Editorial

Barbara Naumann

Quand il voit son ombre sur le sol, il a honte
du personnage qu’on lui demande de jouer…[1]

Zweifellos muß ein Liebhaber des Schattens sein, wer sich dafür entscheidet, seinem Haus eine nach Norden gerichtete Veranda anfügen zu lassen. Man wird von dort aus weder Morgen-, Mittag- noch Abendsonne, noch überhaupt das helle Licht genießen können. Statt dessen ergeben sich andere Möglichkeiten der Wahrnehmung, Schattenspiele eben, Lichtzauber der Dunkelheit, die den Blick in die umgebende helle Landschaft besonders verführerisch werden lassen. Der Vermutung, daß jenseits des Schattens etwas besonders Reizvolles, Lockendes, Helles, am Ende gar ein Liebesversprechen auf ihn warten müsse, erliegt der Ich-Erzähler in Herman Melvilles Novelle The Piazza (dt. Die Veranda).[2] Er zieht das „kühle Elysium seines nach Norden gelegenen Vogelbauers“ („the cool elysium of my northern bower“) dem „Fegefeuer“ („purgatory“) einer Südveranda vor; nur das selbstgewählte Schattendasein eröffnet ihm genügend Freiraum für Phantasien und melancholische Träume. So denkt er sich, mitten auf dem Land, in die „Weite und Einförmigkeit“ des Meeres hinein, und im Winter, schneeumtost, wähnt er sich wie bei der „Umseglung von Kap Horn mit gefrorenem Bart auf dem von Schloßen gepeitschten Schiffsdeck“ („[…] and the north wind, like any miller, bolting by the snow, in finest flour – for then, once more, with frosted beard, I pace the sleety deck, weathering Cape Horn“).[3]

Der Schatten eröffnet die zahllosen Dimensionen eines anderen Sehens und Erlebens und stellt damit an die Beschreibungs- und Darstellungskünste mindestens eine ebenso große Herausforderung wie das Licht. Nicht nur die ältere Physik, sondern auch Philosophie, Literatur, bildende Kunst, Architektur haben sich bis heute bemüht, den Schatten nicht nur als einen Effekt des Lichts oder gar als Fehl des Lichts zu denken, sondern sein Eigenleben zu begreifen und fruchtbar zu machen. Goethes Vorstellung, der Schatten sei „farbig“ und müsse daher als ein ganz besonderes Farbphänomen begriffen werden, zielte kritisch auf Newtons Physik und deren Verständnis des Lichts, und sie zeigt die Entschlossenheit des Dichters, dem Schatten zu einer eigenständigen Rolle in der Malerei und in der literarischen Darstellung zu verhelfen. In rhetorischer Hinsicht hat Christiaan Hart Nibbrig das Schweigen als den „Schatten literarischer Rede“[4] beschrieben. Die Analogie zwischen Licht/Schatten und Reden/Schweigen unterstreicht, daß diese Aspekte sich stets implizieren und deshalb für jede Form der Darstellung konstitutiv sind.

So viele Schattenwesen, -wirkungen und -erscheinungen denkbar sind, so viele wissenschaftliche, farbtheoretische, physikalische Zugangsformen gibt es. Unzählig sind die metaphorischen Wendungen des Schattens; einen Einblick in dieses weite Feld vermittelt die Einleitung dieses Hefts. Die Schattenfaszination in der Literatur, den Künsten und den Wissenschaften, von der die einzelnen Beiträge zeugen, ist ubiquitär und kaum systematisch eingrenzbar. Die Verbindung zwischen Schatten und Tod, die schon in der Antike etablierte Rede vom Schattenreich, stellt ein solches prominentes metaphorisches Feld dar. Die Imagination des Todes als Schatten ist nicht auf westliche Kulturen beschränkt und ebensowenig die umgekehrte Vorstellung, das Leben oder Lebendigwerden sei ein Heraustreten aus dem Schatten. Auch Wissenschaften und Künste haben nicht selten die Erkenntnis ihres eigenen Ursprungs als ein Heraustreten aus dem dunklen Schatten des Vergangenen und Unbekannten aufgefaßt. Dieses Bild besaß keineswegs nur im Kontext der Aufklärung Aktualität. So skizziert Victor Stoichita eine kurze Geschichte des Schattens und macht in seinem gleichnamigen Buch die Schattengeschichte sichtbar als die verdrängte Seite der westlichen Geschichte des Lichts. Dabei vermag Stoichita zu zeigen, daß der „Bezug auf die Ursprünge (also auf den Schatten) die Geschichte der Darstellung im Westen“ prägt.[5]

Die Beiträge dieses Heftes gehen den vielfältigen Schattenwesen, Abschattungen und Schattenspielen in Philosophie, Literatur, den Künsten und Wissenschaften nach. Damit ist auch ein Aspekt benannt, der das erste Heft dieses Jahrgangs, spiele/games, mit dem vorliegenden Heft verbindet: Beide, Spiel und Schatten, lassen sich nicht darauf beschränken, konstitutive Momente der Künste zu sein. Sie sind ebenso tragfähig im philosophischen Kontext; von diesen Seiten her werden in beiden Heften jeweils Brücken zum größeren kulturellen Zusammenhang geschlagen.

Für das Themenheft schatten/shadows hat mit Thomas Strässle ein Redaktionsmitglied die Gastedition übernommen. Dafür und für sein großes Engagement sei ihm herzlich gedankt.

Die Zürcher Hochschulstiftung und der Zürcher Hochschulverein haben dankenswerterweise die beiden figurationen-Bände des Jahrgangs 2004 finanziell unterstützt. Last, not least sei die Gleichstellungsstelle für Frau und Mann an der Universität Zürich dankend erwähnt.


Zürich, im Dezember 2004


[1] Philippe Forest (2004): Sarinagara. Paris: Gallimard, 63.

[2] Vgl. Herman Melville (1986): „The Piazza“. In: Ders.: Billy Budd and Other Stories. New York: Penguin Books, 47-66 (dt. Übers.: „Die Veranda“. In: Meistererzählungen. Übers.: Günther Steinig. Zürich: Diogenes, 1993, 7-29).

[3] Melville (1986), 52 bzw. (1993), 11.

[4] Christiaan Hart Nibbrig (1981): Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

[5] Victor I. Stoichita (1999): Eine kurze Geschichte des Schattens. München: Fink, 8.

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