Editorial

Barbara Naumann

Noch nie war es in den westlichen Gesellschaften so vielen Menschen so schnell möglich wie heute, Reichtum zu erlangen. Zugleich waren noch nie so viele Menschen davon bedroht, unter die Armutsgrenze zu fallen. Erst recht gilt dies für die großen Massen der Arbeitslosen, die sich schon seit den 70er Jahren ankündigten, die aber spätestens seit den 90er Jahren das Selbstbild der westlichen Demokratien als prosperierende Staaten empfindlich irritiert haben. An den extremen Polen des sozialen Spektrums, bei Reichen und Armen, lässt sich starker Zuwachs verzeichnen. Gleichzeitig dünnt in den westlichen Ländern die ökonomische gesellschaftliche Mitte, die gut gebildete, aber nicht selbständig wirtschaftende Mittelschicht, aus. Vergleichsweise lange hat ein Eingeständnis auf sich warten lassen, das in der deutschen Presse als Sensations- oder gar Schockmeldung verkauft wurde: das Eingeständnis, Armut müsse als drängendes Problem in den einst reichen Ländern des Nachkriegs-Wirtschaftswachstums gelten. Man musste anerkennen, dass die Armut keineswegs mehr nur eine verschwindend kleine Minderheit betrifft. Selbst für die Schweiz, in der das soziale Gefälle weniger deutlich ausgeprägt erscheint als in den westlichen EU-Ländern, muss diese Polarisierung des gesellschaftlichen Spektrums konstatiert werden, auch wenn das Bild der Schweiz im Ausland zumeist als eines der von allen Verarmungstendenzen verschonten Idylle gezeichnet wird. Armut ist in den westlichen Ländern noch immer eine sehr gewöhnungsbedürftige Vokabel – und ein dementsprechend gern verdrängtes Phänomen. Was für Europa und die westliche Welt gilt, zeigt sich erst recht im globalen Maßstab: Die Dynamik von Bereicherung und Verarmung hat auch solche Länder erfasst, die bis vor wenigen Jahren nur als die ‚Armenhäuser‘ der Welt galten. Sogenannte Schwellen- und Drittländer werden durch die schnelle Wanderbewegung von großen Kapitalmengen im Zuge der Globalisierung durch Wirtschaftsentwicklungen geprägt, die innerhalb dieser Länder das schnelle Entstehen neuer reicher Schichten begünstigt – man denke etwa an das oft bestaunte Auftreten der nouveaux riches aus Russland, aus China oder Indien. Im gleichen Maße aber beschleunigt sich die Dynamik der Verarmung großer Schichten – und dies mehr und mehr unabhängig von ihrem Standort in der Welt. Für die ‚alten‘ prosperierenden Länder mit ihren sozialen Fürsorgesystemen bedeutet gerade ihr Wohlstand, ihr hohes Niveau an Löhnen und sozialer Absicherung, einen Quell zukünftiger Verarmung, denn in diesen Ländern kann aufgrund der Lohn- und Preisstruktur der große Profit nicht mehr erwirtschaftet werden, der es erlauben würde, den sozialen Status aufrechtzuerhalten. Um es zugespitzt zu sagen: Der Reichtum des Westens wird zu seiner – neuen – Armut. Entsprechend fällt die sozialpolitische Reaktion dieser Länder aus, in denen nun die traditionelle sozialstaatliche Verbindlichkeit und Solidarität aufgelöst wird, indem Zug um Zug, Gesetzesnovellierung um Gesetzesnovellierung, die Weichen in Richtung abnehmender sozialstaatlicher Verantwortung gestellt werden. Ein Umdenken wird gefordert, deklariert als notwendige Verzichtsleistungen einzelner. Dass sich der soziale Aufstieg nicht mehr als ‚Belohnung‘ für gute Arbeit oder für Begabung, Talent und Hingabe automatisch einstellt, sondern Aufstieg immer mehr Ergebnis von Durchsetzungsvermögen und Kampf unter globalen Konkurrenzbedingungen sein soll, gehört zu den geforderten ‚dynamischen‘ Einstellungen. Auch fällt es schwer, die soziale Absicherung in Zeiten globaler ökonomischer Verwerfungen nicht mehr als ein vorher durch Sozialabgaben erwirktes ‚Recht‘, sondern wieder als eine Almosen-ähnliche Hilfeleistung des gutmütigen Staates anzusehen. In diesen letztlich durch die Armut bestimmten Kontexten finden gegenwärtig die großen politischen und ideellen Umwertungen statt.

Gerade in Zeiten der geschärften Aufmerksamkeit für die Verarmung und Bereicherung in der Gesellschaft kommt verstärkt in den Blick, dass Kunst und Religion zwei Domänen der Armutsdebatte par excellence darstellen. Seit je haben beide der Armut auch jene Aspekte abgewonnen, die mit der Selbstbestimmung des Ichs, mit den Begrenzungen seiner materiellen wie geistigen Möglichkeiten in Verbindung stehen. Die soziale, theologische, artistische und ästhetische Perspektive auf die Armut sind nicht kategorial voneinander geschieden. Sie werden vielmehr in verschiedenen Epochen und Gesellschaften immer wieder zueinander in enge Beziehung gesetzt. Die Fokussierung der sozial Schwachen bildete die neue, erfolgreiche Strategie des Christentums in der späten Antike. Ein theologisch bedeutsames Beispiel für die transzendentale Wendung, die das Christentum der Armut gab, ist das Postulat der geistigen Armut. Die Privilegierung der ‚Armen im Geiste‘ für das Reich Gottes war eine Wendung der Armut in doppeltem Sinne: Abwendung vom rein materiellen Aspekt und Umwendung des Verhältnisses von Diesseits und Jenseits. Die Armutsgebote christlicher Gemeinschaften bewahren dieses Denken und Handeln als Verzicht in der Diesseitigkeit und erhoffen Lohn im Jenseits bis heute. Einige Beiträge dieses Heftes sind mit der Verbindung eines Modells geistiger Armut mit dem Konzept materieller Reduktion oder gar Entsagung befasst. Sowohl in der antiken Philosophie als auch in der mittelalterlichen Auseinandersetzung mit dieser Tradition erscheint die Armut als ernst zu nehmende Welthaltung und als eine Voraussetzung der Erkundung des Selbst, sogar dann, wenn diese Armut nicht im Sinne eines bewussten Verzichts gewählt, sondern schicksalhaft erfahren wurde. Beschränkung und Verzicht als Befreiung erfahren zu können, bildet das Glaubensversprechen zahlreicher Religionen, nicht nur der christlichen und buddhistischen.

Selbst die Gesten von keineswegs durch Verzicht geprägten und äußerst weltzugewandten gegenwärtigen Lebensstilen sind affiziert durch das Argument des befreienden Verzichts. In Schlagworten wie „Simplify your Life“ ist die Haltung der freiwilligen Entsagung im modernen Kostüm wieder zu erkennen, hier nun verbunden mit der Hoffnung, durch den Verzicht auf den materiellen Überfluss an Dingen wie Möbeln, Geräten, Kleidern, Ausstattungen mehr Zeit und Selbstbestimmung zu erlangen. Verbunden wird dies allerdings immer mit der konsumnahen Forderung, das ‚Wenige‘, was man besitzt, müsse hochwertig sein. Nicht ein einfaches Nicht-Haben, sondern die Frucht von Entscheidungskraft und konzeptionellem Denken soll erkennbar werden. Die ästhetischen Formeln der gegenwärtigen Innenarchitektur weisen auf solche künstlich erzeugte Leere: Offene Flächen, gerade Linien, wenige Einrichtungsgegenstände, kaum Dekoration, klare, sparsame Grundfarben, ‚japanisch‘ anmutende Linien- und Lichtführung. Zuweilen wird diese Reduktion noch akzentuiert durch einen kalkuliert gesetzten, verspielten Gegenakzent, der das Überdekorierte, vielleicht in Form eines einzelnen Kronleuchters oder alten Gemälderahmens, nurmehr sentimentalisch in Erinnerung zu rufen scheint. Unschwer ist an einem solchen Arrangement noch die transzendente Geste zu entdecken, die einen Anschlusspunkt an andere weltliche oder religiöse Ideologien des Verzichts bildet, sei dies nun intendiert oder nicht: eine Armut, die den Reichtum des Geistigen, der Konzentration, des Wesentlichen herbeizwingen möchte. Die Moderne hat sich stets als Befreiung von dem Zuviel des Gewesenen empfunden; die moderne Geste setzt sich als eine bewusst gewählte ‚Armut‘. Damit steht sie in scharfem Kontrast zu all jenen bitteren Formen der Armut, die nicht gewählt wurden, sondern erzwungen, die keine Spielräume und Gesten ermöglichen und schon gar nicht den Verzicht.

An Alexandra Kleihues geht der herzlichste Dank von Redaktion und Herausgeberin für die sorgfältige Gastedition. Jlien Dütschler, bereits bekannt als Layouterin der figurationen, gestaltet ab diesem Heft auch den Umschlag; ihr sei ebenfalls herzlich gedankt.


Zürich, im April 2007               

cover 2