Über die ästhetische Erziehung des Menschen oder: Von Schiller zu Magneto
Indessen schritt sein Geist gewaltig fort
Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen,
Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine,
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.[1]
Im 59. Paragraphen der Kritik der Urteilskraft bestimmt Immanuel Kant Schönheit universal als „Symbol des Sittlich-Guten“[2] und damit Ästhetik und Ethik als Kehrseiten einer Medaille.[3] Diese Allianz hat für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft zur Folge, dass sie seitdem „das Dasein im nicht nur sittlich“, sondern auch im ästhetisch „vollendeten Individuum“ verherrlicht [4], wie Walter Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels kommentiert. Klar ist das Ziel für den Weg des Einzelnen daher markiert: Sittlich-gut möge er werden und diese innere sich in seiner äußeren Schönheit spiegeln. Die Programm-, um nicht zu sagen die Propagandaschrift dieser „Kantische[n] Grundsätze“[5] verfasst Friedrich Schiller in einer Reihe von Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in der er die ästhetische Vermittlung des ethischen Ideals anthropologisch sichert und geschichtsphilosophisch umstellt.[6] Unter dem Strich fällt die Bilanz allerdings weniger optimistisch aus, als man vermuten könnte: Nicht das Ideal, sondern das Leiden am Ideal steht im Zentrum der Briefe. Dort setzt Schiller weder auf die menschliche Vernunft noch auf den freien Willen. Bilder, genauer gesagt: Leitbilder benötigt der Einzelne stattdessen, damit ihm das Ziel seiner ethischen Selbstbewirtschaftung möglichst anschaulich vor Augen steht. Aus der anthropologischen Not eine Tugend machend, schreibt Schiller dergestalt eine moderne Medienpädagogik, wie ich im ersten Abschnitt meiner Überlegungen zu Schillers Leitbildern ausführen möchte.
Im zweiten möchte ich überlegen, ob diese Medienpädagogik ihre Aktualität bis heute bewahrt hat. Denn auch das Individuum der postbürgerlichen Gesellschaft setzt bei seiner ethischen Selbstbewirtschaftung auf Leitbilder, die seinem Ideal von der eigenen Vollkommenheit eine Anschauung unterlegen. Dabei zeigen die verschiedenen Erscheinungsformen im Alltag, wie Schillers Leiden am Ideal sein Gegenstück im Leiden für das Ideal hat, dem sich der Einzelne in unterschiedlicher Intensität und Radikalität unterwirft. Menschen verschreiben sich einem Ideal nicht nur, sondern sie schreiben ihrem Körper das Leitbild buchstäblich ein, das dieses Ideal ästhetisch vermittelt. So jedenfalls sehen es Jens Neumann und Edgar Rodtmann, die seit 1995 ein gemeinsames Studio für Porträt- und Reportagefotografie in Berlin-Kreuzberg betreiben.[7] In der 2007 entstandenen Serie Körper fotografieren sie Menschen, die den eigenen Körper zum Medium ihres Ideals gemacht haben und sich selbst in den Spuren des Leids als ‚vollendete Individuen‘ verherrlichen.
Schillers Leitbilder
Ausgangspunkt der Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen ist bekanntermaßen Schillers Abscheu vor den Folgen der Französischen Revolution. Deren entfesselte Grausamkeit belegt für ihn zweifelsfrei, dass der aufgeklärte Mensch für eine sittliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft erst noch von seiner „stumpfen Sinnlichkeit“ befreit werden muss.[8] Doch nicht auf bloßer „Vernünftelei“[9] darf der „ethische Staat“ gründen[10] – jene konstitutionelle Monarchie, die sich Schiller als politisches Ziel seiner Wünsche ausmalt –, sondern auf der Idee der Freiheit. Ist sie in jenem glücklichen historischen Augenblick fern in der Zukunft erreicht, kommt der Mensch „zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her und findet sich – in dem Staate“.[11]
Diese geschichtsphilosophisch ausbuchstabierte Utopie steht nicht in den Sternen. Schiller stellt seine sittliche Gesellschaftsordnung vielmehr auf die gleichen anthropologischen Füße wie Kant. Denn wie der Philosoph in seiner Pflichtenethik geht auch Schiller von einem grundsätzlichen Konflikt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, Geist und Körper, Pflicht und Neigung aus. So unüberbrückbar der Konflikt zunächst scheint, so einfach stellt sich seine Lösung dar: Schiller erweitert die dualistische Triebtheorie der Aufklärung um ein Drittes und platziert den Spieltrieb dazwischen. Das ist an und für sich nicht ganz neu, revolutionär ist freilich die ikonische Wende der Triebtheorie, die mit der dritten Position einhergeht. Alle drei Triebe bestimmen sich im Horizont des Erziehungsgedankens in ihrem Verhältnis zur Anschauung: Der sinnliche Trieb produziert Bilder ohne Vernunft, der Formtrieb vernünftige Ideen ohne Anschauung. Der Spieltrieb nun vermittelt zwischen Bild und Idee. In ihrer Schönheit sind die Bilder, die der Spieltrieb in der Einbildungskraft organisiert, zwar sinnlich, aber nicht zu sinnlich; in ihrer Idealität vernünftig, aber nicht zu vernünftig, um intuitiv wirksam zu sein. Damit markieren diese Bilder systematisch genau die Schnittstelle, die Klaus Sachs-Hombach als diejenige des Ideals bezeichnet.[12] Zwischen Wirklichkeit und Idee tritt es in Erscheinung, oder anders gewendet: In seiner Vollkommenheit realisiert das Ideal die Idee. Dadurch können die Bilder der Einbildungskraft im Projekt der ästhetischen Erziehung des Menschen die ihnen zugewiesene Aufgabe als ethische Leitbilder übernehmen.
Ein solches „Idealschöne[s]“ ist also bei Schiller die anthropologisch überprüfte Möglichkeit, das Tier im Menschen zu überwinden.[13] Die Idee der Freiheit, nach der der Mensch strebt, ja, die er freiwillig wählen muss, um sich selbst und anderen seine sittliche Autonomie zu beweisen, wird durch das Schöne vermittelt, so dass die Idee und das Ideal der Freiheit in dieser Erscheinung zusammentreffen. „Vollkommen frei“ muss der „Wille des Menschen […] zwischen Pflicht und Neigung“ schalten und walten können, fordert Schiller;
und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nötigung greifen. Soll er also dieses Vermögen der Wahl beibehalten […], so kann dies nur dadurch bewerkstelligt werden, […] daß also seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstimmend genug sind, um zu einer universellen Gesetzgebung zu taugen.[14]
Nötig sind solche Willensanstrengungen allemal. Denn wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde zeichnet Schillers Menschen eine konstitutive, und das heißt: nicht relative (aufheb- oder auflösbare), sondern absolute Ambiguität aus: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist“[15], erläutert Schiller und setzt mit diesem ‚idealischen‘ gleichzeitig den realen Menschen voraus, den er an diesem Ideal ausrichtet. Wenn Schiller diese Ambiguität auf eine Zeitachse spannt, wenn er den ‚idealischen Menschen‘ also auf die Zukunft datiert, dann entsteht die symbolische Konfiguration, um die es in den Briefen eigentlich geht. Obwohl Schiller die Möglichkeit, das Ideal der Freiheit zu erfüllen, sowohl anthropologisch als auch ethisch im Wesen des Menschen verankert, leidet der Mensch nämlich einerseits an der Differenz zum Ideal. Andererseits muss er in sein Leiden am Ideal einwilligen, um das Ideal erfüllen zu können.
Das Leiden am Ideal und das Leiden für das Ideal sind also Kehrseite der einen Medaille, die Schiller Erziehung nennt. Dieses Leiden kann mit Niklas Luhmann als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium bezeichnet werden.[16] Seine Aufgabe besteht darin, die Unwahrscheinlichkeit zu bewältigen, die in der Kommunikation des Ideals entstehen kann – und zwar sowohl in der Ausrichtung des Einzelnen an diesem Ideal als auch in der Verständigung der Gemeinschaft über das Ideal, in der inneren und der äußeren Kommunikation also. Generalisiert ist dieses Leiden insofern, als es nicht nur einmal, sondern mehrmals bzw. dauerhaft ‚verwendet‘ werden kann, und symbolisch, weil es garantiert, dass sich ego und alter in ihrer Kommunikation des Ideals auf das Gleiche beziehen. Dieses Zusammentreffen hält Luhmann deshalb für unwahrscheinlich, weil sowohl ego als auch alter vor einer Reihe von Problemen stehen, die sich bei der Auswahl der Information, deren Mitteilung und deren Verstehen ergeben, aber beileibe nicht vor denselben Problemen. Dergestalt dient das Leiden auch in Schillers Erziehung „als Zeichen des Zusammenhangs von Vertrautem und Unvertrautem im Vertrauten“.[17]
Weniger die Tatsache, dass Schiller in den Briefen von dieser Erziehung handelt als vielmehr der Umstand, dass er mit den Briefen handelt, macht diese zur Urszene bürgerlicher Ethik. Mit einer selbstbezüglichen Volte eröffnet er seine Abhandlung, indem er deren Niederschrift zur ethischen Bewirtschaftung im „einförmigen Umgange mit [sich] selbst“ erklärt.[18] Dreh- und Angelpunkt dieser Inszenierung bildet die Adresse an Prinz Friedrich Christian von Augustenburg, der Schiller bereits seit 1791 eine jährliche Pension von 1000 Talern zahlt:
Ich werde die Sache der Schönheit vor einem Herzen führen, das ihre ganze Macht empfindet und ausübt, und bei einer Untersuchung, wo man eben so oft genötigt ist, sich auf Gefühle als auf Grundsätze zu berufen, den schwersten Teil meines Geschäfts auf sich nehmen wird.[19]
Wichtig ist, dass Schiller sein Ideal vor einer ethischen Institution vertritt – vor derjenigen Institution, die er ‚Herz‘ nennt und die (metaphysisch) im Kantischen Gemeinsinn verankert ist. Damit hat das Ideal nicht nur individuelle, sondern allgemeine Gültigkeit. Durch die Adresse wird der Prinz gewissermaßen zum gesetzlichen Vertreter dieser ethischen Institution und damit gleichzeitig zum Agenten des Ideals. Mit des Prinzen Herz tritt Schiller in den Briefen in einen einseitigen Dialog. Es soll ihm helfen, sich von den „Fesseln“ und dem „Zwang“ der Sinnlichkeit zu befreien, und ihn zur „bürgerlichen Ordnung“ führen.[20] Natürlich setzt Schiller alles daran, den Prinzen auf diese Rolle, und das heißt auch: auf die Inhalte des pädagogischen Programms zu verpflichten:
Ich hoffe, Sie zu überzeugen, daß diese Materie weit weniger dem Bedürfnis als dem Geschmack des Zeitalters fremd ist, ja daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.[21]
Dass dieses Herz dem Einzelnen auf seiner Wanderung einiges abverlangt, macht die Passage klar, in der das Leiden am Ideal das Argument in einer ‚Entweder-Oder‘-Konjunktion trägt. Auf zwei verschiedene Arten kann „der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen […]: entweder dadurch, daß der reine Mensch den empirischen unterdrückt […]; oder dadurch, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt“.[22] Wie leidvoll Schiller selbst diese ästhetische Erziehung erfährt, macht das Bild des Kampfes deutlich, das er immer wieder verwendet. Dem „Kampf elementarischer Kräfte“[23], den er anthropologisch zwischen Sinnlichkeit und Vernunft verortet, entspricht der Kampf, den das immer schon „verdorbene“ Individuum mit sich selbst für das Ideal zu bestehen hat:[24]
Schon seinen Neigungen muß er das Gesetz seines Willens auflegen; er muß, wenn Sie mir den Ausdruck verstatten wollen, den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen, damit er es überhoben sei, auf dem heiligen Boden der Freiheit gegen diesen furchtbaren Feind zu fechten; er muß lernen edler begehren, damit er nicht nötig habe, erhaben zu wollen. [25]
Wo freilich dieser furchtbare innere Feind steht, daran lässt Schiller keinen Zweifel; und es ist schließlich diese Wendung, die die masochistisch-ethische Konstellation im weiteren Sinn mit einer masochistisch-sexuellen im engeren verbindet. Strukturell gesehen geht es mit dem inneren Kampf nämlich um die Überwindung der Sinnlichkeit (Ist) durch Unterwerfung unter das Ideal der Freiheit (Soll) und damit um die Sublimierung der Triebnatur zu einem Wohlgefallen, das den Menschen im Kantischen Sinn interesselos macht. Was man an und für sich als einen komplexen Prozess, vielleicht sogar als Prozess der Kulturation überhaupt verhandeln könnte, das macht Schiller nicht nur zu einer persönlichen, sondern auch zu einer praktischen Angelegenheit. In gut protestantischer Tradition bedrohen die Ansprüche der „Geschlechtsliebe“ den Menschen wie die Gesellschaft auf dem Weg zur Sittlichkeit. In seinem Streben vom realen Ist-Zustand, unter dem er leidet, nach dem idealen Soll-Zustand, für den er bereit ist zu leiden, verlässt der Mensch „mit demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden Notwendigkeit, […] wie er, […] den gemeinen Charakter, den das Bedürfnis der Geschlechtsliebe aufdrückte, durch Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt“.[26]
Während Leiden bei Schiller das Kommunikationsmedium des Ideals ist, stellt die Schönheit das eigentliche Bindeglied zwischen Real-Ich und Ideal-Ich her. Bezeichnenderweise bricht Schiller genau an diesem Punkt mit seiner bisherigen Argumentation. Während die ästhetische Vermittlung des Ideals zunächst als anthropologische Notwendigkeit auf dem psychologischen Schauplatz der Einbildungskraft abgehandelt worden ist, bringt Schiller nun die rhetorisch-pädagogische Leistung des Bildmediums ins Spiel. Konkrete Gemälde haben bei Schiller daher nicht die besondere Aufgabe, das Ideal zu ästhetisieren, wie es vor allem bei den sexuellen Spielarten des Masochismus beobachtet werden kann, sondern sie haben die allgemeine Aufgabe, dem Ideal eine Anschauung zu unterlegen: Ohne Bilder kein Ideal! In seiner Erzählung Venus im Pelz richtet Leopold von Sacher-Masoch 1870 daher nicht von ungefähr die ethische Selbstbewirtschaftung seines Protagonisten in den einleitenden Passagen an Tizians Venus mit Spiegel aus und damit an einem der wohl berühmtesten Gemälde der Hochrenaissance (Abb. 1). Severin koppelt seine Vorstellung von der eigenen Sittlichkeit an die Schönheit der Venus, die bei Tizian neuplatonisch als Ausdruck ihrer Göttlichkeit verstanden wird – und zwar einer Göttlichkeit, die sich gerade aus ihrer Menschlichkeit ergibt. [27]
Das Bild kann deshalb als Leitbild für Severins Ideal dienen, weil das Geschlechtliche der Venus verleugnet wird. „Die Sinnlichkeit wird verneint, sie existiert nicht mehr als Sinnlichkeit“, zieht Deleuze die libidinöse Bilanz einer solchen Idealisierung, wie sie Severins Ideal-Ich zugrunde liegt; „so kann Masoch das Heraufkommen eines neuen Menschen ‚ohne Geschlechtsliebe‘ verkündigen“.[28] Diese Besetzung ist insofern naheliegend, als bei Tizians Venus die masochistische Tendenz zur Fetischisierung offen zutage tritt. Der Pelzbesatz des roten Samtmantels, der die nackte Frau umhüllt, fixiert „den Anblick der Genitalbehaarung, auf den der ersehnte des weiblichen Gliedes hätte folgen sollen“[29] – so erklärt Freud die Rolle der Ähnlichkeit bei der Bildung von Fetischen zur Bewältigung der vom weiblichen Genital ausgehenden Kastrationsdrohung. Als nicht-kastrierter Mann ist die Venus aber natürlich auch keine Frau, sondern ein triebökonomischer Kompromiss. Wenn sich Severin dann in den Szenen der Unterwerfung dem Ideal der Freiheit annähert, wenn er sich also unter der Peitsche der Agentin dieses Ideals auf die Reise begibt, die vom Real-Ich zum Ideal-Ich führt, dann bricht dieser sexuelle Masochismus nicht etwa mit den bürgerlichen Werten und Normen, sondern er pervertiert den ethischen Masochismus in der Überbietung seiner Gesetzmäßigkeiten.
Wie Sacher-Masoch setzt nämlich auch Schiller bei der ästhetischen Erziehung des Menschen ganz auf die Medienpädagogik – und zwar ebenfalls im Rückgriff auf die Venus-Ikonografie. Als hätte er Tizians berühmtes allegorisches Gemälde Himmlische und irdische Liebe vor Augen gehabt (Abb. 2), setzt Schiller für sein pädagogisches Programm auf das Leitbild der sogenannten Venus Urania – das der himmlischen, ganz und gar sittlichen Venus, der er die sündige Liebesgöttin Venus Cytherea gegenüberstellt. [30] Auf Tizians Gemälde symbolisiert das Pferd auf dem Relief des Brunnens das sexuelle Begehren jener ‚Geschlechtsliebe‘, die es zu überwinden gilt. Weil das Gemälde wie ein Text von links nach rechts zu lesen ist, bildet nicht etwa die bekleidete Frauenfigur das ethische Ziel des Weges ab, der allegorisch von der einen Figur zur anderen führt. Ihre reiche Kleidung, ihr Schmuck und nicht zuletzt das Symbol des geschlossenen Kastens (Maria Magdalena) weisen sie vielmehr als Vertreterin der sinnlichen Welt aus. Die nackte Frauenfigur auf der rechten Bildseite stellt dagegen in neuplatonischer Tradition die ästhetische Realisierung sittlicher Vollkommenheit dar. Sie hat die sinnliche Welt transzendiert und stellt die Apotheose des Menschen als göttlichen Menschen in Aussicht. Diese keusche Frau vermittelt daher das Ideal, an dem Schillers pädagogischem Programm zufolge die ethische Selbstbewirtschaftung des Menschen auszurichten ist.
Wie ernst es Schiller mit seiner Medienpädagogik ist, wie unabdingbar die Leitbilder für die glückliche Zukunft einer in der Sittlichkeit gründenden bürgerlichen Gesellschaft sind, mag ein kurzer Blick auf die Institutionalisierung der ästhetischen Erziehung des Menschen zeigen. Schiller überträgt sie nämlich der „Schaubühne“, die er in ihrer Funktion „als eine moralische Anstalt“ bereits zehn Jahre früher „bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim […] betrachtet“.[31] Als Bildgenerator ist sie „mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele“[32], erläutert Schiller. Und um die Medienpädagogik avant la lettre perfekt zu machen, ergänzt er: Die Schaubühne ist „der gemeinschaftliche Kanal“, über den das Ideal der Freiheit kommuniziert wird.[33] Dabei ist die Bühne dem Bild insofern überlegen, als hier – in den Stoffen der Tragödie – nun tatsächlich nicht das Ideal, sondern das Leiden am und für das Ideal Gegenstand der Aufführung ist. In diesem Reentry kann sich das Bürgertum bei seiner ethischen Selbstbewirtschaftung beobachten, die eines guten Tages den Einzelnen und schließlich die Menschheit zur Freiheit führen wird.
Jens Neumann und Edgar Rodtmanns Fotoserie Körper
Im Auftrag des Nachrichtenmagazins Focus haben Jens Neumann und Edgar Rodtmann die Models der Agentur Autseider fotografiert:[34] „Punks, Vollgepiercte, Rocker, Greise, Gothics, schräge Vögel mit schiefen Zähnen, ‚alle, die nicht Mainstream‘ sind, gelten als potenzielle Kandidaten. Abstehende Ohren erhöhen die Chance auf eine Setcard, ein makelloser Teint eher nicht.“ Diana Briant, die Besitzerin der Agentur, „sucht echte Typen. Magneto zum Beispiel, der vom Hals bis zur Stirn, einschließlich Lippen, fast lückenlos tätowiert ist“. Oder Alexander, „der unter seiner Kopfhaut hügelartige Implantate trägt, die ihm etwas Eidechsenartiges geben“. In seiner Skurrilität appelliert das Ergebnis dieser Foto-Session an unseren Voyeurismus. Die Bilder ziehen die Blicke auf sich, ja sie setzen in der lustvollen Würdigung jedes einzelnen Details selbst wiederum poetische Energien in den Bildbeschreibungen frei:
Alexandra, deren Haut an ein Raubtierfell erinnert. Antje, die schwer am Gewicht ihrer Nasenringe trägt. Oder Steffen, der soeben aus dem Fotostudio stakst, so gut es seine rosafarbenen Fellstiefel mit den 17 cm hohen Absätzen erlauben. „Gibt ’n schönen Blick!“, sagt Steffen. Eine rote Kontaktlinse schmückt sein linkes Auge. Sie korrespondiert mit seinen schwarz-roten, sorgsam zerfetzten Strumpfhosen.[35]
Wenn Neumann und Rodtmann Alexander, Alexandra, Cora, Enno, Jenny, Aule und Magneto[36] von der Straße ins Studio holen, entsteht wie auf Schillers Schaubühne ein theatraler Raum, der das Spektakuläre der ‚echten Typen‘ symbolisch auf deren Ideal bezieht. Denn es ist das Ideal, in dessen Erscheinung sich die Idee realisiert und dergestalt zwischen Wirklichkeit und Idee tritt; und es ist dieses Ideal-Ich, an dem jede bzw. jeder Einzelne ihre/seine ethische Selbstbewirtschaftung ausrichtet. Die ‚Typen‘ entfalten im Blick der Fotografen – oder zumindest im Blick der Kulturwissenschaftlerin auf diesen Blick – bereits durch die Wahl des Raumes, in dem sie in Erscheinung treten, eine Wirkung, die weit über die Skurrilität hinausgeht; und es ist die Macht dieser Symbolik, die der Modelagentur Großkunden wie Renault oder Tchibo sichert.
Der Abort als Altar
Die Fotografien spielen an den Grenzen der postbürgerlichen Gesellschaft: Schreiend sitzt Aule (S. 127) mit nacktem Oberkörper auf dem Boden, im Schoß ein Päckchen Tabak, die Kippe zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand (die isolierte Hand in der linken Bildhälfte reflektiert das Motiv). Ein Punk eben, dessen Anblick uns heute aber nicht mehr wirklich schockiert; das hatten wir in den 1970er Jahren sowohl krasser als auch schmutziger und seitdem immer wieder in einem mittlerweile hohen Grad an Ausdifferenzierung: Goth, Emo, Skin usw. Um die Stilisierung wissen daher heute sowohl der weltoffene Familienvater, dem Alexandra in hohen pinkfarbenen Stiefeln, ledernem Minirock und Korsage (im Gegensatz zur eigenen Tochter in Jeans und möglicherweise sogar ‚kess‘ ausgeschnittenem T-Shirt) lediglich ein wenig ‚nuttig‘ erscheinen mag, als auch die patente Versicherungsmaklerin, die sich beim Anblick Aules nur noch gewohnheitsmäßig ihres Portemonnaies versichert. Sehnsucht mag in diesem Wissen mitschwingen, Begehren nach dem regen, gegen das sich die Abwehr nicht mehr massiv, aber in fein wertender Abgrenzung richtet. Obwohl den Affekten die wirkliche Not fehlt, zeugen sie von einer Ambivalenz: Anstößig wie anziehend sind Aule und Alexandra auch heute noch. Ebenso Ekel wie Lust erregend, bleiben sie im profanen Raum der postbürgerlichen Gesellschaft „als Störungen […] übrig“.[37] So beschreibt es Robert Pfaller für all diejenigen Phänomene, die sich durch eine vergleichbare Ambivalenz auszeichnen, weil sich das punkige Outfit der „postmodernen Vernunft“ entzieht. Was indes dieser Vernunft „Rätsel aufgibt, betrachtet sie nicht als Herausforderung, sondern als Obszönität; als ein Pudendum, das aus dem Gesichtsfeld – wenn nicht überhaupt aus der Welt – zu verbannen ist“.[38]
Protest und Provokation auf der Grundlage wohl kalkulierter, reflektierter und inszenierter Ambivalenz fangen die Fotografien also ein. Ob „Punks, Vollgepiercte, Rocker, Greise, Gothics“ oder „schräge Vögel mit schiefen Zähnen“ – sie alle löcken wider den Stachel der Norm in einer Art und Weise, die sich auch nach gut 40 Jahren Punk noch immer nicht als Normalität erwiesen hat. Indem sie diese Erscheinungen auf dem Abort ausstellen, folgen die Fotografen aber nicht nur dem Gestus der Stilisierung, sondern sie kommunizieren zugleich das Ordnungsmodell der Gesellschaft, gegen das sich dieser Gestus richtet. Was auf der Straße nicht selten in der Gosse lebt, was sich selbst als das ausgegrenzte, ausgeschlossene Andere versteht – Ausscheidung, Schmutz, Exkrement –, was also buchstäblich ‚am Arsch‘ ist, das wird auch dort verortet: auf dem WC. Indem aber Punks & Co. auf diese metonymische Art und Weise einem Körperteil zugeordnet werden, repräsentieren die Fotografien gleichzeitig auch denjenigen symbolischen Körper, der dem Ordnungsmodell der postbürgerlichen Gesellschaft eine Anschauung unterlegt: oben der akademische Kopf, in der Mitte die systemerhaltende Mittelschicht, unten das den Mehrwert erwirtschaftende Fundament und ‚hinten‘ eben der gesellschaftliche Unrat.[39]
Gegen diese Lesart spricht nun allerdings die Sterilität des Raums: Das blendende Weiß des Bades (ein Handwaschbecken, ein WC) symbolisiert das Gegenteil der eigentlichen Bestimmung des Ortes, ja verkehrt seine Bestimmung gewissermaßen. Das Bild von Cora (S. 100) stellt dieses Prinzip vielleicht mit dem einfachsten Mittel aus. Die Figur ist kopfüber von der Decke hängend dargestellt, so dass für sie die Gesetze der realen Welt nicht mehr zu gelten scheinen, noch nicht einmal das der Schwerkraft. Vor dem weißen Hintergrund zeichnen sich alle Figuren in diesem oder jenem aufwendigen Detail ihrer Erscheinung nicht nur ab (Coras in Pink- und Violettönen, Aules orange gefärbte Haare beispielsweise), sondern Neumann und Rodtmann (er)finden auch einen Ort, an dem das Ausgeschiedene nun „gewürdigt werden kann und nicht nur als schmutzig verabscheut werden muss“.[40] Der weiße Raum bildet daher eine Bühne, auf dem weniger die Type als vielmehr der Ideal-Typus auftritt, den Cora verkörpert. An diesem Ideal betont das weißgekachelte Bad das „Kalt-Mütterlich-Streng, Eisig-Empfindsam-Grausam“, das Deleuze als die „Dreifaltigkeit des masochistischen Traumbildes“ bezeichnet [41] und das er an jene die masochistische Ethik dominierende Mutterimago bindet: „Die Funktion des masochistischen Ideals besteht darin, den Triumph der Empfindsamkeit in Gefrorenheit und durch Kälte herbeizuführen.“[42]
Diesen Triumph – im Fall von Aule, Alexandra und Cora: den Triumph über diejenigen, gegen deren (Ab-)Wertung sich Protest und Provokation richten – stellen die Fotografien aus. Stärker noch: Sie stellen im Medium der Kunst die Verkehrung des Profanen in etwas Ideales dar, in dem dieses Ideale nun gewissermaßen als Heiliges in Erscheinung treten darf: „Solange die heiligen, ambivalenten Objekte am Ort des Heiligen aufgehoben sind, erscheinen sie rein“, erklärt Pfaller eine solche Dialektik, wie sie Neumanns und Rodtmanns Bildern zugrunde liegt. „Tauchen sie hingegen am Ort des Profanen auf, erscheinen sie unrein“.[43] Aus kulturkritischer Perspektive schaffen die beiden also Räume für eine Gesellschaft, der „offenbar jene räumlichen und zeitlichen Ausnahme-Zonen verloren gegangen [sind], in denen sie“ das alltägliche Heilige „öffentlich feiern und als glamourös würdigen konnte“[44], das heißt: in denen das Ambivalente solcher Typen wie Cora nun gesellschaftlich wieder akzeptabel ist. Denn natürlich finden sowohl der Familienvater als auch die Versicherungsmaklerin diese Bilder als Bilder ‚schön‘ oder doch zumindest (und das markiert genau die Grenze von profan und heilig) ‚interessant‘, weil die Bewohner der weißen Zone eben gerade keine Ähnlichkeit mehr mit dem eigenen Leben haben. In ihrer Unähnlichkeit überschreiten sie im sakralen Raum die menschliche Sphäre.
Im Studio wird der Abort dabei zum Altar, auf dem nun die gelenkige Jenny ihre schlanken, tätowierten Gliedmaßen wie ein fremdes Wesen bewegt – Göttin oder Opferpriesterin ihrer eigenen Religion (S. 14). Düster blickt auch Enno in die Kamera (S. 30). Das Weiße seiner die Augen bedeckenden Kontaktlinsen lässt ihn wie einen Großstadt-Baal so dunkel und böse erscheinen, als sei er nicht von dieser Welt, in der es eben kein absolutes Böses gibt – sondern nur die kleineren und größeren Gemeinheiten, Gaunereien oder Verbrechen, begangen von Menschen, denen man ihre banale Boshaftigkeit nicht ansieht. In der Inszenierung seiner Heiligkeit ist der kalte, weiße Abort also die perfekte Kulisse für die ethische Selbstbewirtschaftung der Figuren, die Neumann und Rodtmann auf ihren Bildern einfangen. Sicher macht die Analyse nämlich eines deutlich: Auf den Fotografien sind weder Jenny noch Enno, weder Aule noch Cora abgebildet, sondern deren jeweiliges Ideal, und das heißt mit Schiller gesprochen: ihre ethischen Leitbilder.
Alexandra hinter den Spiegeln
Von ethischer Selbstbewirtschaftung zu sprechen setzt zweierlei voraus: einerseits den ökonomischen Aufwand, der mit jeder einzelnen Inszenierung verbunden ist, andererseits deren ethische Dimension, die ich als Beziehung von Real-Ich und Ideal-Ich verstehe bzw. als Ausrichtung an einem Ideal, das auch auf den postmodernen Fotografien – wie Schillers bürgerliche Medienpädagogik es voraussetzt – ästhetisch vermittelt wird. Alexandras Leitbild reflektieren die spiegelnden Kacheln der Badezimmerwand (S. 66). Aber sie spiegeln es nicht in der vollkommenen Art und Weise, in der Alexandra nach diesem Bild auf der Wand und mit diesem Bild nach ihrem idealen Selbst sucht. Auf der linken Wand, das  heißt in Alexandras Blickrichtung, ist nur ihr rechter Arm zu sehen. Auf der rechten Wand hingegen, in Alexandras Rücken, spiegeln die Kacheln das Bild dieser Selbst-Suche und markieren die Position jenes Reentrys, wie ihn nur das vor der Szene platzierte Objektiv einfangen kann (das Arrangement erinnert an Diego Velázquez’ Las Meninas): Alexandras abgewandter Kopf und ihre der Wand abgewandte linke Körperhälfte hinterlassen ihr Spiegelbild auf der Wand.
Dreimal ist Alexandra also auf der Fotografie repräsentiert: erstens en face, zweitens im Bild ihres Blickes auf der linken Wand und drittens im Reentry auf der rechten – eine schizoide Konfiguration, wenn man so will. Jedenfalls installiert sie neben Alexandras realem Körper ihren idealen, dessen Schönheit ihr ganz persönliches Ideal von Vollkommenheit vermittelt: rasierter Schädel mit pinkfarbenem Pony, ebensolche Rastalocken, am Hinterkopf zusammengebunden, hohe Stiefel und Lederfetisch. Mythologisch ist eine solche Szene dicht umstellt. Sie ruft mit dem Narziss-Mythos all diejenigen psychoanalytischen Modelle auf den Plan, die die Subjektkonstitution von einem medial in Erscheinung tretenden Ideal abhängig machen. Von diesem Ideal leitet das Ich die Illusion seiner Integrität ab, um die Illusion – sollte die Entwicklungsgeschichte glücklich verlaufen – kritisch der Realität anzupassen; nichts anderes beschreibt Jacques Lacan 1949 in seinem berühmten Essay zum Le stade du miroir.[45]
Ikonografisch – und das ist in diesem Zusammenhang wichtiger – liegt der Szene der Bildtypus der ‚Venus vor dem Spiegel‘ zugrunde, der in Tizians Variante auf dem masochistischen Schauplatz eine zentrale Rolle spielt. Da Tizians Göttin im Spiegel ihre Zukunft, das  heißt sich selbst als alternde Frau, entdeckt (also moi zu je korrigiert) und dadurch profaniert wird, bietet sich dieses Gemälde für die Argumentation hier aber weniger an als Rubens’ Die Toilette der Venus (Abb. 3). Denn diese Venus ist kein Mensch, sondern eine Göttin, die sich ihrer Schönheit im Spiegel eigentlich auch nicht versichern muss (als Göttin hat sie das gar nicht nötig). Stattdessen kommuniziert der Spiegel mit dem Betrachter und bestätigt ihm das Ideal der Vollkommenheit, das die Venus verkörpert – genauer gesagt: Der Spiegel stellt die Göttlichkeit der Venus aus, die in ihrer Schönheit in Erscheinung tritt. Die schizoide Konfiguration der beiden Spiegelbilder auf der Fotografie Alexandras ist im Vergleich dazu etwas schwieriger zu deuten. Sie zeigt, dass zwar auch Alexandra ihre ethische Selbstbewirtschaftung an einem Ideal ausrichtet, das in seiner Schönheit auf die Transzendenz der Idee von sich selbst verweist. Die Pointe des Bildes besteht aber gerade darin, dass Alexandra dieses Ideals in seiner Vollkommenheit nicht ansichtig werden kann, auf die lediglich der Reentry – und das auch nur ex negativo – verweist.
Alexanders Opfer
Die Ausrichtung der ethischen Selbstbewirtschaftung des realen Ichs am idealen auf der einen Seite und die Tendenz des Ideals zur Transzendenz auf der anderen bestätigt auch die Fotografie Alexanders (S. 112) Gleichzeitig zeigt gerade dieses Bild, dass eine solche Bewirtschaftung die Einwilligung in das Leiden an und für das Ideal voraussetzt, dem sich der Einzelne unterwirft, um es zu erreichen und sich selbst dabei zu überwinden: „Alexander, 28, ist selbstständiger Fliesenleger. Für ihn ist das Modeln eher Gag als finanzielle Notwendigkeit. Seine Ex-Freundin habe immer gesagt, er müsse aus seinem Aussehen etwas machen“[46], erläutert Andreas Wenderoth den biographischen Hintergrund eines jungen Mannes, der sich – bekleidet nur mit einer schwarzen Hose – mit kahlem, behörntem Schädel und tätowiertem Oberkörper über das blutverschmierte Handwaschbecken beugt, und ergänzt:
Schließlich hat er viel dafür getan. Als die Hebamme ihn erblickte, sagte sie zum Vater: „Da haben sie sich aber nicht viel Mühe gegeben!“ Ein „dünner Hering“, noch mit 18 nur 65 Kilo schwer. Doch dann ging er in die Offensive. Fünfmal die Woche Kraftsport, Eiweißpulver, bald breitete sich sein Körper auf 90 Kilo aus, Alexander pumpte sich zur tätowierten Kampfmaschine mit Stahlohrringen auf. [47]
Wohl wahr – viel hat er für sein Ideal getan und sicherlich beim ‚Aufpumpen zur Kampfmaschine‘ erhebliches Leid in Kauf genommen: den schmerzhaften Prozess der Tätowierung in langen Sitzungen, die nicht weniger schmerzhaften Operationen für die Implantate mit wochenlangen Heilungsprozessen. Auch die Pflege des Gesamtkunstwerks, den Alexanders Körper nun darstellt, die strenge Disziplin sowie der hohe psychische, physische und bio-chemische Aufwand seiner Unterhaltung, setzen die Einwilligung in zumindest zeitweiligen Aufschub der Lust voraus, wenn es im Kraftraum an die Grenzen der Belastbarkeit des eigenen Organismus geht.
Das Leiden am Ideal ist also das eigentliche Thema dieses Bildes – und zwar dasjenige Leiden, das weniger ein körperliches Datum als vielmehr ein Kommunikationsmedium ist[48] –, symbolisch generalisiert insofern, als es ein Leitbild voraussetzt, das Alexander auf seinem Weg von 65 zu 90 Kilo buchstäblich vor Augen geschwebt hat; mit dieser symbolisch generalisierten Position des alter kommuniziert ego in einem ununterbrochenen Selbstgespräch. In Alexanders Fall kommt hinzu, dass an diesem Prozess offenbar eine Reihe von Agenten des Ideals beteiligt sind. Mit ihnen geht er Beziehungen ein, die im Rahmen der masochistischen Ökonomie als Verträge bezeichnet werden können – als Leidensverträge, die Bestandteil der Kommunikation des Ideals sind. Alexander hat sie mit dem Tätowierer abgeschlossen, dem plastischen Chirurgen, dem Trainer im Kraftraum, dem Vertragshändler des Eiweißpulvers seiner Wahl usw. Vertraglich geregelt in einem etwas weiteren Sinn ist dadurch aber natürlich vor allem das Leid an und für sich, ohne das Alexanders Ideal seine Gültigkeit als Ideal nicht hätte.
Die Berliner Fotografen wählen für diese Engführung von Leid und Ideal ein geradezu archetypisches Symbol: das rote Blut im weißen Waschbecken. Es symbolisiert das Opfer, das Alexander für sein Ideal erbracht hat. Dadurch, dass dieses Blut aus keiner Wunde des Körpers fließt, kann es sich – logischerweise – eigentlich nur um das Blut desjenigen handeln, den Alexander geopfert hat: das Blut des „dünnen Herings“. Kulturgeschichtlich führt dieses Blutopfer an die Ursprünge der Kultur zurück. Dass in jedem Abendmahlsgottesdienst das Blut Christi getrunken wird (Transsubstantiation hin oder her) mag zumindest andeuten, worum es auch auf dem Bild von Alexander geht: um einen uralten Ritus der Reinigung und mit ihm wiederum um Transzendenz. Denn der Körper, der sich nun über das Handwaschbecken beugt, soll kein menschlicher mehr sein, sondern ein heiliger Körper. Die Vergöttlichung, deren Symbolik bei Neumann und Rodtmann so archaisch ausfällt, macht aus Alexander einen modernen Satyr. In ihrer Obszönität – die Hörner der Satyrn sind phallischer Natur – ruft die Inszenierung nicht nur den griechischen Gott Dionysos ins Gedächtnis, sondern mit diesem jene Initiations- und Weiheriten, die auf die Ursprünge der Kultur verweisen. Diesem göttlichen Ideal, das er verkörpert, hat Alexander sein Opfer gebracht: den Fliesenleger, dessen letzte blutige Spuren noch im Waschbecken zu sehen sind.
Apotheose Magnetos
Wie weit eine solche Selbst-Idealisierung gehen kann, wie stark sie symbolisch überhöht und überbildet ist, macht Magneto deutlich, für den Neumann und Rodtmann vielleicht gerade deshalb das Lokal gewechselt haben (S. 80). Magneto liegt mit geschlossenen Augen in der Badewanne. Zu sehen ist nur sein tätowiertes Haupt mit dem großen Metallimplantat auf Magnetos linkem Ohr. Von oben fällt Licht auf die Szene, und zwar zusammen mit den Wassertropfen, die – so ergänzt man auf der Basis von Alltagswissen – auf eine höher angebrachte Dusche schließen lassen. Bei dieser Inszenierung kommt freilich ein Element ins Spiel, das in den bisherigen Überlegungen unwichtig war: der Name der fotografierten Person, ohne den diese Inszenierung nicht funktionieren würde.
Als Held der Comic-Serie X-Men stammt Magneto aus dem Marvel-Universum, in dem sich eine eigene Welt auftut. Grundsätzlich geht es in dieser Welt um das Verhältnis zwischen den Menschen und den sogenannten Mutanten, die wie die Menschen selbst in ‚gute‘ und ‚böse‘ unterteilt werden. Während die X-Men sich mit den guten Menschen verbünden, kämpft der Erzfeind der X-Men mit den menschenfeindlichen Mutanten gegen beide, wobei Magneto seine übernatürlichen Fähigkeiten zu fliegen und Metalle bis auf molekulare Ebene zu manipulieren, außerdem elektromagnetische Kraftfelder und Energiestöße zu erzeugen, große Macht verleihen (Abb. 4). Er verspricht den Mutanten, sie von der Herrschaft der Menschen, die sie herabwürdigen und unterdrücken, zu befreien. Typologisch handelt es sich bei Magneto also um einen Messias, der die Mutanten in ein neues Zeitalter führen wird. Verheißung und Erfüllung bilden das Spannungsfeld, in dem Magneto im Marvel-Universum auftritt.
Schon dem Namen nach versteht sich Magneto daher nicht als Wesen von dieser Welt, sondern richtet seine ethische Selbstbewirtschaftung an einem Kulturstifter und Heilsbringer aus. Neumann und Rodtmann gehen in der Symbolik der Bilder aber noch einen Schritt weiter. Diese zeigt, wie stark Magnetos Ideal vom Heiligen, ja vom Göttlichen her gedacht ist. Zwei ikonografische Bildtypen überlagern dabei die Badewanne: Der Bildtypus ‚Taufe Christi‘ und der Bildtypus ‚Christus als Schmerzensmann‘. Die Assoziation der Szene mit einer Taufe liegt insofern nahe, als solche Bilder nicht selten – wie beispielsweise auf Guido Renis Darstellung der Taufe Christi (Abb. 5) – das von oben einfallende göttliche Licht (Reni unterstützt es mit der Taube als Symbol des Heiligen Geistes) mit dem von oben kommenden Taufwasser verbinden; die Wasserquelle ist auf Renis Bild durch das Gefäß in Johannes’ Händen freilich näher über dem Kopf platziert als die Dusche auf dem Bild Magnetos.
In dessen Schädel nun ein Schmerzenshaupt zu erkennen, liegt zum einen im Hinblick auf die im Zusammenhang mit Alexander angestellten Überlegungen zur Engführung von Ideal und Leid nahe. Zum anderen wird Christi Dornenkrone – Symbol seiner Passion – bei Magneto durch das kranzförmige, gezackte Tattoo um die Stirn stilisiert. Während Albrecht Dürer auf seinem Gemälde Christus als Schmerzensmann das Licht als Aureole kreisförmig um das göttliche Haupt anordnet (Abb. 6), fällt es auf Magneto von oben. Gleichzeitig korrespondiert der geschlossene Raum des Bades mit der Grabhöhle Christi, so dass die Konfiguration der Fotografie das Evangelium im Grunde genommen symbolisch verdichtet, indem sie Taufe und Passion Christi aufeinander abbildet: Es entsteht der Eindruck, als ob zwei Bilder übereinander gelegt seien. Auf diese Art und Weise wird Magneto als das dargestellt, was seinem Ideal entspricht: als Heiland.
In der Fotoserie Körper der Berliner Fotografen Jens Neumann und Edgar Rodtmann, die ich vor dem Hintergrund der Schiller-Briefe beschrieben habe, fehlt freilich die Verankerung des Ideals im Gemeinsinn. In der postbürgerlichen Gesellschaft folgt jede einzelne Person in ihrer Selbstbewirtschaftung (irgend)einem Ideal. Dessen Vollkommenheit steht indes mit der Schönheit des Leitbildes außer Frage, die mit jedem ‚Typus‘ sichtbar wird. In der Einwilligung in das Leiden für dieses Ideal überwinden sie alle ihre alltägliche Existenz, gegen die sie sich protestierend und provozierend aufgelehnt haben. Indem sie ihr reales einem idealen Ich unterwerfen, ja es ihm opfern, werden sie zu Göttern, Priestern oder Propheten ihrer eigenen Religion und geben der Gesellschaft das zurück, was diese verloren hat: jenes ‚Ewige des Wahren, Guten, Schönen‘.
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Fußnoten
1 Goethe (1805), 891.
2 Kant (1790), 297.
3 Die Überlegungen zu Schillers Briefen folgen dem ersten Teil meiner Tübinger Antrittsvorlesung vom 9. Juni 2010: „Leidensverträge. Ethik und Ästhetik der klassizistischen Tragödie (Goethe – Schiller – Kleist)“.
4 Benjamin (1928), 337.
5 Schiller (1795), 557.
6 Schiller (1795). Die Briefe erschienen im ersten, zweiten und sechsten Stück des ersten Jahrgangs der Horen. Zur philosophischen Tradition vgl. u. a. Beiser (2005).
 7 www.neumannundrodtmann.de (15.02.2011).
 8 Schiller (1795), 660.
 9 Schiller (1795), 570.
10 Schiller (1795), 674.
11 Schiller (1795), 561.
12 Vgl. den Beitrag von Klaus Sachs-Hombach in diesem Heft.
13 Schiller (1795), 616.
14 Schiller (1795), 564.
15 Schiller (1795), 564.
16 Vgl. Luhmann (1990).
17 Luhmann (1990), 189.
18 Schiller (1795), 557.
19 Schiller (1795), 556.
20 Schiller (1795), 568.
21 Schiller (1795), 560.
22 Schiller (1795), 565, Herv. im Orig.
23 Schiller (1795), 578.
24 Schiller (1795), 620.
25 Schiller (1795), 648, Herv. im Orig.
26 Schiller (1795), 561.
27 Der Spiegel zeigt die alte Frau, und das heißt: die Konstellation kalkuliert mit der Sterblichkeit der Göttin.
28 Deleuze (1968), 204f.
29 Freud (1927), 314.
30 Vgl. Schiller (1795), 574.
31 Schiller (1784), 185. Die Vorlesung erschien leicht verändert 1802 unter dem Titel Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet.
32 Schiller (1784), 194.
33 Schiller (1784), 197.
34 www.autseider.de (15.02.2011).
35 Wenderoth (2007).
36 Neumann und Rodtmann haben die Fotos für dieses Heft ausgewählt.
37 Pfaller (2008), 24.
38 Pfaller (2008), 27.
39 Vgl. Douglas (1985).
40 Pfaller (2008), 33.
41 Deleuze (1968), 210.
42 Deleuze (1968), 211.
43 Pfaller (2008), 25.
44 Pfaller (2008), 24.
45 Lacan (1949).
46 Wenderoth (2007).
47 Wenderoth (2007).
48 Vgl. meine Einleitung.