Editorial
Der Mann in der Krise, Krisenfigur Mann, Männlichkeitskrise, oder Krisendiskurs Mann – die Reihe der Apostrophierungen ließe sich fortsetzen. Kaum ein Phänomen, das im akademischen Gender-Diskurs verhandelt wird, liegt sich so deutlich im Mainstream gesellschaftlicher und medialer Aufmerksamkeiten: Der Mann, um den es heute geht, scheint in die Krise gekommen zu sein. Filme, Diskussionsrunden, Feuilletonbeiträge, Videos und Romane der jüngsten Zeit widmen sich dem maskulinen Mängelwesen, und der Adam, auf den sie weisen, zeigt sich als zu dicker Mann, als bulimischer Mann, als Mann mit zu kleinem Penis – und demzufolge als Patient der plastischen Chirurgie, aber auch als intellektueller Selbstzweifler, als Autor mit Schreibhemmung, als von den Frauen Verlassener, als gescheiterter Vater, als Sextourist, als überarbeitetes Mitglied der Leistungsgesellschaft, als gedopter Athlet, als Heimchen am Herd oder als aggressiver Schläger, gar als Mörder. Wie auch immer – die Phänotypen der Krise sind zahlreich, und sie werden spätestens seit Michel Houellebecqs Romanen geradezu emphatisch rezipiert, studiert, gefeiert.
Die breite Diskussion erkennt in der Krise der Männlichkeit gern und rasch die Variante einer anderen – und vermeintlich siegreich bestandenen – Geschlechterdebatte, nämlich der ungeschickterweise so genannten ‚Frauenemanzipation‘. Die von Frauen geleistete Kritik an überkommenen Verhaltensmustern und traditionellen Befangenheiten wäre damit Initiatorin und Anlaß der männlichen Krise. Diese Sicht der Dinge greift in vielen, wenn nicht allen Aspekten zu kurz. Ein Blick auf die Geschichte der Geschlechterdiskurse zeigt, daß das laut gewordene Unbehagen an der Kultur tradierter Geschlechterrollen in der Regel an krisenhafte Erfahrungen des Selbst gebunden war, die zugleich – wenn auch auf je andere Weise – Männer und Frauen betrafen. Kein Mann hätte auf den Feminismus warten müssen, um in die Krise zu kommen. So gibt bereits die Väter- und Männlichkeitsproblematik um 1900 beredt Zeugnis von der Überlast einer krisenhaft erfahrenen Männlichkeit, die sich als utopischen Fluchtpunkt in der Kunst wie in neuen sozialen Modellen zunächst eine „weibliche Kultur“ (Simmel) suchte, schließlich aber in deren Gegenteil, nämlich im Ersten Weltkrieg, unterging. Namen wie Sigmund Freud, Otto Weininger, Otto Gross und Lou-Andreas Salomé, auch Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Robert Musil oder auch Ernst Jünger, um nur einige wenige zu nennen, führten einen veritablen Krisendiskurs Mann bereits um 1900.
Was könnte also als neu, und anders, an der heutigen Krise der Männlichkeit bestimmt werden? Mehrere Aspekte fallen hier sofort in den Blick. Sie alle haben zu tun mit den systemischen Veränderungen in der Gesellschaft wie in den Medien, in denen der Krisendiskurs sich darstellt. Wenn nicht passé, so doch erheblich gemildert scheint heute die Abarbeitung an den dominierenden, den jede Entfaltung und Eigeninitiative erstickenden Vätern, den Patriarchen, unter denen noch Weininger, Gross und Kafka gelitten haben. Zunehmend findet sich, im Gegenteil, die Klage darüber, allein von Frauen erzogen worden zu sein. Zudem zielen viele Autorinnen und Autoren heute darauf ab, die Gender-Kategorie als ein komplexes und bewegliches Gefüge aus sozialer Stellung, ethnischer Zugehörigkeit und sexueller Praxis deutlich zu machen, deren Interferenzen und Konflikte als Inszenierung des Geschlechts sichtbar gemacht werden können. Last but not least ist die mediale Darstellung und Vermittlung der Krise der Männlichkeit zu nennen.
Den Filmen und Fernsehbeiträgen, den Romanen und Musikclips zum Thema stehen sämtliche kulturellen Bilder – reüssierender oder krisenhafter – männlicher Herrschaft zur Verfügung. Entsprechend vielfältig und heteronom sind die Strategien der Darstellung und Erkundung von ‚Männlichkeit‘, die wir heute beobachten. Das Feld, das im Namen einer krisenhaften Männlichkeit erneut untersucht und bestellt wird, ist nicht mehr eindeutig patriarchal dominiert. Es ist ein Feld, das Väter und starke Institutionen kennt, aber auch dezentrierte, pluralisierte Epizentren der Macht. In ihren Strukturen zeichnen sich gelegentlich verspielte Formen des Geschlechterwandels ab, aber auch grausame Potentiale der Gewalt.
Ob wir es heute tatsächlich mit einer neuen, krisenhafte Form von Männlichkeit zu tun haben, die mit dem Abschied von den starken Vätern auch den Abschied vom eigenen Machtanspruch von neuem in den Blick zu nehmen wagt – das ist eine der zentralen Fragen, die die Beiträge dieses Heftes untersuchen. Eine weitere Frage, die in enger Verbindung mit den Darstellungsmodi des Geschlechterdiskurses steht, ist die nach dem Geltungsanspruch des Begriffes ‚Männlichkeit‘ schlechthin. Das Denken dieses Begriffes selbst ist in Bewegung geraten, und der definitorische Anspruch des Zeichens ‚Männlichkeit‘ erfährt dabei nicht unerhebliche Qualifikationen. Einerseits ist dies der Effekt der übergreifenden Auflösung von Geschlechterkonturen. Andererseits aber mag dieses bewegliche und dezentrierte Denken zu einer prononcierten, beinahe karnevalesken Zitation ehemals verbürgter Geschlechternormen führen. Damit wird der gesellschaftliche Wandel nicht nur dargestellt und somit erkennbar, sondern zugleich auch betrieben. In der Zitation der alten Geschlechterrollen können zwar auch die alten Befangenheiten, die traditionellen Ansprüche und Belastungen des Begriffs ‚Männlichkeit‘ wieder auftauchen. Die Krise der Männlichkeit mit ihrer Veränderung der Geschlechterkonturen gibt aber vor allem zur Hoffnung Anlaß, daß die Geschlechterbeziehungen überhaupt in eine entspanntere, womöglich lustvollere, vor allem aber gerechtere Phase eintreten könnten.
Dieses Heft dokumentiert, mit wenigen Ausnahmen, das internationale Symposion Krisenfigur Mann – Male Crises. Krise und Hegemonie im Zeichenspiel des Geschlechts, das am 22. und 23. April dieses Jahres an der Universität Zürich stattgefunden hat. Ines Kappert sei für ihr Engagement für die Tagung sowie für die Gastedition dieses Heftes gedankt. Wir wissen es sehr zu schätzen, daß die Autorinnen und Autoren ihre Beiträge so rasch zur Publikation bereitgestellt haben. Unser Dank gilt außerdem dem Kompetenzzentrum Gender Studies der ETH und Universität Zürich, der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften sowie dem Deutschen Seminar der Universität Zürich für die finanzielle Unterstützung der Tagung.
Zürich, im Mai 2002