Zur Kartographie des Schmutzes in Claríns Roman „Die Präsidentin“

Peter Fröhlicher

Während die meisten naturalistischen Romane die Schilderung hässlicher und abstoßender Seiten der Wirklichkeit in die Handlungsstruktur einfügen, inszeniert Clarín in seinem Hauptwerk La Regenta (dt. Die Präsidentin) gleich zu Beginn den Unrat in den leeren Straßen einer noch unbenannten Stadt[1]:

La heroica ciudad dormía la siesta. El viento Sur caliente y perezoso, empujaba las nubes blanquecinas que se rasgaban al correr hacia el Norte. En las calles no había más ruido que el rumor estridente de los remolinos de polvo, trapos, pajas y papeles que iban de arroyo en arroyo, de acera en acera, de esquina en esquina revolando y persi guiéndose, como mariposas que se buscan y huyen y que el aire envuelve en sus pliegues invisibles. Cual turbas de pilluelos, aquellas migajas de la basura, aquellas sobras de todo se juntaban en un montón, parábanse como dormidas un momento y brincaban de nuevo sobresaltadas, dispersándose, trepando unas por las paredes hasta los cristales temblorosos de los faroles, otras hasta los carteles de papel mal pegado a las esquinas, y había pluma que llegaba a un tercer piso, y arenilla que se incrustaba para días, o para años, en la vidriera de un escaparate, agarrada a un plomo.[2]

Die heldenhafte Stadt hielt Mittagsruhe. Der warme, träge Südwind blies die weißlichen Wolken vor sich her, die auf ihrer Fahrt nach Norden zerflatterten. In den Straßen war es totenstill, bis auf das Rascheln der Wirbel aus Staub, Lumpen, Strohhalmen und Papierfetzen, die von Rinnstein zu Rinnstein, von Gehsteig zu Gehsteig, von Ecke zu Ecke tanzten, kreisten und hintereinander hertaumelten wie Schmetterlinge, die sich suchen, voreinander fliehen und die die Luft auf unsichtbaren Schwingen trägt. Gleich Rudeln kleiner Gassenjungen sammelten sich diese [Stücke des Abfalls, diese Reste von allem Möglichen zu einem Haufen], verhielten einen Augenblick wie vom Schlaf übermannt, fuhren aufgeschreckt wieder hoch, stoben auseinander, wobei [die einen] an den Mauern bis zu den schwankenden Glaszylindern der Straßenlaternen, [die anderen] zu den liederlich an die Ecken geklebten Plakaten emporkletterten. Eine Feder gelangte bis hinauf zum dritten Stock, und ein Sandkorn setzte sich, an die Bleifassung geklammert, für Tage oder Jahre an der Scheibe eines Schaufensters fest.[3]

Die vom Wind durch die Stadt getriebenen Abfälle treten als handelnde Figuren an die Stelle der potentiellen Romanhelden, die sich dem Mittagsschlaf hingeben. Damit wird der Schmutz für die Dauer der Siesta zum Repräsentanten der ihn produzierenden Gesellschaft, und es stellt sich die Frage, ob und wie weit diese ironische Substitution eine allegorische Lektüre zulässt. Dieser Möglichkeit soll im Folgenden nachgegangen werden. Im Verlauf der Beschreibung wird der aufgewirbelte Unrat, der als Inbegriff des Ungeordneten gelten kann, begrifflich restrukturiert und in eine narrative Ordnung gestellt. Ausgehend von der chaotischen Bewegung der Abfallwirbel entwickelt sich eine Mikro-Erzählung, in welcher der Schmutz als alleiniger Akteur, aber in den verschiedensten Erscheinungsformen auftritt. Mehrere konkrete Dinge – Staub, Lumpen, Strohhalme und Papierfetzen, die im spanischen Original durch Alliteration und Assonanz miteinander verbunden sind – werden zu einem einheitlichen metaphorischen Bild, jenem der Schmetterlinge zusammengefasst. Umgekehrt ist der darauf folgende Vergleich der Abfälle mit Gassenjungen Ausgangspunkt für einen Prozess, der von einer homogenen metaphorischen Figur wiederum zu unterschiedlichen Abfallelementen wie Feder und Sandkorn führt. Der Wechsel von topischer und metaphorischer Ebene, von heterogenen und homogenen Figuren geht einher mit unterschiedlichen Formen der Beziehung zwischen Teil und Ganzem. Die Abfälle konfigurieren sich bald als Teilmengen heterogener („Wirbel von Staub, Lumpen, Strohhalmen und Papierfetzen“) oder homogener Elemente („Rudel kleiner Gassenjungen“), bald als Elemente eines Ganzen („Stücke des Abfalls“, „Reste von allem Möglichen“).
Dieser Übergang von den metaphorischen „Rudeln kleiner Gassenjungen“ zu den „Stücken des Abfalls“ findet eine Entsprechung auf der Handlungsebene insofern, als sich die Elemente des Kollektivbegriffs Abfall zu einem „Haufen“ sammeln. Dieses Ganze, das sich begrifflich eben als Abfall und narrativ als Haufen präsentiert, löst sich wieder in seine Elemente auf. Nach einer ersten Differenzierung durch unterschiedliche Prädikate – die einen Abfallstücke steigen bis zu den Straßenlaternen, die andern bis zu den Plakaten hoch – konstituieren sich die beiden singulären Figuren Feder und Sandkorn als Subjekte mit je eigener Handlung. Bei dieser Beschreibung, welche Bildung und Auflösung der kollektiven Figuren Abfall bzw. Haufen zum Thema hat, vollzieht der Text auf der diskursiven Ebene das, was er narrativ aussagt. Damit zeigt sich in der Anfangspassage eine selbstbezügliche Dimension, die auch in der Fokussierung auf die beiden Einzelfiguren Feder und Sandkorn und dem damit verbundenen Wechsel der Erzählperspektive aufscheint. Beginnt der Abschnitt mit einer Totalen, die Stadt und Wolken umfasst, so endet er mit einer Naheinstellung und markiert damit den Anspruch einer umfassenden exakten Beschreibung, die sowohl das Ganze als auch seine kleinsten Teile im Auge behält. Indem der implizite Erzähler das Sandkorn ausgerechnet an der Bleifassung eines Schaufensters haften lässt, setzt er dem durch den Gestus des Ausstellens geforderten Blick auf die Ware eine andere Perspektive entgegen. Der Betrachter und Leser soll sich nicht dem zuwenden, was man ihm aus kommerziellem Interesse zeigen will, sondern seine Aufmerksamkeit auf Details lenken, die mit dem Rahmen dieser Zurschaustellung zu tun haben. Die Beschreibung des Sandkorns impliziert eine Romanpoetik, die den von der gesellschaftlichen Praxis geforderten Blick ablöst durch eine Fokussierung auf Phänomene, die der Leser bisher nicht wahrgenommen hat.

Die bereits erwähnten Vergleiche des Abfalls mit Schmetterlingen bzw. Gassenjungen können ebenfalls in poetologischer Perspektive gelesen werden. Während die mit Schmetterlingen verglichenen Abfälle spielerisch durch die Straßen treiben, affiziert der den Gassenjungen entsprechende Schmutz synekdochische Figuren der Stadt, die schwankenden Laternen oder die schlecht angeklebten Plakate, die selber dem Zerfall nahe scheinen. Die Figur der Gassenjungen ruft die Gattung des realistischen Stadtromans auf und antizipiert zugleich die ersten auftretenden Personen. Diese als Spitzbuben („pillos“) bezeichneten Jugendlichen treffen sich auf dem Turm der Kathedrale, womit die aufsteigende Bewegung der metaphorischen pilluelos aufgenommen wird.

Im Unterschied zum realistischen Handlungsspektrum der Gassenjungen verweist das an romantisierende Naturpoesie erinnernde Bild der Schmetterlinge auf eine traditionelle Ästhetik. In der ungewohnten Anbindung an einen so unpoetischen Gegenstand wie den Straßenschmutz scheint eine literarische Praxis auf, wie sie der häufig zitierte Baudelaire-Vers „Tu m’as donné ta boue et j’en ai fait de l’or“[4] exemplarisch fasst. In diesem Vers aus dem geplanten Epilog zu den Fleurs du mal wendet sich der Dichter an die Stadt Paris, die „capitale infâme“, aus deren Schmutz er in seinem Werk Gold gemacht hat.[5] Die hier als alchemistische Praxis inszenierte Schaffung ästhetischer Werte ausgehend von Anti-Werten ist zu einem Merkmal der Moderne geworden. Clarín spielt mit dem ersten Vergleich, der Abfall mit Schmetterlingen gleichsetzt, programmatisch auf die Ästhetik des Hässlichen an, lässt es aber nicht bei diesem einzelnen Bild bewenden, sondern schafft aus den drei oder vier Romanstellen, wo Schmetterlinge auftauchen, eine semantische Kohärenz derart, dass sich daraus bildhaft die Geschichte der Titelfigur Ana Ozores ergibt.

Als Produkt einer nicht standesgemäßen Heirat genießt die nachmalige Präsidentin als Kind wenig Achtung und muss das diktatorische Regime einer Tante erdulden. Einen Freiraum erschließt sie sich dadurch, dass sie sich in der Vorstellung in einen Schmetterling verwandelt, der über die Dächer hinwegfliegt. Eine indirekte Identifikation der Präsidentin mit Schmetterlingen ergibt sich dann aus der Beschreibung ihres späteren Verführers, des attraktiven und weltgewandten Don Alvaro Mesía. Ihn vergleicht ein eifersüchtiger Rivale mit einem Licht, dem die Frauen wie Schmetterlinge zufliegen, was der Leser als Anspielung auf den zu erwartenden ‚Fehltritt‘ der Präsidentin auffassen wird. Bei der Beschreibung von Anas Ehemann, der sich u. a. der Entomologie widmet, erscheinen die Schmetterlinge nicht auf der Ebene des Vergleichs, sondern als reale Sammelobjekte. In Kontrast zu dem vom Kind imaginierten auffliegenden Schmetterling können die aufgespießten Insekten mit Anas erneuter Fesselung in der Ehe in Zusammenhang gebracht werden. Als sie sich erstmals ihre Zuneigung zu Mesía eingesteht, irrt sie ratlos durch das dunkle Haus und zerstört aus Unachtsamkeit die entomologische Sammlung ihres Mannes. Dieser Akt, der die Schmetterlinge zu Abfall werden lässt, ist als Emanzipation lesbar, eine Emanzipation aber, die in die gesellschaftliche Ächtung führt. In der Schlussszene fällt die Präsidentin, bedrängt durch ihren Beichtvater Don Fermín, ohnmächtig zu Boden. Als Gegenbild des Schmetterlingsflugs markiert dieser Sturz in der Kathedrale ihr endgültiges Scheitern. Liest man die Anfangspassage vor dem Hintergrund dieser kohärenten intratextuellen Beziehungen, zeigt sich mit der Thematik des Aufsteigens und Fallens eine weitere Entsprechung zwischen der Beschreibung des Abfalls und der Romanhandlung. Die Problematik des gesellschaftlichen Aufstiegs der Titelfigur, die wie der Generalvikar Don Fermín aus prekären Familienverhältnissen stammt, scheint auf ironische Weise im Incipit vorweggenommen.
Die anfangs aufgestellte Hypothese einer allegorischen Lektüre des Incipit scheint sich so auf verschiedenen Ebenen zu bestätigen. Einerseits ergeben sich thematische und figurative Entsprechungen, ohne dass sich eine systematische Analogie zwischen den Abfallfiguren und den Romanpersonen herstellen ließe. Andererseits nimmt der erste Abschnitt Beschreibungsstrategien und poetologische Prinzipien vorweg, die der Roman auf die Schilderung der Gesellschaft anwendet. Die Abfälle als Vertreter der schlafenden Stadtbewohner werden mit den gleichen Kategorien beschrieben wie die später auftretenden menschlichen Akteure. Die Individuen suchen sich und fliehen voreinander, fügen sich zu Gruppen, trennen sich wieder, um eigene Ziele zu verfolgen. Mit leidenschaftslos ironischem Blick erfasst und analysiert der Erzähler nicht nur den Unrat, sondern auch die ihn produzierende Gesellschaft und bedient sich dabei der im Incipit angelegten Kategorien des Gleichen und des Verschiedenen, des Teils und des Ganzen, des Kollektiven und des Individuellen.

 

„Die Welt […], ein Haufen Dreck“: Kartographie des Schmutzes

Dass die Stadt, wie der erste Abschnitt andeutet, ein Ort ist, wo der Unrat sich auf unvorhersehbare Weise ausbreitet und festsetzt, bestätigt sich bei der Lektüre des Romans. Die Beschreibung des urbanen Raums und seiner Bewohner gestaltet sich im Wesentlichen als eine Kartographie des Schmutzes, die in erster Linie den Unterschied zwischen reichen und armen Vierteln und damit die gesellschaftliche Schichtung widerspiegelt. Dieser allgemeine Gegensatz wird unterlaufen durch das unerwartete Auftreten von Schmutz an Orten und bei Personen, die dazu nicht prädestiniert sind. Dabei wird häufig auch die Reaktion der Romanfiguren auf den Schmutz zum Thema. Die folgenden Beispiele, die bloß ansatzweise kommentiert werden können, sollen die vielfältigen Ausprägungen der Schmutzthematik bei Clarín aufzeigen.

Obwohl im Zentrum der Stadt situiert, liegt der Palast der Präsidentin an einer schmutzigen Gasse. Ana verabscheut den Kot vor ihrer Tür derart, dass sie bei regnerischem Wetter nicht aus dem Haus geht. Umso mehr staunt sie über ihre Freundinnen Obdulia und Visitación, denen der Straßenkot nichts auszumachen scheint; auch bei Regen laufen sie „von Haus zu Haus“, „von Tür zu Tür“, wobei Visitación „wie eine Bachstelze von Stein zu Stein“ springt.[6] Nebenbei bemerkt nimmt diese Art der Fortbewegung jene des Unrats im Incipit – „von Rinnstein zu Rinnstein, von Gehsteig zu Gehsteig, von Ecke zu Ecke“[7] – wieder auf und unterstreicht so den Zusammenhang zwischen Abfallschilderung und Romanhandlung. Ana ist andererseits vom Schmutz auch auf eine eigenartige Weise fasziniert. Beim Durchqueren eines heruntergekommenen Viertels, in dem sie sonst Ekel empfindet, erkennt die von ihrem Eheleben Enttäuschte in den Haufen schmutziger Wäsche und im stechenden Geruch die Kraft der erotischen Liebe.[8] Schmutz und Eros verbinden sich auch beim Universalgelehrten Don Saturnino. Magisch angezogen von den schmutzigen und verrufenen Stadtteilen, pflegt er auf seinen nächtlichen Spaziergängen sich der Versuchung einer „[schmutzigen, schwarzen] und in den Angeln hängenden Tür [im Dunkel einer dreckigen] Gasse“ auszusetzen. Er widersteht dieser Faszination, kehrt erleichtert zurück und atmet „voll Wohlbehagen die reine Luft ein, rein wie sein Körper“.[9]

Körperhygiene und Kleidung beeinflussen die Beziehungen der Romanfiguren zueinander und werden von diesen selber oder vom impliziten Erzähler in ideologischer Perspektive interpretiert. Mangelnde Sauberkeit geht in der Regel einher mit moralischen Schwächen, in besonderem Maße beim Kirchendiener Celedonio, der zur abstoßendsten Figur des Romans ausgestaltet ist. Schmutz wird zum Merkmal seines ganzen Wesens, das der Erzähler als weibisch („afeminado“) bezeichnet. Mit dem Blick seiner schmutzig braunen Augen, der an eine Straßenprostituierte erinnere, und mit seinem ständig offenen, zahnlosen Mund wird er zum Inbegriff des ekelerregenden Hässlichen („feo asqueroso“). In der bereits erwähnten Schlussszene erkühnt er sich, die wehrlose aus der Ohnmacht erwachende Präsidentin auf den Mund zu küssen. Der letzte Satz des Romans – „Sie hatte geglaubt, auf ihrem Mund den schleimigen, kalten Bauch einer Kröte zu spüren“ – markiert den Höhepunkt des von Celedonio ausgelösten Ekels.[10]

Der Schmutz, der bei Celedonio wesenhaft zu einer als pervers dargestellten Sexualität gehört, taucht, wie schon aus den oben angeführten Beispielen Anas und Don Saturninos ersichtlich, immer wieder im Zusammenhang mit sexuellen Themen auf. Die junge Witwe Obdulia verurteilt im Gespräch mit Besuchern der Stadt die mangelnde Sauberkeit ihrer Geschlechtsgenossinnen beim Seitensprung: „,Glauben Sie mir, […] ihr Körper kennt keinen Schwamm, sie machen nur Katzenwäsche und betrügen ihre Ehemänner wie zu Olims Zeiten. [So viel Schmutz] und Unwissenheit!‘“[11] Steht diese Kritik an der ungenügenden Hygiene beim Ehebruch im Zeichen einer sich als aufklärerisch und modern gebenden Geisteshaltung, wird die Sauberkeit von den Traditionalisten mit moralischen oder theologischen Inhalten aufgeladen. So lobt der Erzpriester das gepflegte Auftreten des Generalvikars, der auch seine Wohnung so sauber halte, wie es sich für das Haus eines wahrhaften Priesters Jesu zieme.

Wie die angeführten Beispiele zeigen, taucht der Schmutz in ganz verschiedenen Diskursen und mit unterschiedlichen Wertungen auf. Auf der Karte des Schmutzes figurieren auch die meisten Romanpersonen, als Affizierte, Beobachtende oder Urteilende. So erweist sich der Schmutz als wesentliche Kategorie der Beschreibung, die interpretierende und wertende Vergleiche von Orten oder Personen erlaubt.

Schmutz und Sauberkeit sind primär äußerliche und ‚oberflächliche‘ Phänomene, die zwar häufig auf ein Inneres verweisen, aber nicht eindeutig bestimmten ideologischen oder moralischen Inhalten zuzuordnen sind. Nicht dass der Schmutz gänzlich umgewertet würde; er bleibt – mit wenigen Ausnahmen – negativ konnotiert. Aber der gegenteilige Begriff, die Sauberkeit, bezeichnet, wie der Roman eindrücklich aufzeigt, ein trügerisches Phänomen, das nicht wirklich auf Tugenden hinweist, sondern oft moralische Makel kaschiert. Diese Dekonstruktion der Sauberkeit soll zum Schluss am Beispiel des Generalvikars skizziert werden.

Ähnlich wie Mesía, dem nachgesagt wird, der Schmutz der Umgebung könne ihm nichts anhaben, erscheint auch der Generalvikar immer makellos gekleidet. Doch ist auch er vor überraschender Verschmutzung nicht gefeit; eine Katze – zweifellos diabolischer Provenienz – verrichtet nämlich ihr Geschäft in den Schubladen, wo die Messgewänder aufbewahrt werden. Seine vom Erzpriester als Zeichen wahren Priestertums gepriesene persönliche Sauberkeit bleibt ein äußerliches Phänomen, das zu seinem unmoralischen Verhalten im Gegensatz steht. Don Fermín, der außer der Rolle des Beichtvaters auch jene des Liebhabers der Präsidentin übernehmen möchte, ist sich der Fragwürdigkeit eines solchen Unterfangens bewusst. Er äußert seine Skrupel, indem er den in der Stadt allgegenwärtigen Schmutz bildlich auf die ganze Welt überträgt. Dabei erkennt der Geistliche, der für sich die Rolle des médico higienista, des für die Seelenhygiene seiner Schäfchen zuständigen Arztes in Anspruch genommen hat, wie sehr er selber am universellen Schmutz teilhat: „Die Welt war, wie der Beichtstuhl zeigte, ein Haufen Dreck. Die edlen, großen Leidenschaften – Träume, leerer Wahn, eine Heuchelei der Unmoral. Er selbst war der beste Beweis.“[12]

Noch deutlicher tritt der innere Unrat zu Tage, als der Generalvikar von der Affäre der Präsidentin mit Mesía Kenntnis erhält. Auf Rache sinnend, schreibt er ihr eine ganze Reihe von hasserfüllten Briefen, die er aber schließlich nicht abschickt:

In den Briefen, die er zerriß, weinte, stöhnte, fluchte, flehte, tobte und säuselte er. Manchmal muteten diese engen, gewundenen Zeilen aus zarter Tinte wie eine Kloake des Unrats an, der in der Seele des Generalvikars war: Stolz, Zorn, getäuschte, unterdrückte und aufgestachelte Geilheit quollen wie Fäulnisprodukte in dickflüssigen Blasen an die Oberfläche. Da sprach die Leidenschaft mit dem heiseren, kehligen Blubbern abfließender Fäkalien.[13]

Zur Kartographie des Schmutzes gehört auch die durch den metaphorischen Unrat sichtbar gemachte Unmoral, die dem gepflegten Äußeren des Generalvikars diametral entgegensteht. Die innere Kloake als Konglomerat von niederen Leidenschaften findet in Form und Materialität der Schrift einen unmittelbaren Ausdruck. Der Briefautor selber erkennt, dass eine solche Kloakenschrift zu nichts anderem bestimmt ist, als selber zu Abfall zu werden. Der Generalvikar trifft allerdings den Papierkorb nicht, und die Brieffetzen landen auf dem Boden, der aussieht, als wäre er mit Schnee bedeckt. Mit diesem Vergleich wird der Bogen zu den Beschreibungskategorien des Incipit geschlagen, und zwar mit einer Variante, die in jener Kombinatorik noch nicht realisiert ist, nämlich der Verbindung von gleichartigen Abfallelementen, den Papierfetzen, mit einer homogenen Vergleichsfigur, dem Schnee. Damit schließt sich gewissermaßen der Kreislauf des Abfalls. Die Briefe als Ausfluss der inneren Kloake werden zu konkreten Abfallelementen wie die Papierfetzen, die am Romananfang durch die Straßen wirbeln. Selbstverständlich ist die zur Entsorgung bestimmte Kloakenschrift des Generalvikars gerade keine mise en abyme des Schreibaktes, der dem Roman zu Grunde liegt, sondern steht im Kontrast zu der vom Schriftsteller praktizierten Poetik, wie sie sich paradigmatisch und in actu in der ersten Schilderung des Abfalls zeigt.



[1] Die Präsidentin, 1884 und 1885 in zwei Bänden erschienen, gilt als einer der wichtigsten spanischen Romane des 19. Jahrhunderts. Er wird oft mit Madame Bovary oder anderen Romanen, die um das Thema Ehebruch kreisen, verglichen. Der Autor, Leopoldo Alas (1852-1901), Journalist und Rechtsprofessor in Oviedo, publizierte sein literarisches und kritisches essayistisches Werk unter dem Pseudonym „Clarín“ (dt. Trompete) nach dem Namen des gracioso, der komischen Dienerfigur, in Calderóns La vida es sueño.

[2] Clarín (1884/85), Bd. 1, 93.

[3] Clarín (1985), 7. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf die deutsche Übersetzung. Da die Analyse selbstverständlich vom spanischen Text ausgeht, wurden einzelne Zitate aus der deutschen Übersetzung im Sinne einer größeren Originaltreue modifiziert. Diese Änderungen sind in eckige Klammern gesetzt.

[4] Baudelaire (1987), 192.

[5] Baudelaire (1987), 191.

[6] Clarín (1985), 473.

[7] Clarín (1985), 7.

[8] Clarín (1985), 220.

[9] Clarín (1985), 33.

[10] Clarín (1985), 835. Zum Thema des Ekels siehe Sinclair (1997).

[11] Clarín (1985), 427.

[12] Clarín (1985), 730.

[13] Clarín (1985), 797f.

 

Bibliographie

Baudelaire, Charles (1987): OEuvres complètes. Hg. v. Claude Pichois. Bd. 1. Paris: Gallimard (= Bibliothèque de la Pléiade 1). Clarín (1884/85): Alas, Leopoldo/„Clarín“: La Regenta. 2 Bde. Madrid: Castalia, 1990. Clarín (1985): Die Präsidentin. Aus dem Span. übers. v. Egon Hartmann. Frankfurt a. M.: Insel, 1985. Sinclair, Alison (1997): „Liminal Anxieties: Nausea and Mud in La Regenta“. In: Bulletin of Hispanic Studies 74, 155-176.