„ultraleichte Geste für...“

Ernst Caramelles Kunst der Täuschung

Beate Söntgen

 „ultraleichte Geste für…“ beginnt die Inschrift auf einer Zeichnung von Ernst Caramelle aus dem Jahr 2001 (Abb. 1). Die spöttelnde Kritik an schnellen Setzungen, die die Inschrift artikuliert, verkehrt die Wertigkeit eines künstlerischen Topos in ihr Gegenteil. Leichtigkeit, seit der Renaissance Ausweis und Zeichen künstlerischen Ingeniums, wird mittels der Inschrift als Anpassung an Geschmack und Praxis eines schnellebigen Kunstbetriebs entwertet. In der Arbeitsweise Caramelles aber wird entgegen dieser Verwerfung eine Form der Leichtigkeit in ihr Recht gesetzt, wie sie im Topos vorkommt. Die Zeichnung ruft Topoi auf, die die Figur des Künstlers, sein Werk, die Handschrift und die erotische Besetzung der künstlerischen Arbeit umschließen, und zwar unter der Überschrift sprezzatura. In der Tradition der Renaissance folgt diese Leichtigkeit den Regeln der Rhetorik, die aber vom Glanz gottbegnadeten Schöpfertums überstrahlt werden. Caramelles Blatt hält, wie ich zeigen möchte, zumindest einen Abglanz von grazia gegen die ultraleichte Geste für den Kunstbetrieb.

Das Blatt folgt einer Logik der Spaltung und Verbindung. Im oberen Teil blicken wir in einen Raum, der sich durch Proportion, weiße Wände und Oberlicht als Ausstellungsraum präsentiert. Es handelt sich um die Schwarzweiß-Kopie einer Fotografie, die mit wenigen energischen Bleistiftstrichen übermalt wurde: Ein florales Element überwuchert einen Pfeiler, großflächige Raumelemente durchkreuzen Geometrie und Perspektive des fotografierten Raumes, ein Keil bricht ihn auf und entläßt eine frei schwebende, erotische, skatophil grundierte Zeichnung in schwarzer Gouache. Diese Technik dominiert die untere Bildhälfte. In Smaragdgrün die Anmutung einer Architektur in Landschaft, schräg davor, in größerem Maßstab, eine schwarze Figur vor einem Computer. Auf sie weist ein Pfeil und verbindet sie mit dem Schriftzug „KOCH“. Eine langgestreckte, mit der Feder gezeichnete Schlange trennt oberen und unteren Teil. Wie ein horizontal orientierter Stammbaum schließt die Reihe derer, denen die „ultraleichte Geste“ gilt, das Blatt nach unten ab. In die handschriftlich verfaßte Kette von „Kenner“ zu „Sammler“ und „Schreiber“, von „Könner“ zu „Maler“ und in einer zweiten Filiation zu „Schreiner“ ist die Signatur Caramelles mitsamt Jahreszahl eingefügt. Durch Gänsefüßchen gedoppelt, wird der Name des Künstlers Teil dieser Folge, und zwar mittels eines stellvertretenden Schriftzeichens.

Auf der Ebene des Bildes trennt die erste, horizontal im Zeichen der Schlange vollzogene Spaltung die Bereiche des – buchstäblich höhergeordneten – Ausstellens und des Machens. Auf der übermalten, vielmehr überzeichneten Fotografie sind drei Verfahren Caramelles ineinandergefaltet, sein Umgang mit dem Ausstellungsraum, mit Wiederholung und mit dem Handschriftlichen. In den achtziger Jahren werden Wandarbeiten zum wichtigen Element in Caramelles konzeptueller Kunst. Sie führen den Ausstellungsraum als den Raum vor, in dem Kunst als solche erst in Erscheinung treten kann. Die Wandarbeiten zeigen, hierin den site specific works der siebziger Jahre verwandt, daß Kunst im Moment ihrer Ausstellung unentrinnbar als Raumkunst hervortritt, im Sinne ihrer Verklammerung mit dem Raum, der sie umgibt. Der Raum als Rahmung der in ihm ausgestellten Kunst wirkt nicht nur in seinen räumlichen Qualitäten, in seinen Maßen, seiner Struktur, der Materialität der Wände und Öffnungen auf die präsentierten Arbeiten und ihre Wahrnehmung. Auch die institutionelle Funktion des Raumes schlägt auf die in ihm betrachtete Kunst zurück, was ihren Wert und ihre Bedeutung betrifft. Im Gegenzug konstituiert sich der Raum als Ausstellungsraum erst durch seine Füllung. Richard Serra hat dieses Verhältnis durch seine splashings insofern zementiert, als sich die aus flüssigem Stahl zwischen Wand und Boden gespritzten Arbeiten nicht entfernen ließen, es sei denn um den Preis ihrer Zerstörung. Douglas Crimp hat die ökonomische Pointe der splashings betont: Mit der Mobilität verlieren sie zugleich ihre Warenförmigkeit.[1] Wenn auch Caramelles Wandarbeiten, wie alle Arbeiten dieses Genres, immobil sind und zerstört werden, wenn man sie vom Ort der Ausstellung entfernt, ist sein Eingriff in den Raum nicht aggressiv. Seine Besetzung der Galerie ist sanft, macht sie zur Bühne, auf der sie selbst als Raum, in ihrer Räumlichkeit in Szene gesetzt ist.[2]

Die Wandmalerei, die Caramelle 1992 in der New Yorker Christine Burgin Gallery angefertigt hat (Abb. 2), erscheint, obwohl sie die gesamte Stirnwand füllt, als Rahmung für das große Fenster. Eine Art verunreinigter Konstruktivismus, stemmt sich die Malerei eigensinnig gegen die Gegebenheit der Wand, zwingt sie in eine Anordnung, die die ursprüngliche Aufteilung zersprengt. Das Fenster rutscht optisch aus der Mitte und kann sich nur durch leichte Öffnung stabilisieren. Von Malerei in ihrer Gewichtung zersetzt, tritt die Wand als solche dennoch erst durch Malerei hervor, in ihrer Materialität, in der Ziegelstruktur, die das Streben der Farbe nach Fläche unterläuft. Im Fenster, im Blick auf die Welt wird deutlich, daß es einen reinen white cube nicht geben kann. In diesem Fall ist die im Ausstellungsraum sichtbare Außenwelt ebenfalls konstruktivistisch zugerichtet, ein Zufall, der die Teilhabe der Außenwelt an der Kunst unterstreicht. Daß das Fenster, die Metapher der Malerei schlechthin, Medium dieser Einlassung der Welt ist, gehört zu den fruchtbaren Paradoxien einer derartigen Institutionskritik. Gegen eine gänzliche Vereinnahmung sträubt sich das Bild im Fenster und behauptet störrisch seinen Status, etwas anderes zu sein. Es ist der Rahmen des Fensters, der diesen Status bestätigt. An der Wand links hängt ein Bild, geometrisch aufgeteilt, vermutlich ein Bild von Caramelle, in verschwommenem Grau grundiert, vielleicht auch überblendet von Spiegelungen des Fensters. Dieser sorgfältig inszenierte installation shot erscheint wieder im Katalog der Nordhorner Ausstellung[3], auf der vorhergehenden bzw. folgenden Seite flankiert von einer Außenansicht von Caramelles „Fenstermalerei“ in der Berliner Neuen Nationalgalerie und einer Malerei ohne Titel, die eine geometrische Ordnung des Bildraums als System von leeren, selbstreflexiven, den Strich des Pinsels hervorhebenden Rahmungen vorführt (Abb. 3 und 4).

Die Bleistifteingriffe auf der Fotografie wiederholen die Interventionen im Ausstellungsraum auf der Fläche, nicht als sensible, räumliche und farbliche Gegebenheiten aufgreifende Gestaltung, die in der Veränderung des Raumes dessen Qualitäten hervortreibt. Die Energie der Setzung betont vielmehr den Eingriff, der als Handschrift auftritt. Die Handschrift verkörpert das Konzept „Originalität“ und leugnet das Prinzip „Wiederholung“. Die Reibung von Originalität und Wiederholung ist konstitutiv für Caramelles Arbeit. Schon früh hat er eigene Zeichnungen wiederholt, manchmal getreu, manchmal mit leichten Varianten. Auch einzelne Bildelemente, Schriftzüge, Wörter oder Sätze tauchen wieder auf, und es gibt Doppelgänger, Figuren des Künstlers, wie Josef Troma oder das Seepferdchen, die wiederholt in Erscheinung treten (Abb. 5). Blätter lautet der unprätentiöse Titel einer Publikation, die Papierarbeiten Caramelles aus den Jahren 1973 bis 1978 versammelt. Die 127 in Originalgröße reproduzierten, nicht chronologisch geordneten Blätter sind Reflexionen über die Bedingung der Möglichkeit von Kunst zwischen Atelier, Markt und Alltag, zwischen fake und betont künstlerischer Setzung. Sparsam colorierte Zeichnung, Hand- und Maschinenschrift sind die Mittel dieser Reflexionen, die meist im selben Zug etwas behaupten und entkräften. „Repeat“ lautet die mit Nachdruck unterstrichene Aufforderung ausgerechnet auf einem der seltenen Blätter, deren expressiver Gestus die geforderte Wiederholung unmöglich macht (Abb. 6). Ein Blatt, das schemenhaft zwei Zwerge, einen Flügel, ein Seepferdchen und eine Palme darstellt, hat Caramelle im selben Jahr als Suchbild mit kleinen Unterschieden wiederholt und zwei Seiten später abgebildet. Das Blatt dazwischen handelt über Sinn und Unsinn und über das Paradoxe als Glaubensfrage: „Geistiges Jein“ (Abb. 7).

„Art is a fake“, sagt Caramelle mittels einer Inschrift in den Blättern (Abb. 8), um im selben Zug gerade durch Wiederholung den Begriff der Originalität zu erweitern. Forty Found Fakes ist eine Arbeit von 1979, in der die Fälschung das Original „überholt“ hat (Abb. 9).[4] Es handelt sich um eine Buchpublikation, in der Caramelle gefundene Bilder reproduziert und den Abbildungen Namen von Künstlern zuweist, deren Arbeit dem Gefundenen ähnelt. So ist dem Bild einer in einer Landschaft wellig ausgebreiteten Plane der Name „Christo“ beigefügt (Abb. 10). Ein Zimmer mit einer Fächerpalme ruft Broodthaers auf den Plan, Skispuren im Gebirge Richard Long. Caramelle beschreibt die „Überholung“ des Originals durch sein Verfahren wie folgt:

Vierzig vorgefundene Fälschungen: Der Titel für diese Arbeit ist im Grunde ebenso falsch wie die gesammelten Zeitungsausschnitte; denn es handelt sich nicht um nachgemachte Kunstwerke, sondern um Reproduktionen, die auf den ersten Blick Abbildungen von Original-Kunstwerken der jeweiligen Künstler sein könnten. Als Fälschungen könnte man sie nur dann bezeichnen, wenn sie ein Kunstwerk abbilden, das der Künstler noch gar nicht gemacht hat. Die Fälschung wäre demnach vor dem Original entstanden, sie hätte das Original sozusagen überholt. Infolgedessen könnte man auch die nicht vom Künstler geschaffenen Werke auf gefundenen Zeitungsausschnitten mit solchen verwechseln oder es dem Künstler zutrauen, dieses oder jenes abgebildete Werk gemacht zu haben.[5]

Bei den Blättern steht das explizit Handschriftliche für eine Originalität ein, die durch Wiederholung als solche bestritten und als Schein bloßgestellt wird. Das Versprechen von Authentizität, das in der Handschrift liegt, wird durch Wiederholung gebrochen, das Handschriftliche als Zeugnis künstlerischer Erfindungskraft Lügen gestraft. Und dennoch kann man sich dem Authentizitätseffekt dieser überbordenden Produktion, der Fülle des scheinbar schnell Skizzierten nicht entziehen: Sie bezeugt eine unerschöpfliche Erfindungsgabe, die die Geste der Wiederholung leugnet.

Auch die Zeichnung, die der Ausstellungsraum auf unserem Blatt aus sich entläßt, hat die Anmutung einer schnell hingestrichenen Skizze, die das Drängen einer Idee suggeriert. Es handelt sich um den Umriß eines schön geschwungenen weiblichen Hinterns, dessen Exkremente als buchstäblich verblümte „Scheiße“, wie der von Caramelle verehrte Dieter Roth es formuliert hätte, in den Ausstellungsraum zurückkehrt – um dort als schlangenartig gewundener floraler Fremdkörper dessen Ordnung zu stören. Der pygmalionische Topos vom Künstler, dem Eros den Wunsch nach Verlebendigung eingibt – ein Wunsch, der zugleich nach künstlerischer Vollkommenheit strebt und nur durch göttliche Gnade erfüllt werden kann[6] – hat auf unserem Blatt indes nur noch ein schwaches Nachleben. Denn von göttlichem Walten ist hier, was das Sujet betrifft, nichts mehr zu spüren. Der fragmentierte Frauenkörper schwebt über dem Kopf des als Koch ausgewiesenen Machers, um sogleich transformiert und dem Ausstellungsraum einverleibt zu werden. Eine Schlange trennt den Künstler-Koch von seiner Phantasie, die in diesem Fall nicht als line of beauty, sondern straff gespannt auftritt.

Gegen die Poetik des Handschriftlichen, wie sie der skizzierte Akt verkörpert, steht die „mediengestützte“ Arbeit am Computer, dessen Bildschirm allein noch durch Handauflegen mit dem Körper des Künstler-Kochs verbunden ist. Diese Andeutung einer magischen Praxis ruft in Verbindung mit der Inschrift den Vergleich zwischen Malen und Kochen auf, den so unterschiedliche Autoren wie Roland Barthes und der Künstler Peter Kubelka angestellt haben und der ein anders begründetes Modell künstlerischen Schaffens entwirft.[7] Bei beiden Tätigkeiten handele es sich um die Verwandlung von Materie durch mannigfaltige Eingriffe, die mythischen Ursprungs seien. Die Metapher des Kochens verlagert den Topos erotisch grundierter Künstlerschaft. Nicht das Drängen nach einem anderen, sondern die autoerotische Befassung mit dem eigenen Körper treibt die Sinnlichkeit des Künstler-Kochs hervor, ein Trieb, der die endgültige Ausschaltung überirdischer Mächte bedeutet. Kubelka geht es um Verfahren der Verdichtung, der Analyse und der Synthese, die in der Küche entstanden sind, und zwar durch die Tätigkeit des Mundes, nicht des Auges: Was Sinn macht, darüber entscheiden die Sinne. Auch der Schöpfergott sei ein Koch, der „als Modell den kochenden Menschen“ habe – eine Inversion, die die Selbstherrlichkeit moderner Künstlerschaft ausstellt.[8] Barthes geht es ebenfalls um die Körperlichkeit der Malerei, die er gegen den Primat des Auges in ihr Recht zu setzen sucht. Im Falle der drastischen Malerei Réquichots, die seine Überlegungen ausgelöst hat, sind mit Körperlichkeit Prozesse der Einverleibung und der Ausscheidung gemeint, die in der Materialität der Farbe und ihrer Bearbeitung sichtbar, fühlbar werden. Der Strich ist sichtbare Arbeit, heißt es in einem anderen Text von Barthes, ist energon, eine Arbeit, die die Spur ihres Triebs und ihrer Verausgabung aufzeigt.[9] Der Begriff der Arbeit verschiebt den Akzent vom formalen Spiel zur körperlichen Aktivität, die Ausdruckspotential besitzt. Wie die Metapher des Kochens wendet sich die Verkörperlichung des Strichs gegen den Primat des Auges, und sie richtet sich gegen die Vorstellung von der Linie als reinstem Ausdruck des Geistes, der in der Skizze, im scheinbar mühelos hingesetzten Entwurf seine Vollendung findet.

Bei Barthes wird die Vorstellung abgeschafft, daß Kunst in mythischer Identifizierung mit dem Demiurgen entsteht, der aus bloßem Material, also aus nichts etwas schafft. Die Wendung zur Körperlichkeit, zur Entäußerung des Inneren in einem leiblichen Sinne ist aber keine, wie es auf den ersten Blick scheint, Ersetzung des Rhetorischen im Sinne eines figurativen, topologischen Verständnisses vom Künstler und von seinem Schaffen. Die Wendung vom Demiurgen, der das Material in den Dienst einer Schöpfungsidee stellt, zu einer exzessiven Körperlichkeit dient als drastische Markierung eines Gegenmodells, das explizit auf Textualität abhebt. Der Text steht für ein Modell des Schaffens, das mit Vorhandenem arbeitet und aus ihm etwas Neues generiert, „denn auch der Text nimmt gebräuchliche, abgenutzte und gleichsam im Hinblick auf die gängige Kommunikation gefertigte Wörter, um ein neues Objekt hervorzubringen, das außerhalb des Gebrauchs und damit außerhalb des Tauschs steht.“[10] Barthes folgt hier implizite dem wilden Denken von Lévi-Strauss, der im Umgang mit Sprache die Figur des Bastlers von der des Ingenieurs unterscheidet. Der Bastler werkelt mit dem, was ihm zur Hand ist, der Ingenieur hingegen ist ein Subjekt, das sich als absoluten Ursprung seines Diskurses setzt. Einem solchen Verständnis von Text folgend ist Schrift, zumindest so, wie sie bei Réquichot vorkommt (aber Réquichot steht hier trotz aller Betonung seiner Einzigartigkeit für einen Künstlertypus der Moderne), nicht sinnstiftendes Zeichensystem, sondern Effekt einer pflügenden Hand, die „das Papier erst dann verläßt, wenn die Lust erschöpft ist“.[11]

Lust und körperliche Verausgabung sind die Determinanten eines Werkes, die sich in der Handschrift materialisieren. Lust und körperliche Verausgabung entlassen die künstlerische Arbeit auch aus dem Tauschsystem, selbst wenn ein Werk zu Markte getragen wird. Denn die Intensität weder der Lust noch der Verausgabung könne sich, so Barthes, im Werk aussprechen. Und das heißt, daß das Werk auch seine Betrachter nicht erreichen kann. Was sich im Werk artikuliert, ist also seine Unmöglichkeit, ist somit zutiefst modernes Wissen. In der Behauptung vom Widerstand gegen den Tausch wächst der Kunst aber eine erlösende Dimension zu, für den Betrachter im Wissen um das Opfer, für den Produzenten im Akt der lustvollen, wenn auch selbstmörderischen Verschwendung: ein autoerotischer Pygmalion, der zur Verlebendigung keine Götter mehr braucht, aber den Tod in Kauf nehmen muß.

Die Absetzung des Künstler-Demiurgen, die Barthes betreibt, führt indes nur am Rande zur Reflexion der Bedingungen, unter denen Kunst erscheinen kann. Der Tausch, der Warenwert, der den öffentlichen Auftritt der Kunst bedingt, wird außer Kraft gesetzt durch die existentielle Kategorie des Todes, der den Tausch als Warentausch unmöglich macht. Die Rede von der lustvollen, tödlichen Verschwendung, die sich im Werk nicht aussprechen kann, aktiviert eine topologische Qualität des Kunstwerks: das Unsagbare, je ne sais quoi. Die Geschichte des je ne sais quoi, des Unsagbaren, ist eine Geschichte wechselnder Wertungen.[12] Das Unsagbare entstammt dem Vorstellungsfeld der grazia, die wiederum eng mit sprezzatura verbunden ist.[13] Grazia als angeborene göttliche Gabe macht den Künstler zum Sprachrohr Gottes, das ausspricht, was nicht sagbar ist. Zum Erscheinungsbild des idealen Künstlers gehört Leichtigkeit, sprezzatura eben, die verdeckt, daß die künstlerische Ausführung mühevoll ist und erlernt werden muß. Bereits die klassischen Texte warnen vor zu viel Vollendung: Sie sei künstlich und unfrei, sie kehre die handwerkliche Grundlage des göttlichen Werkes heraus, die es durch sprezzatura zu löschen gelte. Das Nicht-Vollendete des skizzenhaften Duktus, der die Leichtigkeit bezeugt, impliziert eine Offenheit der Bedeutung, die als Öffnung auf dennoch verhüllte, unsagbare Wahrheit verstanden wird.[14]

Wie heikel der Status der sprezzatura ist, zeigt sich schon in der Argumentation des Aretino. Er muß Raffael gegen den Vorwurf des allzu Leichten verteidigen: Es sei die schwierigste Kunst zu verdecken, daß sie Kunst sei.[15] Wenn auch sprezzatura Ausweis vollständiger Beherrschung ist, die eine Verachtung menschlicher Begrenztheit umschließt und göttliches Wirken, grazia, bezeugt, ist sprezzatura gleichermaßen eine Kunst der Täuschung. Doch ist es eine Täuschung, die in ihrer Performanz zu klar ist, um als Betrug zu erscheinen. Sie erfüllt im Gegenteil eine Erwartung: Die Leichtigkeit der Darstellung zeigt indexikalisch eine Produktionsweise an, die gewünschte Mühelosigkeit, die sich von dem unterscheidet, was, wie jeder weiß und fordert, tatsächlich stattgefunden hat: mühevolles Handwerk.[16] So ist es nicht die täuschende Leichtigkeit der Darstellung, die sprezzatura zu einer anrüchigen Kunst macht und den Künstler zu einer verdächtigen Figur, es ist vielmehr das Ausstellen der Fähigkeit zu täuschen. Aus demselben Grund ist auch der Begriff des Unsagbaren in seiner historischen Ausfaltung von Anrüchigkeit bedroht: Einst als Wirken göttlicher Gnade verstanden, dann, in der Aufklärung, als obszönes Dunkel entwertet, geriet das Unsagbare zum Ideal unreflektierter Natürlichkeit. Künstlich hergestellt, tritt es aber in seiner Performanz hervor und durchkreuzt den Naturalisierungseffekt seiner Wirkweise. Wie sprezzatura muß auch das Unsagbare notwendig täuschen und so dem Ideal widersprechen, das sein Begriff verspricht.

Barthes rettet das Unsagbare, indem er es dem Körper und den Trieben überläßt. Die Körperlichkeit des Künstler-Kochs, die Auswendigkeit seines Inneren, ist eine Verkehrung der Figur der Innerlichkeit, die im Unsagbaren der Kunst sich paradox entäußert. Die Struktur der Notwendigkeit des Kunstwerks ist nicht mehr im Drängen der Wahrheit, als metaphysische Entäußerung, begründet, sondern im Drängen des Triebs, in einer Struktur des Begehrens, die aus dem Körper kommt, durch den Körper verführt und sich auf den Körper richtet. Die Verkörperlichung des Striches bedeutet aber keine Ersetzung eines rhetorisch verfaßten Modells von Kunst gegen ein Modell von Authentizität. Im Unsagbaren, durch unmittelbare triebbedingte Körperlichkeit produziert, in der Rechtfertigung des Obszönen und der mit ihm verbundenen Heilserwartung liegt die topologische Qualität des Künstler-Kochs.

Caramelle präsentiert uns einen ganz anders gearteten Künstler-Koch. Entlassen aus dem Gehäuse, gibt es kein Drängen, weder metaphysischer Wahrheit noch des Triebes, auch keine exzessive Körperlichkeit, sondern Mix-Kultur der „ultraleichten Gesten“, die auch die Materialität eines Raumes hinter sich gelassen haben. Statt mit pflügender Handschrift Spuren auf Papier zu hinterlassen, bewegt sich die Hand des Künstler-Kochs auf der Tastatur des Computers, eine Bewegung, die sich nicht mehr unmittelbar in einem Bild niederschlägt und das im „Schreiner“ ohnehin nur ironisch aufgerufene Handwerk der Kunst fahren läßt. Der screen der black box Computer ist weiß, nurmehr leerer Rahmen. Der flüchtige, skizzenhafte Modus, in dem der Künstler-Koch dargestellt ist, läßt die Darstellung selbst als Effekt einer ultraleichten Geste hervortreten. Dieser Erscheinung widerspricht die genaue, wohl kalkulierte Anordnung des Blattes; die Mühelosigkeit der Zeichnung verdeckt die Anstrengung eines sorgfältigen Arrangements: sprezzatura. Die in der Skizzenhaftigkeit angelegte Offenheit der Bedeutung birgt auch hier ein Versprechen auf Enthüllung, die aber keine höhere Wahrheit im Sinne einer Überschreitung offenbart. Die Fähigkeit zu täuschen, wie sie in der Performanz der sprezzatura ausgestellt wird, betrifft die Person des Künstlers und sein Werk, und sie betrifft die Veröffentlichung beider im Ausstellungsraum, der die Phantasie des Künstlers in Ware verwandelt und zugleich von ihr besetzt wird. Die Dynamik von Sog und Abstoßung, von Einverleibung und Besetzung, die die Darstellung strukturiert, kehrt den Eintritt in den Tausch offensiv hervor.

Harry Berger hat gezeigt, daß der Mangel an grazia die ermöglichende Bedingung des Hofmanns ist: sprezzatura, die erlernbar ist, gibt den Anschein von grazia, ohne zu betrügen, denn sie stellt ihre Täuschungsmanöver als solche aus. [17] Die Inschrift auf unserem Blatt denunziert auch die Schönheit des flüchtigen Strichs als ultraleichte, keineswegs über ihren Zweck hinwegtäuschende Geste. Gegen diese Bezichtigung die Hoffnung zu wecken, daß in der rhetorischen Anmut, in der Figur des Künstlers in ihrer innerweltlichen Gefangenheit [18] noch ein Funken grazia glimmt, ist der überzeugendste, tröstliche Effekt von Caramelles Kunst der Täuschung.



[1] Crimp (1996); vgl. auch O’Doherty (1996).

[2] Vgl. Brüderlin (1989).

[3] Caramelle (1998).

[4] Caramelle (1979).

[5] Caramelle (1979).

[6] Vgl. Neumann/Mayer (1997).

[7] Barthes (1990), 219-246 („Réquichot und sein Körper“); Kubelka (1995).

[8] Kubelka (1995), 259f.

[9] Barthes (1990), 165-183 („Cy Twombly oder Non multa sed multum“).

[10] Barthes (1990), 233.

[11] Barthes (1990), 231.

[12] Vgl. Köhler (1953) und Böhringer (2000).

[13] Vgl. Köhler (1953), Knab (1996) und Kleiner (2000).

[14] Vgl. Fehl (1997).

[15] Dolce (1871); vgl. auch Castiglione (1998).

[16] Vgl. Berger (2000).

[17] Berger (2000).

[18] Vgl. Auerbach (1967).


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1
Abb. 1 Caramelle: ultraleichte geste für kenner (sammler, schreiber) und könner (maler, schreiner), 2001.
13
Abb. 2 Caramelle: wandmalerei, christine burgin gallery, new york, 1992.
14
Abb. 3 Caramelle: ohne titel, 1990 Nationalgalerie Berlin.
15
Abb. 4 Caramelle: ohne titel, 1996 gessopiece
26
Abb. 5 Caramelle: josef troma, 1978
24
Abb. 6 Caramelle: repeat, 1978
25
Abb. 7 Caramelle: geistiges jein, 1975
27
Abb. 8 Caramelle: art is a fake, 1976
22
Abb. 9 Caramelle: Forty Found Fakes, New York, 1979.
21
Abb. 10 Caramelle: Christo.