Editorial/Einleitung

Barbara Naumann, Caroline Torra-Mattenklott

Vierzig Jahre nach den Schlammschlachten von Woodstock und der Geburt von „Meister Proper“ ist Schmutz in den westlichen Industrieländern kein Reizthema mehr. Im Sittenleben wie in der Alltagshygiene hat der repressive Sauberkeitswahn der 50er und 60er Jahre längst pragmatischer Gelassenheit Platz gemacht; Reinlichkeit gilt heute nicht als gesellschaftlicher Konfliktstoff, sondern als eine Frage des Lebensstils und der individuellen Toleranzgrenzen. Auch in künstlerischer Hinsicht kann man von einer Emanzipation des Schmutzes sprechen: Von den dirty notes im Jazz bis hin zu Beuys’ Fettecke – immer wieder werden die Grenzen zwischen Kunst und Schmutz strapaziert, bis der Schmutz schließlich als Ausdruckswert und sinnliche Qualität ins Repertoire ästhetischer Materialien Eingang findet. Sein volles Irritationspotential entfaltet der Schmutz jedoch nach wie vor im Kontext kultureller Differenz. Konfrontiert mit Hygienebedingungen, die von vertrauten Standards abweichen, erfahren wir Schmutz als materiellen Widerstand, der körperliche Reaktionen provoziert, oder sehen unsere Integrität in Frage gestellt, wenn wir selbst zum Objekt rigoroser Grenzschutz- und Desinfektionsmaßnahmen werden. Die vorliegende Ausgabe der figurationen befasst sich mit dem Schmutz als lebensweltlichem wie als ästhetischem Phänomen, geht seinen metaphorischen Implikationen nach und fragt nach seiner symbolischen Funktion für die Konstitution und Reflexion kultureller Identität.

Bei einem Blick ins Inhaltsverzeichnis wird man feststellen, dass sich in diesem Heft eine kulturelle Topik des Schmutzes herauskristallisiert: Der Fokus der Beiträge wandert von Moskau bis nach Lissabon, vom Osten bis in den äußersten Westen Europas. Das Ergebnis ist eine „Kartographie des Schmutzes“ – so Peter Fröhlichers Titelformulierung –, die kulturelle Normen und Empfindlichkeiten, aber auch erotische Wünsche und kreative Möglichkeiten verzeichnet. Einen ersten Schwerpunkt bilden dabei die Differenzen, die sich in der Geschichte der europäischen Zivilisation sowie im Kulturkontakt zwischen Ost und West ergeben. Die frühneuzeitliche Stadt war in besonderem Maße vom Problem des stinkenden Unrats geprägt. Bernd Roecks Essay über Formen und Funktionen der Stadtreinigung im Augsburg des 16. Jahrhunderts handelt von Säuberungsmaßnahmen im Gefolge der metaphysischen Gleichsetzung von Reinheit und Heiligkeit, von Schmutz und Unmoral. In seinem sozialtheoretischen Beitrag untersucht Dmitri Zakharine den Zusammenhang von Schmutz und Körperkontakt im Rahmen des kulturellen Austauschs zwischen Ost- und Westeuropa. Nicht ohne Selbstironie blickt Karl Wagner in seiner kleinen Ethnographie der schmutzigen „Häuseln“ auf die stillen Örtchen in der Ukraine, die für den westeuropäischen Reisenden noch immer den haut goût des „Ostens“ verströmen. Der Fotoessay „Schmutz und Verfall“ von Peter Groth, der sich durch das gesamte Heft hindurchzieht, portraitiert die Ruinen einer ehemaligen Lungen-Heilstätte in Beelitz, einer 1894 südwestlich von Berlin erbauten Klinikanlage, die in der DDR-Zeit und noch bis zum Jahr 1994 der sowjetischen Armee als Garnison diente und seither in großen Teilen dem Zerfall preisgegeben ist.

Ein zweiter Schwerpunkt des Heftes liegt auf der Reflexion des Schmutzes in ästhetischen Zusammenhängen. Dass Schmutz in der frühen Neuzeit auch in kunsttheoretischen Debatten als Argument fungieren konnte, erweist der Aufsatz von Anja Lemke zum Paragone zwischen (schmutziger) Plastik und (sauberer) Malerei. Demgegenüber zeugen die beiden folgenden Beiträge zur experimentellen Musik vom ästhetischen Eigenwert des Schmutzes: In Reaktion auf die elektronische Musik der 50er und 60er Jahre und ihren Traum von der Reinigung und Beherrschung des musikalischen Materials machte der Pianist David Tudor die Störungen und Rückkopplungsgeräusche der elektronischen Apparaturen zu einem irreduziblen Bestandteil der Komposition – so der Beitrag von Julia Kursell und Armin Schäfer. Das essayistische Selbstportrait des Komponisten Peter Ablinger verbindet dokumentarische Texte und Bilder mit dem Klangprotokoll eines Berliner Hinterhofs. Schmutz – hörbar als Umweltgeräusch oder sichtbar als Grauwert – ist in Ablingers Werk eine Wahrnehmungsqualität, die sich nur unscharf vom abstrakten und artifiziellen Weiß abgrenzen lässt. Eine dritte Gruppe von Texten, beginnend mit Brigitte Boothes „Psychoanalyse des Schmutzes“, die das Heft eröffnet, handelt von der erotischen Ambivalenz des Schmutzigen: von seinem Reiz ebenso wie von der moralischen Verwerflichkeit, die von jeher als „schmutzig“ konnotiert ist. Peter Fröhlicher untersucht die allegorische Dimension und die Kartographie des Schmutzes im Ehebruchsroman La Regenta des spanischen Naturalisten Clarín. Der Beitrag von Horst Weich widmet sich einem Gedicht des portugiesischen homosexuellen Dichters Al Berto, in dem das Schmutzige nicht poetisch transformiert und transzendiert, sondern als ‚Abjektes‘ genossen und provokativ ausgestellt wird. Der Schmutz, so die These, erweist sich bei Al Berto als ein agonales Prinzip der Gesellschaft und der Dichtung, als eine unerschöpfliche Quelle ästhetischer Provokation.

Zürich 2008