„Sermo profundissimus“
Die Armutspredigt Meister Eckharts im Spiegel einer Handschrift aus der Kartause Erfurt
Armut ist ein ambivalenter Begriff. Dem Mangel an materiellen Gütern und sozialer Ausgrenzung stehen Formen freiwilligen Verzichts gegenüber, die in bewusster Einfachheit einen Weg zu Freiheit und Selbstbestimmtheit sehen. Bereits an der Antike ließe sich zeigen, wie sehr diese Ambivalenz von Widersprüchen und Umschwüngen gekennzeichnet ist. Dies gilt in vergleichbarer Weise auch für die mittelalterliche Klosterkultur, die antikes Erbe in Modelle christlicher Nachfolge umformte und in Armut das Kennzeichen des Weges sah, zu Heiligung und Vervollkommnung zu gelangen. Die parallelen Gründungen der Franziskaner und Dominikaner zu Beginn des 13. Jahrhunderts verschärften den Semantisierungsbedarf, was nicht nur im gelehrten Diskurs, sondern auch in den sozialen Formationen nach Abgrenzungen verlangte. ‚Innere‘ und ‚äußere‘ Armut bildete in der Tradition einer Selbstaufgabe, die geistige Reinigung übte, gleichsam die Leitdifferenz. Sie musste der Dominikaner Meister Eckhart nicht erst erfinden. In seiner Armutspredigt, die vermutlich in den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts in Köln entstand, ging Eckhart jedoch einen entscheidenden Schritt weiter: In innerster, geistiger Armut müsse der Mensch noch die höchste Unterscheidung ablegen, insofern er in das Eine seines ersten Grundes zurückkehren wolle. Um dieses radikale Modell einer geistigen Selbstbegründung historisch zu konturieren, lese ich die Armutspredigt im Spiegel einer Handschrift aus der Kartause Erfurt. Diese Handschrift kürzt stark, lässt aber in dieser Form das signifikante Profil des Eckhart-Textes, wie ihn die kritische Edition aus der Gesamtheit der Überlieferung gewonnen hat, umso deutlicher hervortreten.
Geistige Armut – nichts wollen, nichts wissen, nichts haben
Wie populär das Modell innerer Armut für die Zivilisationskritik der Moderne geworden ist, zeigt der große Erfolg, den der Sozialforscher und Psychoanalytiker Erich Fromm mit Haben oder Sein (im englischen Original: To Have or to Be?) weltweit erzielt hat. Eckhart habe, so Fromm, „den Unterschied zwischen den Existenzweisen des Habens und Seins mit einer Eindringlichkeit und Klarheit beschrieben und analysiert, wie sie von niemandem je wieder erreicht worden ist.“[1] Bei seiner modernisierenden Lektüre der Armutspredigt, die er ins Zentrum stellte, stützte sich Fromm auf die Ausgabe und Übersetzung der deutschen Werke Eckharts durch Josef Quint.[2] Inzwischen liegt eine neue Edition dieser Predigt von Georg Steer mit Übersetzung und Deutung von Kurt Flasch vor, die im ersten Band der Reihe Lectura Eckhardi erschienen ist.[3] Diesen Beitrag lege ich meinen Ausführungen zugrunde.
Die Armutspredigt scheint, darin den frühen Erfurter Reden Eckharts vergleichbar, in einen Lehrkontext eingebunden. Das Schriftwort Beati pauperes spiritu, quoniam ipsorum est regnum caelorum[4] ist zwar Ausgangspunkt, doch habe man ihn, so die Stimme des Predigers, gefragt, was das Wesen der Armut und was ein armer Mensch sei. Die Antwort setzt mit einer Abgrenzung gegenüber der Position des Albertus Magnus ein; Armut in diesem Sinne sei, kein Genügen an all denjenigen Dingen zu finden, die Gott geschaffen habe. Diese Auffassung ist traditionsreich: Alles lassen, sich selbst verneinen, sich von den Dingen der Welt abkehren, das sind Formeln einer Kontingenzbewältigung, die zu Einfachheit, Ruhe und Wahrheit und damit im theologischen Kontext zu Gott leiten. Doch diese konventionelle Auffassung kommt im Sinne der Armutspredigt an den entscheidenden Punkt gar nicht heran. Die Armutspredigt nimmt stattdessen für sich in Anspruch, Armut in einem höheren Sinne zu fassen: „Ein armer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat.“[5]
So emphatisch diese Formulierung, so wenig ist sie neu. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war es in Frankreich zu einem Aufsehen erregenden Ketzerprozess gekommen. Angeklagt war die Begine Margareta Porete, die in ihrem Spiegel der einfachen Seelen (Le Miroir des simples âmes et anéanties) von einem vollkommenen Leben gesprochen hatte, in das alle diejenigen eintreten, die ihren eigenen Willen gänzlich aufgeben und in der Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit zum Zustand des Friedens gelangen. Eine solche Seele betet um nichts und ist eingetreten in die Fülle und den Überfluss der göttlichen Liebe. „Und eine solche Seele, die ein Nichts geworden ist, hat dann alles und hat doch nichts, will alles und will nichts, weiß alles und weiß nichts“.[6] Nach einem mehrjährigen Prozess wird Margareta Porete verurteilt und 1310 in Paris hingerichtet. Kurz darauf tritt Eckhart sein zweites Pariser Magisterium an. Man vermutet, dass er über den Inquisitor Wilhelm von Paris im Dominikanerkonvent Saint Jacques von dem Verfahren gegen Margareta Porete Kenntnis erlangte und den Spiegel der einfachen Seelen zumindest in Auszügen vor sich hatte.[7] Eine ältere, neu entdeckte Predigt Eckharts weist die Formel ‚nichts wollen, nichts wissen, nichts haben‘ Bernhard von Clairvaux zu.[8] Auch im Buch der göttlichen Tröstung hatte Eckhart ähnliche Formulierungen benutzt, obgleich er in diesem Traktat noch von Haben und Wissen Gottes spricht – selbst wenn es der Wille Gottes wäre, dass der Mensch die Gnade und Gutheit Gottes entbehrte, solle der Mensch getröstet sein, denn so habe, finde und wisse man nichts, dessen man sich freuen könne, als Gott und den Willen Gottes allein.[9] Erst in der Armutspredigt nutzt er diese Formulierungen in konsequenter Weise, um die ‚Armut des Geistes‘ nicht auf die Lösung von der geschaffenen Welt zu beziehen, sondern auf die Beziehung zur Transzendenz selbst.
Denn wenn man das ‚nichts‘ der Definition der Armut jeweils auf das Geschaffene bezieht, bliebe man der noch gängigen Position verhaftet. Die Armutspredigt geht den entscheidenden Schritt, Wollen, Wissen und Haben auf Gott selbst zu beziehen. Wer nichts will außer den Willen Gottes, wer nichts weiß, außer dass Gott in ihm wirkt, wer nichts hat bis auf eine Stätte, einen Ort in sich, in dem Gott wirken kann – der hat sich zwar von der Welt der geschaffenen Dinge befreit, nicht aber vom Wollen, Wissen und Haben Gottes selbst. Solange der Mensch dieser Intention anhängt, bleibt er von Gott getrennt. Offen polemisiert die Predigt gegen Praktiken der Klosterkultur, die in ihren Symbolisierungen die Kluft nur vertiefen. Erst wenn der arme Mensch Wollen, Wissen und Haben dergestalt lässt, dass er auch den Willen aufgibt, Gott wissen und haben zu wollen, gelangt er in den ersten Grund, in dem Gott und ich eins sind. In diesem Grund bin ich – und es ist nicht der Prediger, der hier von einer mystischen Erfahrung im Sinne eines ekstatischen Heraustretens aus Raum und Zeit spräche, sondern es geht um den ‚armen Menschen‘ schlechthin – Grund meiner selbst, da ich in dieser Einheit keinen Gotthabe, von dem ich nterschieden wäre. In diesem Grund bin ich ein Erkennender meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Vergegenwärtigen wir uns genau den Wortlaut dieses Satzes, der sich auf den ersten Grund bezieht: „Dort verlangte ich nach nichts, denn ich war abgelöst von ihm [Gott] und ein Erkennender meiner selbst im Genuß der Wahrheit.“[10] In der Fassung der Predigt nach der Handschrift aus der Erfurter Kartause kommt es hier zu einem dramatischen Wechsel, denn der Text lautet hier (ich übersetze): „denn ich war abgelöst von allen Dingen und erkannte
mich selbst nicht.“ Bevor ich auf die Frage eingehe, was hier passiert ist, möchte ich kurz die Handschrift vorstellen.
Die Armutspredigt in einer Handschrift aus der Kartause Erfurt
Die Armutspredigt ist in zwölf Handschriften und im Baseler Taulerdruck überliefert. Georg Steer hat jetzt der neuen Edition ein Stemma vorangestellt, das drei Überlieferungsgruppen sichtbar werden lässt.[11] Den bislang bekannten Überlieferungszeugen ist nun eine weitere, die Handschrift aus der Kartause Erfurt, hinzuzufügen. Es handelt sich um eine Handschrift aus dem 15. Jahrhundert mit überwiegend lateinischen Texten, die heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz unter der Signatur Ms. lat. oct. 214 aufbewahrt wird. Bislang war meines Wissens nicht bekannt, dass diese Handschrift auch die Armutspredigt Meister Eckharts überliefert. Dabei ist die Predigt in der Handschrift mit einer Überschrift auffällig platziert, die den überragenden Status dieser Predigt deutlich herausstellt: Sermo profundissimus de Altissima et perfectissima paupertate spirituali Egregij doctoris Johannis tawler de ordine fratrum predicatorum (fol. 149r). Eine Zuschreibung an Johannes Tauler aus dem Orden der Predigerbrüder, den Dominikanern, findet sich auch im pätmittelalterlichen Bibliothekskatalog (wobei dieser Eintrag möglicherweise auf das Inhaltsverzeichnis der Handschrift zurückgeht und zudem noch einen weiteren Text zur Armutsthematik anzeigt): Item Johannes Tauler de perfectissima paupertate.[12] Man nimmt an, dass dieser Bibliothekskatalog vor 1480 von dem Theologen und Kartäuser Jacob Volradi angelegt wurde.[13] Das Bemerkenswerte an diesem Katalog – schon als Dokument einer der größten Klosterbibliotheken des späten 15. Jahrhunderts von hohem Wert – ist das Aufbaumuster, denn die gesamte Bibliothek, so Erich Kleineidam, ist „nach einem festen theologischen Prinzip aufgebaut.“[14] Die Handschrift Berlin, SBB-PK, Ms. lat. oct. 214 führt in dem mittelalterlichen Bibliothekskatalog die Signatur D 8 und gehört damit zu der Gruppe von Büchern, die ‚mystische Theologie‘ behandelt: Diversi libri pro theologia occulta divinissima, que dicitur mistica sub littera D consignati.[15] Die Diskussion um den Mystikbegriff könnte sehr davon profitieren, die Verwendung des Begriffs ‚mystisch‘ gerade in einem bibliotheksgeschichtlichen Kontext, in dem es um Kategorien von kulturellen Wissensordnungen geht, auf seine spezifischen Verwendungsweisen hin zu untersuchen, auch wenn dieser Begriff des Mystischen, wie er im 15. Jahrhundert verwendet wird, nicht auf Meister Eckhart zurückprojiziert werden darf. Eine eingehende Analyse dieser hochrangigen Abteilung für ‚mystische Theologie‘ legt die Ausführlichkeit des spätmittelalterlichen Kataloges, der detailliert den Inhalt der jeweiligen Handschriften aufführt, geradezu nahe.
Textualität ist im Mittelalter von der Varianz handschriftlicher Überlieferung geprägt – dieser allgemeine Satz ließe sich auch an der Armutspredigt ausführlich belegen. Die Ursache für die genannte Textdifferenz in der Erfurter Kartause zu suchen, wäre indes nicht sinnvoll. Folgt man den Ergebnissen der Untersuchungen von Quint und Steer, drängt sich eine andere Vermutung auf. Vergleicht man die Besonderheiten des Textes der Handschrift aus der Erfurter Kartause mit den Varianten der übrigen Überlieferungszeugen, so ergeben sich Übereinstimmungen mit einer der drei Überlieferungsgruppen, zu der auch eine Würzburger, eine Göttinger und eine Ebstorfer Handschrift gehören. Der Text der Predigt ist in dieser Gruppe überarbeitet.[16] Wie sich der Text der Berliner Handschrift genau zu den Handschriften dieser Gruppe verhält, ist in Detailarbeit noch zu klären. Einzubeziehen wäre auch ein charakteristischer Vorspann, den die Berliner Handschrift ebenfalls bietet. Doch für die Interpretation ergibt sich schon jetzt ein faszinierender Befund. Die Armutspredigt wird in einer Gruppe von spätmittelalterlichen Handschriften in einer Version verbreitet, die Eckharts radikaler Umdeutung geistlicher Armut an einem entscheidenden Punkt nicht folgt. Nicht die Abgeschiedenheit Gottes, sondern die Losgelöstheit von allen Dingen wird zum Fokus. Genau diese Position hatte Eckhart abgewiesen. Entsprechend ist in diesem Deutungsrahmen auch die absolute Selbsterkenntnis des armen Menschen im Genuss der Wahrheit nicht denkbar. Mit der neuen Semantik der Armut wird also zugleich ihre Zurücknahme überliefert – das ist eine Textdynamik, wie sie auch über diese Handschrift und ihre mögliche Überlieferungsgruppe hinaus zu beobachten ist.[17] Die Armutspredigt Eckharts mit ihrem radikalen Gedanken, geistige Armut heiße, Gottes selbst ledig zu sein, wurde bald nach Eckharts Tod heftig kritisiert. Dass sie nicht zum Prozess gegen Eckhart herangezogen wurde, erklärt man sich dadurch, dass sie erst spät entstand. Aber die Tendenzen des Diskurses, diese Zuspitzung der Verneinung von Unterschiedlichkeit zurückzunehmen und stattdessen die Wirkung der göttlichen Gnade zu betonen, treten schon in der Überlieferung der Predigt selbst zutage. Das Entziffern dieser Überlieferung mündet somit in eine historische Lektüre, die es erlaubt, den Text aus seiner eigenen Varianz heraus zu lesen. Sie lässt eine Ambivalenz sichtbar werden, die weder einen positiven oder negativen Wert von Armut betrifft, noch die Unterscheidung von innerer und äußerer Armut, sondern die innerste Armut selbst.
Die Ununterschiedenheit in der Einheit des ersten Grundes
Eckhart hebt in seiner Armutspredigt die Anthropologie des armen Menschen ebenso wie die Theologie des Schöpfergottes in eine Einheitslehre auf, in der es keinen Unterschied gibt zwischen Gott und armen Menschen. Die Predigt ist jedoch nicht interessiert an dem empirischen Ich dieses oder jenes Menschen als Instanz seiner sozialen oder psychischen Identität. Die Selbsterkenntnis des Ich im geistigen Vollzug der Einheit und im Genuss der Wahrheit steht in diesem Denken nicht für die Konstitution moderner Subjektivität und im Dienste moderner Zivilisationskritik, sondern für eine völlige Einkehr des von allem entblößten armen Menschen, der vernichteten Seele, in den vernünftigen Abgrund des göttlichen Wesens. Die Traditionslinien dieses Modells geistiger Armut wurzeln im philosophischen Denken der Antike und dessen mittelalterlicher Rezeption und Kommentierung. Es entfaltet jedoch seine besondere Brisanz in der Kritik einer religiösen Kultur, die in paradoxer Weise ihre Weltabsage mit einer Medialisierung des Transzendenten betreibt. Man müsste eine Ethnographie des Klosters schreiben, um die Praktiken und Symbolisierungen darzustellen, die die Vergegenwärtigung des Heiligen umfassend begleiten. Schon in seinen frühen Erfurter Reden legte Eckhart die Aporien dieser Kultur scharfsinnig bloß, wobei er sich gerade auf Formen ‚innerer‘ Vergegenwärtigungen sensueller oder imaginativer Art konzentriert. Nachdem er in seinen Predigten die Leitbegriffe der Klosterkultur umgedeutet hatte, setzt er mit der Armutspredigt den Schlussstein in seine Lehre, indem er das Armutsgebot selbst als Verneinung aller Unterschiedlichkeit bestimmt.
So zielt das Verständnis von ‚geistiger Armut‘ auf die Einheit im ersten Grund, in dem das Wollen nicht etwas vom Sein Unterschiedenes ist, sondern in dem Wollen und Sein eins sind. Auch eine solche Aussage zählt zu den Auslassungen der Handschrift aus der Erfurter Kartause. Sie bietet zwar die Ausführungen zu den drei Dispositionspunkten „nichts wollen, nichts wissen und nichts haben“, kürzt aber – das ist ein weiteres Merkmal dieser Version – bei den sich jeweils anschließenden Erläuterungen. Diese Erläuterungen umkreisen die Einheit des ersten Grundes immer wieder neu. Dieser Grund liegt nicht in der Zeit, sondern in einem ewigen Augenblick über alle Zeit. Diesen Ursprung für Gott zu halten, ist eine Perspektive eines geschaffenen Wesens, in diesem Grund ist Gott nicht Gott, sondern er ist, was er ist – die Tautologie wird zur angemessenen Sprachfigur dieses namenlosen Seins im ersten Grund. Dasselbe gilt für den armen Menschen, den wir auch den inneren Menschen oder den gerechten Menschen nennen könnten, den Menschen in seiner Abgeschiedenheit und Gelassenheit, den Sohn, der sich in nichts vom Vater unterscheidet, außer in der Weise seines Geborenseins, das Fünklein in der Seele, den in den ersten Grund gegründeten Grund der Seele. Um was sollte dieser Mensch bitten, außer darum – um diese pointierte Formulierung nicht wie die Handschrift aus der Erfurter Kartause zu unterschlagen –, daz wir gotes quît werden?[18] Wozu sollte ich Gott suchen, wenn Gott schon einer Fliege nicht genügen könnte, wenn diese, falls sie Vernunft hätte, in ihrer Vernünftigkeit den ewigen Abgrund göttlichen Seins zu ergründen suchte, aus dem sie gekommen ist? An dieser Stelle klafft im Text der Armutspredigt nach der Handschrift aus der Erfurter Kartause eine empfindliche Lücke. Dass ‚nichts wollen‘ heißt, im ersten Grund zu stehen, dort keinen Gott zu haben und Grund seiner selbst zu sein, überliefert zwar die Berliner Handschrift, die weiteren Ausführungen zum ‚nichts wollen‘, die emphatische Betonung der Vernunft und die Bitte um die Befreiung von Gott, bleiben jedoch ausgespart.
Ein vergleichbarer Befund beim Wissen (auch hier schweigt die Handschrift aus Erfurt bei den erläuternden Äußerungen): eines ist in der Seele (als Begründendes, nicht als Teil), aus dem fließen Lieben und Erkennen, und dieses Eine, aus dem Lieben und Erkennen ausfließen, erkennt nicht und liebt nicht wie die Kräfte der Seele. Hier zeigt sich, was ‚nichts wissen‘ heißt: Dieses Eine hat weder Vor noch Nach, es kann nicht gewinnen noch verlieren. Es ist so abgeschieden, dass es nicht weiß, dass Gott in ihm wirkt. Warum soll sich ein solcher Mensch um tugendhafte Werke bemühen, wo er doch so losgelöst ist von jeglichen Kategorien des Denkens und Neigungen der Liebe, dass Gott rein in ihm wirkt und darin jedes Wirken des armen Men schen integriert ist in die absolute Performativität des göttlichen Selbstvollzugs? In der Ungeschiedenheit des ersten Grundes kann der arme Mensch die Werke Gottes weder wissen noch erkennen. Ein solches Erkennen setzte Unterschiedenheit von dem Erkannten voraus – im Nichtwissen geistiger Armut genießt sich der Erkennende daher allein in der Erkenntnis seiner selbst. Die Ambivalenz von Armut ist in diesem Modell nicht entschieden, sondern in ihrer Gegenläufigkeit bewahrt, indem die Negation, das Entbehren, den Genuss nicht ausschließt, sondern geradezu bedingt. Die Transgression ist hier immer zugleich eine Intensivierung. Es ist genau diese Gleichzeitigkeit von Entbehrung und Genuss in der Konstruktion des Heiligen, die Linien zu Texten der mystischen Vitenliteratur zieht, in denen die Beziehung zur Transzendenz narrativisiert und damit biographisiert wird.
Auch beim dritten Punkt, der innersten Armut des ‚Nichts-Habens‘, findet sich im Text der Handschrift aus der Erfurter Kartause eine beträchtliche Lücke. Diese Lücke ist umso bedeutender, als Eckhart in der Predigt selbst eine Revision vornimmt. Habe er manches Mal gesagt, der Mensch solle so abgelöst sein von allen Dingen und Werken, innerlich wie äußerlich, dass er Gottes eigene Stätte werde, in der Gott wirken könne, so spreche er jetzt anders. Die Predigt kommt damit zum Gipfel ihrer Argumentation. Habe sich der Mensch zwar von allen Geschöpfen, von Gott und von sich selbst gelöst, habe aber noch eine Stätte in ihm, in der Gott wirken könne, so sei dieser Mensch nicht wirklich arm. Arm ist der Mensch im Grund seiner selbst, in der es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Gott und dem Selbst des Menschen, so dass der arme Mensch nicht mehr als ein Empfangender gedacht werden kann, der das göttliche Wirken erleidet, da er ja selbst integriert ist in dem geistigen Grund, in dem Gottes Sein und sein Sein, Gottes Ich und sein Ich, ein Sein, ein Ich, sind.[19] Armut wird darin als Freiheit gedacht, in der die Loslösung von allem Wissen, Wollen und Haben das mit sich selbst identische, im vernünftigen Selbstvollzug alles begründende Ich hervortreten lässt. Man kann sich denken, wie schmal der Grat ist, auf dem sich eine solche Lehre bewegt. Dieses Ich ist kein Ich einer individuellen Selbstbehauptung durch Vergöttlichung, sondern schließt in den Postulaten von geistiger Armut und Freiheit entscheidend das Lassen eines sich auf Andersheit gründenden Ichs ein. Die Seele, die sich in Gott hinein verliert, findet in dieser namenlosen Einheit erst ihr alles begründendes Ich.
In der Predigt schließt sich nicht umsonst die Frage nach der Gnade an. Ist diese Armut nicht eine Gnade Gottes? Hat nicht der heilige Paulus gesagt: Alles, das ich bin, das bin ich von der Gnade Gottes?[20] Wenn das Gesagte höher als die Gnade, das Sein und das Erkennen steigt, wie kann dann das Wort des heiligen Paulus wahr sein? Eckhart argumentiert: Paulus brauchte die Gnade, weil die Gnade bewirkte, dass das Zufällige an ihm in sein Wesen einging.[21] Doch als die Gnade ihr Werk vollbrachte und endete, da blieb Paulus, was er – in seinem ersten Grund immer schon – war. Die Gnade verhilft also dem Menschen zur Rückkehr in die Einheit des ersten Grundes, aber diese Einheit, aus der das Ich ungeschieden lebt und wirkt, ist selbst kein Werk der Gnade. Doch diese Erläuterungen zur Gnade fehlen bereits im Text der Handschrift aus der Erfurter Kartause. Dieser Text hatte schon die Aussagen, dass Gott sein eigenes Wirken erleidet und darin ein Wirker in sich selbst ist, also die Auflösung der Unterscheidung von Wirken und Empfangen, nicht mehr mitvollzogen. Stattdessen bricht die Berliner Handschrift die Predigt an dieser Stelle ab und fügt eine Schlusswendung an, die das ewige Sein des armen Menschen doch wieder ganz von der Gnade Gottes abhängig macht. Eine solche Betonung der Gnade, die beträchtlichen Auslassungen, die gerade subtile Explizierungen der Predigt betreffen, und der eingangs angesprochene Wechsel, mit dem die Selbsterkenntnis in der Einheit des ersten Grundes im Genuss der Wahrheit dementiert wird – das sind Merkmale einer Textdifferenz, die an der Handschrift aus der Kartause Erfurt ablesbar sind und die das Brisante der Lehre von der Einheit des Ichs im ersten Grund bereits in der Textüberlieferung des 15. Jahrhunderts hervortreten lassen.
Die Performativität geistiger Armut
Die Armutspredigt Eckharts arbeitet an einer Neudeutung des Begriffs geistiger, innerster Armut. Sie reiht sich diesem Verfahren nach in die deutschen Predigten und Traktate ein, die man insgesamt als Arbeit an der Semantik mittelalterlicher Klosterkultur lesen kann. Die Umwertung zentraler Konzepte dieser Kultur betreffen so herausgehobene Tugenden wie Gehorsam und Demut. Besonders prominent ist der Begriff der Abgeschiedenheit, der philosophisch-theologisch fundiert wird und sich auf die Unterscheidung des Einen von allem von ihm Unterschiedenen ebenso bezieht wie auf die Loslösung des Menschen von allen geschaffenen Dingen. Diese Abkehr bedeutet aber keineswegs Weltflucht, sondern die Verneinung eines räumlichen Denkens, das nach privilegierten Orten des Heiligen fragt. Wenn der Mensch in seinem Innersten so eins ist mit Gott, dass die Unterscheidung von Gott und Mensch selbst keinen Sinn mehr macht, wie es die Armutspredigt ausführt, stellt sich auch die Frage nach der Anwesenheit des Transzendenten auf eine gänzlich andere Weise als in einer Kultur symbolischer Vergegenwärtigung. Eine Anthropologie, die ihren Begriff des Menschen aus der geistigen Einheit mit dem ewigen Wesen heraus entwickelt, kann die Vergegenwärtigung des Transzendenten kaum als Erinnerungsgeschehen im Sinne einer Memorialkultur vorstellen. Sie geht von der aktuellen Präsenz des Göttlichen aus, wenn nicht solche Begriffe selbst schon wieder eine Unterschiedenheit einführen, die der arme Mensch zurückgelassen hat. Der arme Mensch erzeugt keine neue Differenz durch Wollen, Wissen und Haben. Er lebt und handelt in einer Performativität, die ihre Wirkkraft aus dem ersten Grund erhält – vielleicht ist es dieses Modell eines reinen, gerechten Wirkens, das sich nicht durch eine Selbstvergewisserung seiner Herkunft stört, das die Lehre von der geistigen Armut so anziehend macht.
Das Modell geistiger Armut sehe ich daher in besonderer Nähe zu aktuellen kulturwissenschaftlich geprägten Entwürfen, die das Präsentische und Ereignishafte kultureller Vollzüge in den Vordergrund stellen und Aneignungsformen beschreiben, die das Andere nicht in zeichenhafter Differenz distanziert, sondern es in der bannenden Macht seines Erscheinens wirken lässt. Es scheinen mir aber gleichzeitig wichtige Unterschiede zu bestehen. So hebt beispielsweise Hans Ulrich Gumbrecht für sein Konzept einer Präsenzkultur die Kategorie des Raumes hervor (ich greife hier nur einen Aspekt heraus).[22] Aber genau diese Kategorie hat Eckhart in seiner Armutspredigt dekonstruiert: Präsenz ist nicht bezogen auf Räumlichkeit, sondern auf die Wirklichkeit eines Wirkens aus dem ersten, geistigen, einen Grund. Auch im Vergleich zu einer ‚Ästhetik des Performativen‘ wären Unterschiede zu bedenken, insofern diese gerade auf die Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung von Wahrnehmbarem verweist und damit die materielle Dinglichkeit einer Bildwelt voraussetzt.[23] Beide Ansätze sprechen mit Bezug auf Martin Heidegger von Gelassenheit.[24] Die Aufmerksamkeit richtet sich fraglos auf einen Modus der Weltaneignung, der die Differenz von Aktivität und Passivität, Subjekt und Objekt, Zeit und Ereignis unterläuft. Aus mediävistischer Perspektive scheint mir der entscheidende Punkt an der Armutspredigt Meister Eckharts zu sein, dass er die vermeintliche Präsenz im Gott-Haben als Simulation entlarvt. Eine unmittelbar bannende, sinnlich wirkende Kraft, die in magischer Weise überwältigt und diese Überwältigung in einer entsprechenden Empfindungsintensität bestätigt, eine solche Ergriffenheit ist für Eckhart geradezu der Beweis für ein Habenwollen, das mit dem Entschwinden des Empfindens unmittelbar in die Klage um den Verlust umschlägt. Wenn man die Armutspredigt mit dem Buch der göttlichen Tröstung verknüpfen wollte, könnte man folgern, dass der arme Mensch gerade daran erkennbar ist, dass er keine Klage kennt. Seine Klage wäre nur Ausdruck einer Differenz, die durch sein Habenwollen selbst konstituiert wird. Gelassenheit kann in einem solchen Modell nicht Modus der Weltaneignung sein. Sie ist Modus der Selbstvernichtung, um befreit von Gott in einer vom göttlichen Wirken ungeschiedenen Performativität die Welt selbst hervorzubringen. Dass dies nicht als Vergöttlichung des Menschen insgesamt missverstanden werden kann, umschreibt das Modell geistiger, innerster Armut. Es verlagert die Grenze von Transzendenz und Immanenz in den Menschen selbst, insofern er seine eigene Transzendenz immer schon als seinen ersten Grund in sich trägt. Der Genuss, sich in der geistigen Einheit dieses Grundes jenseits von Begriffen und Vorstellungen rein ichhaft zu erkennen, darin liegt die Ambivalenz der geistigen Armut, geht aber zugleich einher mit der Vernichtung seiner selbst und der Entbehrung Gottes. Gelassenheit in diesem Sinne begänne also stets mit ihrem eigenen Verzicht.
Â
[1] Fromm (1979), 64.
[2] Predigt Nr. 52. In: Meister Eckhart (1936-2003), Bd. 2, 478-524.
[3] Flasch (1998).
[4] Matth. 5,3.
[5] Flasch (1998), 169, Z. 23f.
[6] Porete (1987), 24.
[7] Vgl. besonders die Thesen von Ruh (21989), 104.
[8] Löser (2005), 71.
[9] Vgl. Meister Eckhart (1936-2003), Bd. 5, 23, Z. 2-11.
[10] Flasch (1998), 173, Z. 2-4.
[11] Vgl. Flasch (1998), 166.
[12] Bayerische Akademie der Wissenschaften in München (1928), 310, Z. 9.
[13] Vgl. Kleineidam (1983), 186.
[14] Kleineidam (1983), 187.
[15] Bayerische Akademie der Wissenschaften in München (1928), 298, Z. 5f.
[16] Vgl. Flasch (1998), 165.
[17] Vgl. Hasebrink (1994).
[18] Flasch (1998), 172, Z. 16.
[19] Vgl. auch Mojsisch (2003), 197.
[20] 1 Kor. 1,15.
[21] Flasch (1998), 177, Z. 24f.
[22] Vgl. Gumbrecht (2004), 103.
[23] Vgl. Mersch (2002).
[24] Vgl. Gumbrecht (2004), 92; Mersch (2002), 49.Â
Bibliographie
Bayerische Akademie der Wissenschaften in München, Hg. (1928): Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Bistum Mainz, Erfurt, bearbeitet von Paul Lehmann. München: Beck, Bd. 2, 221- 593.
Meister Eckhart (1936-2003): Die deutschen Werke. 5 Bde. Hgg. u. Ãœbers.: Josef Quint/Georg Steer u. a. Stuttgart: Kohlhammer (= Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke).
Flasch, Kurt (1998): „Predigt Nr. 52 ‚Beati pauperes spiritu‘“. Mit einer neuen Edition und einer Vorbemerkung von Georg Steer. In: Lectura Eckhardi I. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Hgg.: Georg Steer/Loris Sturlese. Stuttgart, Berlin, Köln: Metzler, 163-199.
Fromm, Erich (1979): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft [1976]. Übers.: Brigitte Stein. München: dtv.
Hasebrink, Burkhard (1994): „Der Rebdorfer Eckhartkommentar. Überlieferung und Kommentierung der Armutspredigt Meister Eckharts in der Rebdorfer Handschrift Cgm 455“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 113 (Sonderheft Mystik), 207-222.
Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übers.: Joachim Schulte. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Kleineidam, Erich (1983): „Die Spiritualität der Kartäuser im Spiegel der Erfurter Kartäuser-Bibliothek“. In: Die Kartäuser. Der Orden der schweigenden Mönche. Hg.: Marijan Zadnikar. Köln: Wienand, 185-202.
Löser, Freimut (2005): „Meister Eckhart in Bewegung. Das mittelalterliche Erfurt als Wirkungszentrum der Dominikaner im Licht neuerer Funde“. In: Meister Eckhart in Erfurt. Hgg.: Andreas Speer/Lydia Wegener. Berlin, New York: de Gruyter (= Miscellanea Mediaevalia 32), 56-74.
Mersch, Dieter (2002): Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp.
Mojsisch, Burkhard (2003): „Der Grund der Seele. Das Ich als Ursache seiner selbst und Gottes in der Philosophie Meister Eckharts“. In: Gottmenschen. Konzepte existentieller Grenzüberschreitung im Altertum. Hgg.: Gerhard Binder/Bernd Effe/Reinhold F. Glei. Trier: Wissenschaftlicher Verlag (= Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 55), 81-203.
Porete, Margareta (1987): Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik. Übers.: Louise Gnädinger. Zürich, München: Artemis (= Unbekanntes Christentum).
Ruh, Kurt (²1989): Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. München: Beck.