die Sache zu einem schematisch psychologisierbaren Mutter-Tochter-Konflikt auszubauen, denn viele ihrer Sätze klingen so, daß das Wort ‚böse‘ nicht fern liegt, gegen das der ökonomisch-biologisch-soziologisch-psychologische Sprachapparat immer noch ziemlich hilflos ist. Und doch will mir scheinen, es gehe in dem ganzen schrecklichen Geschehen vor allem um eine nicht recht klagbare, gewaltige Abwesenheit, eine über Generationen weitergegebene Abwesenheit liebevoller Zuwendung und Anerkennung, die nicht nur ein Problem von Müttern und Töchtern ist, sondern etwas am Lebensnerv aller Kultur und aller Kulturen berührt und dann wohl auch die in den konkreten Fällen immer bis zur Unbelastbarkeit abwesenden Männer, die doch so viel weibliche Energie absaugen, mit trifft.
Von einer Mutter wird immer und überall erwartet, daß sie liebevolle Zuwendung zu ihrem Kind und eine minimale Anerkennung seiner bedürftigen Anwesenheit aufbringt, egal, woher sie selbst diese Güter nehmen soll. Mir ist klar, daß auch diese Behauptung als ‚historisch‘ und ‚interkulturell‘ relativiert gilt. Belege dafür muß man nicht erst in der Tatsache suchen, daß noch die Tötung von Medeas Kindern erst in der Neuzeit in den Mittelpunkt aller Interpretationen der antiken Tragödie rückte. Wie ich glaube, hängt dieser Wandel in der Medea-Rezeption allerdings damit zusammen, daß man in der Neuzeit zum ersten Mal und einzigartig in der Welt selbst noch die Mutterliebe für etwas hielt, das von ‚dem Menschen‘, der sie ‚macht‘, abhängig sei. Ich finde gegen diese Annahme keine Vernunftgründe – aber glauben kann ich sie nicht, auch heute nicht. Weniger im (als Gegenstand männlichen Gebärneides inzwischen auch ausreichend thematisierten) Prozeß des Austragens und Gebärens und viel mehr vermutlich in der täglichen Kleinarbeit an dem Projekt, eine Mutter zu sein, die gut genug für ihre Kinder sorgt, finden sich immer noch viel zu viele Mütter ganz unfreiwillig in der Rolle einer ‚Schöpferin aus nichts‘, die sie real nur kümmerlich ausfüllen können. Das gilt für viele Regionen der Welt schon materiell, und es gilt für die hiesigen westlichen Kulturen oft genug emotional. Während man den Müttern durch fieberhafte Forschungen auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin ihr ‚Gebärmonopol‘ und die damit assoziierte ‚Macht‘ (eine Macht, die wohl nur der neidische Blick der Nichtgebärenden als solche konstruieren kann, aber darin ist er offenkundig ernstzunehmen, daraus speist sich der Zwang zur radikalen ‚Entmächtigung‘ der Gebärerinnen, der es noch stets geschafft hat, diese in erbärmliche Abhängigkeit zu nötigen) bald abgejagt haben wird, zwingt man sie sozial weiterhin, Stroh zu Gold zu spinnen, Liebe aus nichts zu erschaffen und auf diese Weise in die fürchterliche mentale Überlegenheit der ökonomisch und rechtlich Unterlegenen zu kommen, die dann den neidgeborenen Demütigungsprozeß weiter antreibt. Man kann diesem Mechanismus unter den Bedingungen des Liberalismus im Westen ganz gut entgehen, indem man auf Wonnen und Plagen der Mutterschaft ganz verzichtet oder sie so schnell wie möglich delegiert. Hat man beides nicht geschafft und ist man dann noch so schlecht ausgestattet (materiell und/oder emotional), daß man seine Kinder wirklich nicht durchbringen kann, kommt es zum Kindstod-Eklat, für den ein Mutteropfer als Sühne gefordert zu werden pflegt.
Alle in sich heterogenen kulturellen Weisen, das Problem der Zweigeschlechtlichkeit der Menschen und das Problem der extrem langen Hilfsbedürftigkeit der Menschenkinder zusammen mit ihrer Formungsoffenheit zu regeln oder gar zu lösen, scheinen die Mutter zu ihrem Anfangs- und Endpunkt zu haben, denn sie scheint die belastbarste Stelle zu sein: das Wesen, das zuletzt aufgibt. Entsprechend ist der Fall, in dem sie aufgibt, genau der Fall, an dem ein Bedarf an Neuerung schreiend zutage tritt und zum Thema kultureller Produktion wird.
Wenn man in der hebräischen Bibel eine von zwei Hauptquellen der europäischen Kultur sieht und in der griechischen Philosophie- und Tragödientradition die zweite, dann kann man zwei verschiedene Gründungsgeschichten einer patriarchalischen Kultur lesen, welche eine frühere, stärker mütterorientierte, wenn auch wohl nicht in einem der patriarchalischen irgendwie komplementären Sinne ‚matriarchalische‘ Kultur mit recht drastischen Maßnahmen abgelöst zu haben scheint. In beiden Fällen stünde am Beginn einer solchen Ablösung nicht ein Vatermord (diese Vorstellung gehört ganz ins Innere einer patriarchalischen Weltordnung, in der Frauen nicht mehr als Agierende, sondern nur noch als Belohnung, um die gestritten wird, vorkommen), sondern eine Narration über Kindstötungen. In diesen Narrationen wollen Frauen aufgrund eifersüchtiger Leidenschaften ihre bzw. die Kinder ihrer Männer sterben lassen oder direkt töten. Eine moralische Lehre aus diesen Erzählungen scheint zu besagen: Damit das nicht wieder vorkommt, müssen „von nun an“ Frauen von Männern dazu gezwungen werden, ihre Kinder oder die Kinder der Rivalin nicht zu töten, sondern zu versorgen.
Unter diese Vorgabe lassen sich sowohl die Geschichten von der wunderbaren Rettung Ismaels und Isaaks in Gen 21 und 22 als auch die Geschichte der Medea in der Version von Euripides lesen. Beide Texte sind nun nicht etwa Texte aus einem Matriarchat. Sie scheinen vielmehr an einer Schwelle zu stehen, denn sie bezeugen einen weiblichen Protest gegen Geltungsverlust und mangelnde Anerkennung durch Männer. In beiden Texten haben Frauen auf die eine oder andere Weise ihre Ehre geopfert, und zwar nicht – wie in den europäisch-neuzeitlichen Texten zum Thema – indem sie sich dem falschen Mann hingaben, sondern indem sie für ihren Mann ihr Vater- bzw. eben ihr Mutterhaus verließen (Medea) oder indem sie aus Sorge um ihn auf die Exklusivität der Beziehung zu ihm verzichteten. Für diesen Ehrverlust fordern sie in den Erzählungen einen Ausgleich, den sie bereit sind, auch um den Preis des Lebens von Kindern durchzusetzen.
Medea wird von Jason wegen einer jüngeren Frau verstoßen, so daß sie, die für ihn ihre Familie und die – mit der Mutterschaft auch die Freiheit und Würde der Mutter schützende – Matrilokalität[7] verlassen hatte, nun heimatlos und entehrt ist. Als einzige Möglichkeit der Rache sieht sie in dieser Lage den Tod seiner Nachkommen, ihrer Kinder. Euripides läßt ihre widerstreitenden Gefühle ausführlich zu Wort kommen. Ihr von göttlicher Herkunft stammendes Ehrgefühl besiegt noch einmal das Muttergefühl, aber eben indem die Gefühle so ausdrücklich miteinander streiten, wird auch festgeschrieben, daß die bloß menschlichen Frauen im Regelfall des Erdenlebens als Geiseln des Muttergefühls der Willkür der Männer ausgeliefert bleiben, wenn sie nach Durchsetzung der Patrilokalität ihre Kinder im Haus des Mannes großziehen wollen. Die Tragödie scheint einerseits noch eine Klage hierüber zu artikulieren, andererseits – schon in der stets mit einem guten Schuß Geringschätzung und Entrechtung gewürzten patriarchalischen ‚Fürsorglichkeit‘ – die Notwendigkeit zu unterstreichen, daß die Leidenschaften der Frauen zum Schutze der Kinder gezügelt werden müssen.
In der biblischen Vätergeschichte hat David Bakan ebenfalls den Übergang zumindest von Matrilokalität zu Patrilokalität ausmachen wollen.[8] Aus Liebe zu Abraham und in dem Wunsch, diesem Nachkommen zu bescheren, die sie innerhalb ihrer Liebesbeziehung aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit ihm nicht schenken kann, verführt Sarai ihren Mann zur Polygamie: Sie „gibt ihm“ ihre Dienerin Hagar, damit er mit ihr Nachkommen habe. Aber sie erträgt diese Demütigung schlecht. Als sie selbst doch noch einen Sohn geboren hat, verlangt sie, daß Hagar und Ismael in die Wüste geschickt werden. Abraham gibt ihr nach, bekommt aber von seinem Gott das Versprechen, daß sein Sohn Ismael nicht getötet werden wird. Mit dieser Geschichte kann der verbleibenden Familie von Abraham, Sarah und Isaak aber auch kein Frieden gegönnt sein. Der Gott, der Ismael in Abwesenheit gerettet hat (zusammen mit Hagar, auf die es so gar nicht ankommt, eine Hierarchiegeschichte von herrschaftlichen Frauen und Dienerinnen innerhalb einer selbstverständlichen Polygamie und ihren Rivalitäten, die sich in der späteren Erzählung von Leah und Rachel in gespenstischer Doppelung wiederholt), hat bereits, als er die Geburt Isaaks verhieß, Abraham aufgefordert, Sarai nicht mehr Sarai („meine Herrin“) zu nennen, sondern Sarah (durch das ,h‘ kommt ein Element des Gottesnamens in ihren Namen, zugleich ein weibliches Possessiv-Suffix in der dritten Person). Ihre Macht wird in der Folge gebrochen, indem der einzige Sohn ihr entrissen und auch noch vom Vater als Opfer gefordert wird. Er wird dann dem Vater wiedergegeben, nachdem der seine Bereitschaft gezeigt hat, ihn zu opfern. Von einem Wiedersehen mit Sara wird nicht berichtet. Was man als nächstes über Sara hört, ist, daß sie stirbt. Dies hat Auslegern bis hin zu modernen Schriftstellern immer wieder Anlaß gegeben zu sagen, sie sei aus Kummer über den geforderten Tod des Sohnes, von dessen Rettung sie nichts gewußt haben kann, gestorben oder habe sich gar das Leben genommen.[9] Indem Isaak ihr genommen wird, wird sie für ihre Hartherzigkeit gegen Ismael (und Hagar, auf die es aber ja nicht ankommt) bestraft. Fortan sind weibliche Liebe und weibliche Fruchtbarkeit gemeinsam und konkurrierend in einer polygamen Struktur auf einen Mann bezogen. Dieser muß die um seine Gunst entstehenden Konflikte mit Hilfe seines Gottes so lösen, daß alle Nachkommen gut versorgt sind. Der Gott ist manchmal noch dafür zuständig, die Frauen zu belohnen oder zu bestrafen, zu trösten oder zu verwerfen. Bei dem Sohn Isaaks, der zu Israel wird, sind die Funktionen der Frauen schon deutlich aufgeteilt: Die Geliebte ist unfruchtbar, die Ungeliebte ist fruchtbar. Beide müssen, bevor sie fruchtbar werden, sich zuvor demütigen wie Sarai, indem sie ihrem Mann jeweils eine Magd geben, die für sie gebiert. Anders als Sarai/Sarah behalten Lea und Rahel ihre Mägde danach bei sich, und deren Kinder werden in den Zwölfstämmebund aufgenommen. Gerechtigkeit besteht darin, daß zuerst die ungeliebte Frau mit eigener Fruchtbarkeit belohnt wird, und erst nach ihr – nach langem Warten – auch die geliebte Rachel. Die Mägde, die zuvor auch für sie gebären, werden namentlich genannt und können froh sein, daß sie bleiben dürfen. Die ‚privilegierteste‘ Frau aber, die Geliebte Jakobs und Mutter seiner beiden Lieblingssöhne, muß nach der Geburt des zweiten Kindes sterben. Geliebte des Mannes und Mutter seiner Kinder zu sein, das ging vielleicht schon auf dieser frühen Stufe schlecht zusammen. In der langen Zeit des Patriarchats, die sich ihrem Ende zuzuneigen scheint, ohne daß schon eine wirkliche Alternative in Sicht wäre, wird die Mutter der Kinder eines Vaters von diesem als Geliebte wohl immer noch oft ‚geopfert‘. Die Ausspielung von Mutterliebe gegen Männerliebe und Männerliebe gegen Mutterliebe in den literarischen Gestalten der Kindsmörderin ebenso wie in der Darstellung der Medien reagiert hier vermutlich auf ein Opfermuster der Wirklichkeit. Ob für Gretchen in Goethes Faust oder Hetty in George Eliots Adam Bede: Die verständliche, aber auch als egoistisch-obsessiv beschriebene Liebe zur Liebe des Mannes ist in beiden Klassikern der neuzeitlichen Kindsmordliteratur die Kraft, die die Frauen an der selbstlosen Hingabe an das bedürftige Kind hindert.
Daß die Liebe zum Kind und die Liebe zum Mann miteinander in Konkurrenz treten, wird aber möglicherweise eher durch eine Erwartungskollision der Männer ausgelöst als durch eine Unmöglichkeit auf der Seite der Frauen. Hierzu sei zur Abwechslung einmal nicht eine psychoanalytische Deutung in feministischer Absicht zitiert, sondern ein Beitrag aus der neuesten Kinderdebatte in Deutschland. In DIE ZEIT vom 6. 4. 2006 schreibt Ulrich Greiner:
Nichts ist einem Mann unheimlicher als die Geburt. Die Frau, die ihm eben noch zutrauliche Gespielin war, verwandelt sich nun in eine immer fremdere Gestalt. An diesem Bruch können die überall angebotenen Kurse nichts ändern. Der Mann wird, wenn sich die Frau zu ihrer Andersheit bekennt und alles, was damit zusammenhängt, austrägt und aushält, bereit sein, seine alte Rolle als entsagender Beschützer zu übernehmen.[10]
Was nun folgt, zitiere ich nicht. Es ist eine ambivalente Klage darüber, daß die Frauen dem Mann für seine Bearbeitung des Problems die emotionale Grundlage entzögen, indem sie allzu schnell darauf bedacht seien, den status quo ante wiederherzustellen. Man wird mit dem Gegenteil zu rechnen haben: Die neue Frauenbewegung entstand nicht in einer Zeit, in der im Grunde gutmütige Familienväter massenhaft schützend und entsagend für ihre Familien sorgten, in welchen liebevolle Mütter kleiner Kinder mit Lust ihr Anderssein austrugen und dafür auf gesellschaftliche Macht verzichten konnten, da ihr Mann sie ja versorgte und schützte, wofür sie sich bedankten, indem sie für ihn und die gemeinsamen Kinder sorgten. Die neue Frauenbewegung wurde groß, weil zum Überleben nötig, als ganze Generationen von Männern nicht einmal mehr diese minimale Verantwortung für ihre Familien aufbringen wollten, nicht einmal mehr die für intelligente Frauen immer schon unerträgliche ‚Ich-will-ihr-nicht-wehtun‘-Polygamie für die Zeit der Kinderaufzucht durchhielten, sondern sich so kühn und forsch wie larmoyant als verantwortungslose Dauersöhne in einem Selbstbedienungsladen von bunten Weibchen zu tummeln wünschten, welche schließlich dank Pille und Abtreibungsfreiheit nicht einmal mehr die Mutterschaft zu fürchten und also auch aus dieser Furcht keine Ansprüche an Männer mehr geltend zu machen hatten. Was blieb den Frauen also anderes, als den Beweis zu suchen, daß sie alles, was ‚der Mensch‘ können muß, auch können, vom Fliegen bis zur stillen ‚Ich-will-ihm-nicht-wehtun‘-Polygamie? Niemand verursacht eine alles erschütternde ‚Bewegung‘, schon gar nicht Frauen, schon gar nicht die, die gern mit Kindern leben und entsprechend ihre schnell einsetzende Abhängigkeit kennen, die deswegen auf stabile Verhältnisse angewiesen und entsprechend erschöpft sind, gerade diese verursachen keine alles erschütternde Jahrhundertbewegung und liefern sich auch keiner aus, wenn nicht der Druck unerträglicher Verhältnisse, in denen nicht einmal Schreien und Wehtun mehr helfen, sie dazu treibt.
„The Changing of the Guards“[11]
Eine völlig andere Darstellung eines von der Mutter verantworteten Kindstodes ist in der Figur der Sethe in Toni Morrisons Beloved verwirklicht.[12] In diesem Roman, der wie die anderen genannten einen historisch verbürgten Stoff bearbeitet, tötet die entlaufene Sklavin Sethe ihr Kleinkind, um zu verhindern, daß es mit ihr gemeinsam zurück in den Besitz eines einzigartig grausamen Sklavenhalters gebracht wird, der sie auf die abscheulichste Weise mißhandelt hat. Der Roman verarbeitet die Geschichte von Margaret Garner, deren Fall 1856 die Gemüter erschütterte und den Chronisten Levi Coffin (Coffin gehörte einer Organisation gegen die Sklaverei an und war selbst an Fluchthilfen beteiligt) zu dem folgenden Resümee veranlaßte: „The Society managed to turn infanticide and the cry of savagery around, and build a further case for abolishing slavery.“[13] Hier ist das Motiv für die Tötung des Kindes nicht verzweifelte und hoffnungslose Liebe zu einem Mann wie in den beiden europäischen Beispielen, sondern die verzweifelte Liebe zum Kind selbst – und zugleich der verzweifelte Haß auf die Unfreiheit. Mir scheint, daß mit diesem auch in seiner Sprache ganz einzigartigen Werk eine bahnbrechende Kulturleistung gelungen ist, um deren Hervorbringung feministische Philosophie seit einigen Jahrzehnten streitet. Denn dieser Kindsmord findet nicht in der gedemütigten individuellen Situation eines entehrten und gesellschaftlich nicht ‚zählenden‘ Dienstmädchens statt, das durch diese Tat in den Mittelpunkt negativer Aufmerksamkeit gerät und auch das noch verliert, was es hatte, sondern er hat zugleich die Würde einer ‚Massadah-Handlung‘[14] und die psychologische Plausibilität einer Mutterliebe, bei der in der Liebe zum Kind auch etwas von einer stolzen Selbstliebe mitschwingt, die sich gegen alle Erniedrigung behauptet. Der verzweifelte Stolz Sethes verdankt sich sicher vor allem der Tatsache, daß der feindseligen Sklavenhaltergesellschaft, der das Kind selbst um den Preis seines Todes nicht ausgeliefert werden soll, ein Kollektiv von Gegnern gegenübersteht, so daß er also wenigstens einen kleinen sozialen Rückhalt hat. Der Feind, dem das getötete Kind nicht ausgeliefert werden soll, ist in diesem Fall auch der Feind der Männer, weil die für alle wichtige Grenze zwischen Schwarzen und Weißen bzw. zwischen Befürwortern und Gegnern der Sklaverei verläuft. Und doch erweist sich auch in diesem Roman die Grenze zwischen Männern und Frauen zunächst als eine gleichermaßen definitive. Nur entwickelt sich die Beziehung zwischen Sethe und ihrem Freund Paul D praktisch in Umkehrung zu dem Schema etwa von Adam Bede und eröffnet am Ende eine ganz andere Aussicht. Während Hetty im Roman von Eliot als kleines, vom jungen Herrn verführtes Dienstmädchen sich Hoffnungen auf ein Leben mit diesem Herrn macht und die verläßliche Liebe des Helden der Geschichte verschmäht, ist Sethe so etwas wie eine relativ privilegierte Sklavin, die unter den Mitsklaven als junge Frau selbstbewußt ihren Mann wählt. Während die in der Sklavenhaltergesellschaft üblichen Verhältnisse ringsum geschildert werden, in denen Kinder ihren Müttern und Frauen ihren Männern entrissen werden durch die Hände der weißen Herren, kann Sethe gemeinsam mit dem von ihr gewählten Mann und unter dem Segen seiner Mutter eheliche Kinder gebären und mit ihnen leben. Daß dieses Leben schwierig ist, weil sie die weiße Herrin zu betreuen hat, der stets mehr Aufmerksamkeit zu widmen ist als den eigenen Kindern, ändert nichts daran, daß sie relativ privilegiert lebt, solange sie mit Mann und Kindern unter einem Dach leben kann – bis nach dem Tod des vergleichsweise gutwilligen Herrn ein neuer Besitzer auftaucht, der alle Sklaven so brutal mißhandelt, daß diese beschließen zu fliehen. Auf der Flucht verliert Sethe ihren Mann und bringt ihr jüngstes Kind zur Welt, mit dem sie bei der Mutter ihres Mannes in einem freien Haus lebt.[15]
Anders als in Adam Bede, wo die Predigerin die fromme liebe Frau ist, mit der Adam lebt und Kinder hat, nachdem seine ihn verschmähende Jugendliebe (die von der Autorin bisweilen noch in ihrer Not für ihre Selbstbesorgtheit getadelt wird) unter seinen gutmütig besorgten Augen das schändliche Ende einer Kindsmörderin gefunden hat, ist bei Morrison die Schwiegermutter die Predigerin: „Baby Suggs“ ist Morrisons Name für eine Frau, der es im Leben hinsichtlich ihrer Kinder und ihrer Freiheit schlimmer ergangen ist als selbst der mißhandelten Sethe, und Baby Suggs ist eine Predigerin, die mit ihren Predigten versucht, einer großen Gemeinde jenen Selbsthaß auszutreiben, der das Erbe der Sklaverei ist, eine Predigerin, die erst aufgibt, als Sethe den Folterer, der sie aufgespürt hat, „aufhält“, indem sie ihm ihr getötetes Kind entgegenhält. Nach dieser Szene legt sich Baby Suggs ins Bett und denkt über Farben nach – eine von vielen kraftvollen kulturhistorischen Metaphern, die aber hier nicht weiter besprochen werden können; hier geht es um die Frage der Opferung von Mutter oder Kind.
Man könnte meinen, dies sei nun ein Fall, in dem eine Mutter ihr Kind nicht für eine unwürdige Liebe und nicht für einen übermäßigen, zum Wohle aller Kinder zu demütigenden Stolz, sondern für die Freiheit opfere. Dies ist vielleicht der Fall – und ist es doch zugleich nicht. Auf der Handlungsebene kehrt das getötete Kind wieder, zuerst als Gespenst, dann beleibt und sich weiter beleibend auf Kosten einer schrumpfenden Mutter. Der Freund der Mutter geht und kehrt am Ende auch wieder. Die Menschen des Ortes rotten sich zusammen, aber nicht, um Sethe zu opfern, sondern um sie von dem Gespenst ihres toten Kindes zu befreien. Die auf der Flucht geborene Schwester des getöteten Kindes findet einen Weg, ihre Familie zu erhalten, indem sie sie verläßt, sich Arbeit sucht und in einigen sehr anrührenden Szenen ‚zur Sprache‘ und damit auch ‚zur Welt‘ kommt. Sie ist es, die die abgerissene Verbindung zwischen dem vom Spuk verfolgten Haus Sethes und der menschlichen Welt wieder herstellt. Anders als in den Kindsopfer-Lehrstücken der Frühzeit, aus denen zu folgern war, daß der Mutterstolz gebrochen werden mußte, damit väterliche Fürsorge Platz greifen konnte, und anders als in den Tragödien von Gretchen und Hetty, an deren schauerlichem Schicksal die Zuschauer doch zur menschlichen Reife gelangten, so daß sie schließlich – auf Kosten der Mütter und der Kinder – mit sich und ihrem Gott versöhnt leben konnten, anders auch als im zeitgenössischen Realdrama, in dem die hilflos, ratlos und sprachlos bleibende Mutter der toten Kinder im Gefängnis sitzt und dann und wann zur erneuten Begutachtung hervorgezogen wird, anders als in allen diesen Fällen wird in der scheinbar ungeordneten, teils magischen, teils biblischen Sprachwelt von Morrisons Roman Beloved in einem komplexen Prozeß von Entgrenzungen und neuen Grenzziehungen aus einer gespenstischen Wiedergängerei schließlich eine Erinnerung, die den überlebenden Figuren, einer Mutter, einer Tochter und einem ihnen verbundenen Mann, kleine, hoffnungsvollere Auswege zu versprechen scheint.
Wollte ich trotzdem, und weil ich mich darauf verließe, daß ich mit einem substantialisierenden oder moralisierenden Satz den Frieden dieser literarischen Figuren nicht mehr stören kann, einen solchen Satz versuchen, müßte er wie folgt lauten: Morrison findet eine neue, befreiende narrative Sprache für eine ‚neue‘ Idee, die in ihrer uralten Einfachheit offenbar seit unzähligen Generationen für viele Menschen so unerträglich ist wie an einer wichtigen Stelle des Buches die Augen von Sethe für ihren Freund Paul D: In dieser Idee ist eine Mutter ein denkender und fühlender Mensch, der Freiheit, Liebe zu einem Mann (und, nichtzu vergessen, zur Liebe eines Mannes) und Liebe zu den Kindern miteinander zu verbinden wünscht. Gerade als Mutter kann ein solcher Mensch jener wohlbekannten und hochgemuten Empfehlung Winnicotts folgend am besten dann ‚gut genug‘ sein, wenn sie laut und deutlich „ich“ sagen darf, ohne dafür erschlagen zu werden. In dem Roman ist es am Ende ausgerechnet der Mann, der der Frau zu diesem Ich verhilft, aus Dankbarkeit dafür, daß sie ihm zu seinem verholfen hat. Nach seinen Durchgängen durch viele Ängste, Lüste und immer noch zu harte Urteile scheint dieser ehemalige Sklave zu verstehen, daß er nicht seine Kinder (oder ‚sich‘) vor einer als allmächtig bis mordlustig imaginierten Mutter zu schützen hat, sondern daß er besser eine durch ihre Liebe zu den Kindern (die hier gar nicht seine sind) den Mächten der Selbstentwertung und Überforderung stark ausgesetzte Frau gerade in ihrer Widerstandskraft stützen sollte – und daß das auch ihm sehr gut tun kann.
In der harten Zeit zwischen dem Grauen des Anfangs der Geschichte und dem Aufscheinen der neuen Utopie von Versöhnung zwischen Müttern, Kindern und Männern geht Sethe mit ihrem lebenden und ihrem vorübergehend beleibten Wiedergängerkind aufs Eis:
Falls jemand sie bemitleidete, falls jemand vorbeikäme, um herein-zulugen und nachzuschauen, wie sie zurechtkam (einschließlich Paul D), so würde er entdecken, daß die Frau, die zum dritten Mal auf den Abfallhaufen geworfen worden war, weil sie ihre Kinder liebte – daß diese Frau fröhlich auf einem zugefrorenen Bach dahinschwebte.
Eilig und sorglos warf sie die Schuhe durcheinander. Sie erspähte eine Kufe – ein Männerschlittschuh.
„Na schön“, sagte sie. Dann wechseln wir uns eben ab. Eine zwei Schlittschuhe; eine einen Schlittschuh; und die dritte rutscht auf Schuhen.“
Keiner sah sie fallen.[16]
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[1] Morrison (1998), 183.
[2] Es geht dabei nicht um die ‚Wiederverzauberung‘ einer entzauberten Welt. Es geht eher um das angemessene Verhalten der Vernunft gegenüber ihren nur ihr selbst erkennbaren Grenzen und dem, was sich uneinholbar hinter diesen Grenzen abzuspielen scheint.
[3] Rilke (1956). – Feministische Diskurse können dazu durchaus beitragen. In diesem kleinen Text läßt sich nicht auseinanderlegen, wie sich die sehr ernsthafte und notwendige Bemühung um die Öffnung aller vorgeblich ‚gegebenen‘ Begriffe von Geschlecht und Mutterschaft ihrerseits wieder – ganz gegen die Absicht der Autorinnen – fester verschließend auswirken kann. Es hängt mit dem zusammen, was übrigbleibt, immer wieder übrigbleibt, zur Sprache drängt, aber nicht zur Sprache kommen kann, wo immer diese sich hochmütig eingerichtet hat (und innerhalb einer philosophischen Entwicklung auch sich einrichten mußte) in einem auf Erreichtem aufgebauten Geschoß. Gerade das Mütterliche aber fängt, ganz ohne daß man es in einer metaphysischen Vorwelt ansiedeln müßte, immer wieder bei Null an und reißt die, die davon betroffen sind, mit sich, immer wieder auf Null, jeden Tag
[4] Braun (31990), 227. Dies alles gilt selbstverständlich erst von Zuständen, in denen es die Möglichkeit gibt, sich für oder gegen Kinder zu entscheiden.
[5] Rutschky (2006). Für den Hinweis auf diesen Text sowie für viele anregende Briefe möchte ich Alfred Blohm sehr herzlich danken.
[6] Goette (2006). Ist Aelrun Goette ein Künstlername? Der anspielt auf die schreiende Alraune und auf Goethe, den Dichter der Gretchentragödie?
[7] Matrilokalität gilt in den bekannten Matriarchatstheorien von Bachofen bis Göttner-Abendroth als ein Element matriarchalischer Kulturen. Gleichgültig, wie man diese Theorien bewertet, gibt es Gründe für die Annahme, daß eine durch die mütterliche Familie unterstützte Kindererziehung auch in zeitgenössischen Gesellschaften noch einen zusätzlichen Schutz bietet. Vgl. dazu die diversen Studien in Voland (2005).
[8] Bakan (1979), 66-102.
[9] Eine besonders drastische literarische Ausmalung ihres Selbstmords findet sich in Fühmann (1986).
[10] Greiner (2006).
[11] Die Überschrift spielt an auf einen Titel von Bob Dylan auf der LP Street Legal (1978). Im Text dieses Liedes versöhnen sich „King and Queen of Swords“ – die Queen of Swords mit ihrem „ebony face“ ist für mich ein Bild von Sethe.
[12] Bemerkenswert ist der vielfach überdeterminierte Name der Protagonistin Sethe. Seth ist nach Gen 4,25 der Ersatz, den Eva für ihren erschlagenen Sohn Abel bekommt, und hier wie in Gen 5 Vater des Enosch (im Hebräischen ist Set das Wort für Ersatz, Enosch das Wort für Menschheit), aber auch der Name einer ägyptischen Gottheit. Er hat in einigen apokalyptischen und gnostischen Texten eine große Bedeutung.
[13] Coffin (1876), 260. Die Geschichte wird in diesem Jahr auch als Oper aufgeführt, Komponist ist Richard Danielpour, Toni Morrison Librettistin.
[14] Massadah war die Festung am Toten Meer, die im Jüdischen Krieg gegen Rom als letzte erobert wurde. Als die Römer 73 n. Chr. die Festung einnahmen, hatten sich nach dem Bericht des Flavius Josephus alle bis auf sieben Menschen (Frauen und Kinder) den Tod gegeben, den sie der erwarteten Sklaverei in Rom für sich und ihre Kinder vorzogen.
[15] Im guten Zusammenleben von Sethe mit ihrer Schwiegermutter scheint allenthalben das biblische Buch Ruth anzuklingen.
[16] Morrison (1998), 238.
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Bibliographie
Bakan, David (1979): And They Took Themselves Wives. The Emergence of Patriarchy in Western Civilization. San Francisco u.a.: Harper & Row. Benjamin, Jessica (1993): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/M.: Fischer. Engl. Orig.: The Bonds of Love. Psychoanalysis, Feminism, and the Problem of Domination. London: Virago, 1988. Braun, Christina von (31990): Nicht ich. Logik, Lüge, Libido. Frankfurt/M.: Verlag Neue Kritik. Coffin, Levi (1876): Reminiscences of Levi Coffin. Cincinnati: Western Tract Society. Zit. nach: Peter A. Muckley: „Two Garner Stories. A Note on Margaret and Sethe in and out of History, and Toni Morrison’s Beloved“.
(24. 1. 2006). Fühmann, Franz (1986): „Erzvater und Satan“. In: Ders.: Die Schatten. Hamburg: Hoffmann und Campe, 41-51. Goette, Aelrun (2006): „Die Kinder sind tot“ (Beschreibung). (7. 4. 2006). Greiner, Ulrich (2006): „Was der Mann nicht kann“. In: DIE ZEIT Nr. 15 vom 6. 4. 2006, 67. Mauerer, Gerlinde (2002): Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal. Wien: Milena Verlag. Morrison, Toni (1998): Menschenkind. Übers.: Helga Pfetsch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Engl. Orig.: Beloved. New York: Knopf, 1987. Rilke, Rainer Maria (1956): „Fortgehn“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Frankfurt/M.: Insel-Verlag. Bd. 2, 195. Rutschky, Katharina (2006): „Alles Schlampen außer Mutti“. In: taz Nr. 7929 vom 23. 3. 2006, 13. Voland, Eckart, Hg. (2005): Grandmotherhood: The Evolutionary Significance of the Second Half of Female Life. New Brunswick u.a.: Rutgers UP. Winnicott, Donald W. (1953): „Transitional Objects and Transitional Phenomena“. In: International Journal of Psychoanalysis 34, 329-333.