„Komm her, Sternschnuppe“
Verführungsmuster in der Popliteratur der 90er Jahre
Sich Bewegungen und Räume so zuspielen gegenseitig, als wäre der andere ganz frei von jeder Antworterwartung. Als wäre das sich so sofort konstituierende Miteinander eher zufällig gegeben vom immer neuen Augenblick der Körperbewegungen, die nur der Musik und ihrer Bewegung folgten, voneinander weg, aufeinander zu, für sich, für sie, für mich und sie, und sie für sich und mich. [2]
Die Annäherung an die begehrte Person scheint um 2000 das Problem nicht zu sein. Man tanzt, die Musik führt die Körper einander zufällig zu, und der Zufall scheint es gut zu meinen. Allein der zarte Einsatz des Konditional verweist auf eine gewisse Unsicherheit. Verführung, ein dauerhaft in der Literatur beheimatetes Thema, scheint so flüchtig, kontingent wie jederzeit möglich: Komm her, Sternschnuppe. So zumindest evoziert Rainald Goetz in Rave(1998) das Treiben der „Ravergemeinde“ in den Hochzeiten des Techno. Sich-Sehen, Sich-Verlieben, Liebe – eine Momentsache, ein Augenblick. Der oder die Andere passiert, passiert dem einen und dem anderen, nichts ist von langer Hand geplant. Es sieht so aus, als hätte sich die Verführung, jene klassischerweise sorgsam eingefädelte Zusammenkunft, ins Ereignis verflüchtigt: Es geschieht – oder eben nicht; wer die Sternschnuppe sieht, darf sich etwas wünschen. Die Verführung als Krieg mit strategischen Mitteln, die Verführung als Schlachtplan im Kampf der Geschlechter, in dem das Objekt der Begierde als einzunehmende Festung reizt – jene inzwischen als klassisch geltenden Tropen der literarischen Verführung des 18. und 19. Jahrhunderts finden sich in der Gegenwartsliteratur kaum mehr.
Ganz verschwunden sind sie aus der Popliteratur – dem Segment der Gegenwartsprosa, das das altgediente Paradigma von Sex, Drugs & Rock’n Roll in das Zeitkostüm der 90er kleidet, vorrangig vom Alltag der 20bis 25jährigen [3] erzählt, hohe Verkaufszahlen einspielt und die deutschsprachige Literatur junger AutorInnen wieder marktfähig gemacht hat, also als relevantes Zeit-Symptom zu betrachten ist.
Wenn nun Verführung nicht mehr den Modus für Annäherung und vermeintliche Aneignung begehrter Individuen darstellt – was tritt dann an die Stelle zisilierter Verführungsstrategien aus Aristokratie und Bürgertum, die einst zur (literarischen) Überwältigung und schließlichen Inbesitznahme keuscher Seelen ausgeklügelt wurden? Was ersetzt die genial-grausamen Eroberungspläne, die in den großen Verführungsromanen, von Samuel Richardsons Clarissa,und Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaftenbis hin zu Sören Kierkegaards Tagebuch eines Verführers, in geradezu zynischer Meisterschaft exerziert werden? Und wie sieht es mit der Paarbildung aus: Ist sie das Ziel der Verführung? Oder ist sie vielmehr – wie in der hier als Kontrastfolie bemühten klassischen Strategie – das Gegenmodell zur Seduktion? Wie also wird Zweisamkeit in der Popliteratur inszeniert, die ebenfalls beständig von Liebe, Verlassenwerden, Sehnsucht handelt?
„Ich war also verliebt. Verrückte Sache“, fährt der Ich-Erzähler in Raveunmittelbar in Anschluß an die oben zitierte Tanzszene fort.
Ich wußte gar nicht, wie sie ausschaut eigentlich, genau. […] Ich fühlte mich überwältigt von Zustimmungsgedanken und war absolut selig. Auslöschung, danke. „Ist das nicht ein Wahnsinn?!“, sagte ich, aus einer plötzlichen Nähe heraus, zur Fellchenmaus. Und sie nickte heftig, offenbar genauso unterwegs und sagte: „Genau, genau!“ Mir fiel wieder ein: Stimmt, so hatte das Jahr begonnen, bei der Silvesterparty im E-Werk, als Westbam als erste Nummer und Riesenüberraschung den alten KLF-Kracher „What time is love“ gespielt hatte. […] Wie wir da getanzt haben. Namen, Blick, Gedankenkaskaden.
Dann ging ich zur süßen Maus, um mich zu verabschieden, und sie umarmte mich. […] War alles brutal süß.
Durch die Tanzenden hindurch ging ich zum DJ-Pult. [4]
Auf das Zusammentreffen, auf das absolute Übereinstimmen im musikbewegten Augenblick folgt umgehend der Abschied, in den beide Seiten freudig einwilligen. Nicht mehr die In-Besitznahme der „Fellchenmaus“ – Frauen firmieren im Text der Popliteratur meist nur in ihren Verniedlichungsformen als Mädchen, Kleine oder, wie mit Vorliebe bei Goetz, als Maus – sondern die Möglichkeit, die letztlich ausgeschlagene Möglichkeit, erzeugt ein intensives Glücksgefühl. Das Bezaubernde des Moments für den Ich-Erzähler aus Raveliegt offenbar weniger in der versuchten Eroberung des begehrten Gegenüber als vielmehr in dem augenblicklich erotisierenden Vielleicht eines Zusammentreffens. Das Ich, beglückt von der Potenz einer Begegnung, nimmt sich die Freiheit zu gehen, berauscht von der Möglichkeit, sich zur nächsten Möglichkeit forttreiben zu lassen, getragen, geschützt von der Geräuschkulisse. Am Ende reicht die Erinnerung an andere Glücksmomente durch die und in der Musik – „Mir fiel wieder ein: […] Namen, Blick, Gedankenkas-kaden“ –, man bleibt bei sich und der DJ der Bezugspunkt. Die Grundlagen jedweder Verführung klassischer Gangart, wie der lustvoll, aber nüchtern ausgeführte Plan zur Verzauberung des/der Anderen, die Kontrolle über die Situation und – ganz wichtig – über den Klatsch, also das Herrwerden über ein gesellschaftliches Regelsystem, spielen hier keine Rolle. Wichtig ist statt dessen ein Sich-Überlassen einer genuin postmodernen Gewißheit des „es geschieht – geschieht es?“, ist die (ohnmächtige) Gewißheit, daß sich die Sätze auch ohne Zutun verketten werden. [5] Ob „es“ nur als Phantasma, ob „es“ als Begegnung nur im Kopf statthat, ist hierbei zweitrangig. Denn es geht nicht um das konkrete Ereignis, gar um den Anderen. Nicht diesem, dem Ich sollen die Sinne schwinden, das Ich will verführt, will in den Klangteppich eingewebt werden: Die Verführung in der Popliteratur ist eine Verführung des Ichs, ohne den Umweg über den Anderen, ist eine Verführung in der Musik, im Rhythmus des Events.
„Auslöschung, danke“
Jene Sehnsucht nach rauschhafter Auflösung in der Situation, nach der Abgabe von Verantwortung, findet sich nicht nur in der fünfbändigen Geschichte der Gegenwartvon Rainald Goetz, son-dern auch in den Texten von Benjamin Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Alexa Hennig von Lange, um nur die prominentesten VetreterInnen der Pop-literatur zu nennen. So unternimmt der Ich-Erzähler in Christian Krachts Faserland(1995) seine Odyssee quer durch Deutschland im dauertrunkenen Zustand, und seine Flirts müssen meist wegen alkoholbedingter Übelkeit seineroder ihrerseits abgebrochen werden. Ein Motiv, das auch die gesamte Handlung von Alexa Hennig von Langes Relaxbestimmt und ebenfalls in Benjamin Stuckrad-Barres Erfolgsroman [6] Soloalbum(1998) mehrfach auftaucht. Hier ist der Ich-Erzähler tapfer bemüht, seinen Gram über die verlorene Freundin im Wechselspiel von Diät und Partyexzess zu überwinden. Was nicht funktioniert, da entweder zu viele Drogen im Spiel oder die verfügbaren „Mädchen“ zuuninteressant oder zu klug sind. Und das süße Mittelmaß, die hübsche Abiturientin, hat ihn gerade verlassen. Es ist auffällig, wie selten es generell in diesen Texten zum Sex kommt – eigentlich nie –, und dies trotz der dauerhaften Erotisierung aller Beteiligten. Aber die ProtagonistInnen der Popliteratur sind rastlos und befinden sich ständig auf der Suche – ohne je das Bier abzusetzen.
Aber erst machen wir it happen. Wir gehen noch mal auf die Party, da bin ich dabei aber nicht zugegen, ich kriege nichts mit, bin mit mir selbst beschäftigt, der Rausch, hebt alles an, auch die Sicht, ich sehe nur noch Wolken. Dazwischen in Watte Menschen, irgendwelche Konversation […].[7]
Die Hauptfiguren hier streben nicht, wie das (verführende, verführerische) Subjekt bei Kierkegaard oder Laclos, nach Verfügungsgewalt über Ende, Beginn und Wiederholung einer Situation oder eines Liebesverhältnisses, streben keine kontrollierte Verführung zum Tabubruch an, sondern setzen im Gegenteil alles daran, die Kontrolle zu verlieren, die Situation nicht zu beherrschen, sich vielmehr in ihr aufzulösen.
Nun steht die Single-Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts im denkbar krassen Gegensatz zur Ehekultur des 18. und 19. Jahrhunderts, in dem das verheiratete Paar die Ausgangskonstellation des gesellschaftlich integrierten Erwachsenen formiert. Insofern bestand ein enormer Reiz in der heimlichen Überschreitung exakt dieser wie immer gesellschaftlich verordneten Zweisamkeit: In der Verführung zum Ehebruch, zum vorehelichen Sex, zu einer nicht standesgemäßen Verbindung. Das individualistische Subjekt – das männliche tendentiell offen, das weibliche verborgen – konstituierte sich gerade in der heimlichen Befreiung aus dem zwanghaften Paarverbund. Der strategische Umgang mit klandestinen und öffentlichen Inszenierungen von Zweisamkeit eröffnete folglich eine gewisse Freiheit. Zweihundert Jahre später findet sich eine nahezu umgekehrte Situation: Das Individuum ist weniger mit der Unterminierung sozialer, familiärer Bande beschäftigt, als mit der eigenen Isolation. Nicht mehr das Paar ist Ausgangsund Angriffspunkt, sondern das alleinstehende Ich. Speist sich der Reiz der Verführung, wie gemeinhin angenommen, vorrangig aus der Einladung zum Tabubruch, dann erstaunt es nicht, daß in der gegenwärtigen „Kontrollgesellschaft“ (Deleuze/Guattari) ein zentrales Tabu im Abgeben von Verantwortung, im Kontrollverlust besteht. Richtet sich die gesellschaftliche Kontrolle nicht mehr auf die (bürgerliche) Disziplinierung der Körper – etwa durch Keuschheit und Arbeit –, sondern auf die der „Seele“, auf die Figur des Ichs insgesamt, dann muß genau dieses ausgeschaltet werden. Entsprechend reicht die in der Popliteratur en detailgeschilderte Selbstentmächtigung des Subjekts von der Abgabe der Verantwortung für die Situationsgestaltung bis hin zur radikalen (physischen) Enthemmung: In der Popliteratur wird viel Unsinn geredet und viel gekotzt.[8] In der beständigen Wiederholung der drogenlastigen Teilnahme am Event leistet sich das Subjekt den Luxus, als seiner selbst bewußtes Ich zugunsten des Rausches im Kollektiv auszusetzen. „Wissen, daß man wenigstens das Richtige tut: mitmachen. Mitmachen: schön.“[9] Die von Goetz beigemischte Ironie, die durch das nüchterne Ausstellen die Absurdität einer Überlegung oder Handlung in Provokation wandelt – es gibt kein richtiges Leben im falschen – ändert nichts daran, daß auch die Protagonisten der Geschichte der Gegenwartnur eines im Kopf haben: dem Streß der Individualität im Rausch ein Ende zu setzen.
Die Verführung besteht in der Verführung des Ichs, in der Selbstverführung zum Loslassen und Mitschwimmen, liegt im Nicht-Wissen-Wollen, was passiert, in einer zeitlich eingegrenzten Handlungsunfähigkeit bei ständigem In-Bewegung-Sein und in Aussicht gestellten weiteren Zusammentreffen mit anderen Körpern: „Bald geht es los, oder? Vielleicht. Oder jetzt gleich? / Wahrscheinlich jetzt gleich sofort. / Doch wer kann das, wer will das schon so genau wissen?” [10] Und sie liegt in der Entspannung, der Streßvermeidung, dem kontrollierten Kontrollverlust. So beginnt die für das Genre strukturell repräsentative Erzählung Dekonspiratione,die komplementär als „Tag-Buch“ zu der Nacht-Erzählung Ravekonzipiert ist und von Textarbeit und Liebe handelt, mit der Aufforderung an den Ich-Erzähler, sich erstmal „schön locker zu machen“ [11], und schließt mit der Erleichterung, am Ende doch wieder alles fahren lassen zu können – nach getaner Arbeit: Die Lesung ist absolviert: „Und der Rausch kommt, die Auflösung, endlich. Endlich ist es vorbei. […] ‘Schatz’, sagt sie, ‘du bist ja betrunken.’ Und ich sage: ‘Ja, Schatz, das stimmt.’“ [12] Fällt die Selbst-Abgabe mit der mühelosen Paarbildung zusammen, gelingt die Auflösung in die Situation und in die Paarkonstellation, herrscht Glück, Glück als Moment, als Spur, als Sternenspur.
Verführung als kontrollierte, bewußte Annäherung an den/die Andere(n) mit dem Ziel des Trophäengewinns, der Paarbildung oder -überschreitung marginalisiert somit in der Unterhaltungsliteratur der jungen Generation des auslaufenden 20. Jahrhunderts zur anachronistischen Handlungsform. Denn die Einsätze haben sich vom Anderen, von der Konstitution des selbstmächtigen Ich via der Kontrolle des Anderen, des Außen, zum Ich via Ich, zum Ich in Ellipsenform verschoben. Die von Kierkegaard in detailversessener Bösartigkeit vorgeführte Selbstbefriedigung des männlichen Verführers durch die Eroberung und schlußendliche Zerstörung einer besonders sittsamen, jungen Frau, dieser Umweg über das Objekt der Begierde wird in der Popliteratur schlicht einkassiert. Man ist, man bleibt bei sich, man hat sich verloren. Der/die oder das Andere passieren, sind Geschenk oder Fluch des Zufalls: ein Glück. Der ins Kollektiv geweitete Narzißmus goes Pop: „12 Kölsch und 3 Gramm Koks. / Auflösung: in Wohlgefallen.“ [13] Auch jener oben erwähnte „Schatz“ war bereits da und aufgeschlossen – „dann küssen wir uns plötzlich. Ah, so, das war es also, das Vergessene“ [14]. Nicht das Beutestück, nicht der Sieg über das begehrte Objekt oder die Konkurrenz, über die Konvention und geschwätzige Moral, sondern die beharrliche Reproduktion der Auflösung ins Angenehme wird zum verführerischen Ziel. Die ohnehin geringe Eigeninitiative beschränkt sich darauf, die Ernüchterung, die Selbstkontrolle längstmöglich hinauszuzögern. Dafür geht man auf irgendwelche Partys, schließt sich irgendwelchen feiernden Grüppchen an oder vertreibt sich die Langeweile, wie im Falle der Protagonistin aus Relax,mit Weißwein und Pillen im Bett. Das Angenehme avanciert – Streß [15], wie gesagt, sollte konsequent vermieden werden – zum zentralen Kriterium des Genres, wird ebenso wichtig wie die Wiederholung, die das Ereignis zum Event banalisiert, und gemeinsam, als Wiederholung des Angenehmen, bilden sie die Grundlage der Selbstverführung.
Das Ereignis im loop
Goetz’ sämtliche Erzählungen beginnen denn auch mit der Repetition eines Danach. Allen fünf Bänden seiner Geschichte der Gegenwartist derselbe Romantizismus der Morgendämmerung, gerahmt von den Insignien der durchfeierten Nacht, als Motto vorangestellt: der Rausch, die Uhr, das Hinaustreten, das Anfangsgefühl. „Heute morgen um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe.“ Man weiß, wieviel Uhr es ist, der Blick auf sie ist routiniert, der Ort austauschbar und nur verschwommen wahrgenommen, der Morgen danach als Gefühl konkret, einmalig und sehr vertraut: Es geht um das einzigartige Erleben von ständig wiederholbaren, seriell konsumierbaren Events, einem Danach, das einem momentweise ganz allein gehört. Das Event wandelt sich für einen Augenblick ins Ereignis, der Konsument oszilliert ins Individuum. Gleichwohl ist gesichert, daß sich alles repetieren, alles erneut zur Verfügung stehen wird. 4 Uhr 11 wird es morgen wieder und man selbst tendentiell erneut auf Drogen sein. Der isolierte, exakt bestimmbare Moment ist so flüchtig, unwichtig wie berechenbar, wird in wenigen Stunden der Erinnerung wahrscheinlich entglitten sein, nicht aber die Stimmung, der Sound des Neugeborenseins des für einige Stunden, dafür aber nahezu täglich im „Nachtgefährtenkollektiv“ [16] aufgelösten Subjekts.
Auch für den Autor des Tagebuchs eines Verführers (1843) [17] und den Philosophen der Wiederholung (1843) [18] avanciert die Wiederholung, die Wiederholbarkeit von Ereignissen zu derphilosophischen Frage, zeichnet sich das Subjekt der Moderne durch die Fähigkeit aus, die richtige Wiederholung, die Wiederholung nach vorne, zu leben. So qualifiziert Kierkegaard die Lust an der Repetition keineswegs als Mangel an Phantasie, als Nachlässigkeit oder Dummheit, sondern bemißt an ihr den Entwicklungsgrad des vernünftigen Subjektes. Und allein dieses ist in der Lage zu verführen. Im Versuch über Die Wiederholungwird diese direkt an den einer Verführung geknüpft, womit Kierkegaard Wiederholung und Verführung zur Bedingung für die Selbstermächtigung des Subjekts verschränkt. Die richtige Wiederholung wird zum Maßstab für die Courage, die Selbstbewußtheit des Subjekts, das hier immer männlich konzipiert ist:
[…] es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen. Wer nur hoffen will, der ist feige; wer nur die Erinnerung will, der ist wollüstig; wer aber die Wiederholung will, der ist ein Mann, und je bündiger er sie sich klarzumachen wußte, ein desto tieferer Mensch ist er. [19]
Erst der Mann, so die These, der die Wiederholung des Liebeserlebnisses herbeizuführen weiß, das heißt die Kontrolle über Abbruch und Neubeginn besitzt, kann sich als freies künstlerisches und verführerisches Subjekt konstituieren. [20] Auf diese Weise wird die Wiederholung zur Grundlage eines glücklichen Lebens, wird Machtausübung zur Bedingung. Das zur Verführung angetretene Individuum findet seine Bestätigung im Kampf gegen die Konvention. Es beherrscht die Etikette wie kein anderer, was ihm erlaubt, die Situation, das Ereignis, ja sogar den Zufall zu manipulieren – mindestens in der eigenen Vorstellungswelt. Die glückbringende Wiederholung verlangt ein Höchstmaß an Kontrolle – über die eigenen Gefühle und die (emotionale) Lebenswelt der anderen. Und sie verlangt Geduld.
Geduld – quod antea fuit impetus, ratio est – sie muß auf ganz andere Art in mein Gewebe eingesponnen werden […]. Wir haben uns diesen Augenblick nicht mit Näschereien verdorben, mit unzeitiger Antizipation […]. Ich arbeite daran, das Gegenteil zu entwickeln, ich spanne den Bogen der Liebe, um desto tiefer zu verwunden. Wie ein Bogenschütze entspanne ich die Sehne, spanne sie wieder, höre ihren Klang, der meine Kriegsmusik ist, aber ich ziele noch nicht, lege den Pfeil noch nicht auf die Sehne. [21]
Beides, die Lust an der Kontrolle und die Ausdauer, auf den richtigen Moment des Zuschlagens zu harren, sind mit der Logik der Popliteratur unvereinbar; diese ist auf den Konsum des Jetzt und Hier gerichtet. Allein die Wiederholung, der die Verführung als Schwester Pate steht, diese Bewegung der Subjektschöpfung in der Wiederholung, scheint sich zu wiederholen. Auch wenn es sich um eine Selbstschöpfung unter verschobenen, vom Du zum Ich gewanderten Vorzeichen handelt.
Jenes paradoxe Privileg der Selbstentmächtigung allerdings, also die Tatsache, daß sich in der Rhetorik der Verführung der zur nahezu tödlichen Waffe stilisierte Liebespfeil nicht gegen den oder die begehrte(n) Andere(n), sondern gegen das Ich richtet, wird keineswegs von allen PopliteratInnen mit der Goetz eigenen Euphorie und Lust am Kaputten [22] begrüßt. In weiten Teilen des Genres herrscht vielmehr ausgemachte Katerstimmung. Stuckrad-Barres Erfolgsroman Soloalbumhandelt von nichts als der Tristesse eines verlassenen Jungmannes, der bemüht ist, durch Verringerung des Bauchumfangs die Freundin zurückzugewinnen. Auch hier wird auf Selbstvergessenheit durch Rauschmittel gesetzt, gerahmt von Selbstmitleid, pubertärem Weltekel und der Gewißheit, trotz der Pickel zur gesellschaftlichen Mitte, genauer: zur Medienbranche zu zählen. Antiheldentum in der Spielart des Wichtig-Versagertums erzählt sich im flüssigen Stil des Alltagssprachen-Imitats. Der Ton ist leicht, die Geschichte problemlos konsumierbar, die Stimmung angenehm traurig bis lässig verzweifelt. „Tristesse Royale“ [23] ist mittlerweile zum zweiten Markennamen der Popliteratur avanciert. Auch Hennig von Lange, eine der wenigen Autorinnen, zeichnet in Relaxdas Leben eines Jungen, der sich als Rockstar fühlt, weil das alle gut finden und er auch als einziger seiner Freunde eine Freundin hat, in grauer Eintönigkeit, als Endlosschleife eines beständigen In-Erwartung-Seins auf die große Partie, den großen Sex – und nichts findet statt. Die Leere der Figuren, ihr desinteressiertes Drehen um sich selbst in zielloser Langeweile – „relax!“ –, das in Soloalbumoder Krachts Faserlandnoch zur Heldenpose der Generation Golf aufgepolstert wird, verkümmert hier zum Gestus kläglichen Scheiterns, und das Ende der Hauptfigur auf dem Parkplatz vor einer Disco fügt der großen Langeweile nur eine weitere, kleinere hinzu.
Zeitgestalt des absoluten Präsens
Allerdings – obwohl es offenbar nicht gefällt, werden keinerlei Alternativen ins Spiel gebracht. AutorIn und Figur – und Pop lebt von dem Verschmelzen derselben – bleiben beim Naheliegenden, Greifbaren, Banalen, Erlebten. Einfach Gegenwart abzubilden, könnte das Statement der AutorInnen lauten, „License zur Nullposition“ [24] hat Diedrich Diederichsen es genannt. Doch verhält es sich komplizierter. Der Textkörper der Popliteratur ist auf den von den Medien als „echt“ inszenierten Körper der AutorIn, den Medienkörper „Autor“ zugeschrieben. Diesem Mechanismus entspricht die Verdoppelung der AutorIn in den Pop-Star: Die literarische Figur ist die AutorIn, die AutorIn die Figur, die Figuren leben, die AutorInnen sind im Fernsehen zu sehen, sind real erlebbare Fiktion. Erst diese Verschränkung von Biographie und Text verleiht letzterem die geforderte street credibility.Während die AutorIn ihren/seinen Leib zum Event schickt, der Text sich also der Leiberfahrung hinterherschreibt, wird der Erlebnis-Text dem AutorInnen-Körper aufgeschrieben – der Text als Text bildet nur ein Zwischenprodukt auf dem Weg vom AutorInnen-Leib zum Medienkörper, ist letztlich Abfall, Abfall für alle [25].
Gerade im Wiedererkennungseffekt, in der Wiederholung des, wenigstens im Prinzip, Selbsterlebten und Selbstgesprochenen, scheint das seduktive Moment für die zahlreiche Leserschaft zu liegen. Die Texte zielen sämtlich auf die direkte Identifikation mit der auf Selbstverführung ausgerichteten Ich-ErzählerIn: Popliteratur ist nicht zufällig immer in der ersten Person Singular verfaßt. Die LeserIn soll verführt werden durch das Aufgehen in der Selbstseduktion des Ich-Erzählers. Nicht das Ins-Verhältnis-Setzen mit anderen Verhältnissen ist attraktiv. Die Verführung der Texte funktioniert im Gegenteil durch die radikale Identifikation mit dem literarischen Quasi-Ich – das sich genauso spricht und langweilt und arbeitet und trinkt und freut wie der durchschnittliche Mittelstands-Jungerwachsene oder teenage consumer [26], der – hat man Glück – nicht einfach nur einem reichem Elternhaus (Kracht) entsprungen, sondern bereits ein wenig prominent ist. Also am hegemonialen Diskurs mitstricken und beispielsweise für Harald Schmidt Witze schreiben darf, als Musikkritiker werkelt (Soloalbum)oder zumindest als Trashmodel einigermaßen problemlos zu Geld und Mädchen kommt (Mai 3D) [27]. Das adelt ihn, wie häufig bereits sein oder ihr Name [28], das macht ihn/sie cool. Das Andere, die Differenz tritt in der Regel nur in ihrer marktförmigen Version der Distinktion auf. Die Inszenierungen eines Anderen, Fremden, vermeintlich Exotischen, das Wiedererkennen eines Eigenen im Fremden sind Figuren, die den verfügbaren Rahmen sprengen würden, folglich keinen Platz haben. Herausragendes Beispiel ist hier Krachts Roman Faserland,in dem sich der Ich-Erzähler beständig gegen Andersaussehende, Nicht-Marken-Jackett-Träger durch ihre – aus seiner Sicht – Abqualifizierung als „Hippies“ [29] in „Elendskneipen“ [30] oder „Schwuletten“ [31] abgrenzt.
Auch Goetz legt äußersten Wert auf die Abbildung von Realität; die „Zeitgestalt des absoluten Präsens“ [32] gelte es zu erschreiben, um den durch endlosen Exzess in den 90ern neu geschaffenen kollektiven wie individuellen Resonanzraum von Sprache auszuloten:
wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt? Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müßte. [33]
Damit zielen auch seine Texte, trotz ihrer Fragmentierungen und ihrer sprachlich nicht ganz leicht zugänglichen Form, letztlich auf Identifikation und Wiedererkennung ab. Ungeachtet dessen, daß er mit dem „Autor als Authentoiden“ [34] seine Spielchen treibt und durch Ausstellung dieser Marktstrategie des Pop dem Mechanismus das eine oder andere Sandkorn einstreut. In Dekonspirationebeispielsweise heißen die Hauptfiguren in Anlehnung an SoloalbumBenjamin und Katharina, Goetz selbst führt „sich“ zunächst als Figur und schließlich unter eigenem Namen ein und läßt sich zuguterletzt als Figur, Autor und Popstar auf der Lesung von Raveauf sämtliche Pop-Star-Kollegen der Medienszene treffen. Jener ironische Umgang aber reißt keine Lücke im Kreislauf des ewig Gleichen und Vergleichbaren auf, sondern unterfüttert sie im Sinne der Diederichsen „Ironie III“ einmal mehr. Denn am Kreisförmigen, am Kreis – bissige Anmerkungen hin oder her – soll nichts geändert werden: Man bleibt gerne unter sich.
Gerade diese Verengung auf die Reproduktion des einen Genretypus, auf den jungschen Vertreter der Medienwelt und/oder Jungautor – Goetz bildet hier sowohl hinsichtlich Alter als auch Vergangenheit als ausgewiesener „Suhrkamp-Autor“, nicht aber in der Inszenierung der Geschlechter eine Ausnahme – unterscheidet die Popliteratur in ihrer derzeit vorherrschenden Form vom „guten“ Konzept Pop. Dieses definiert sich in seiner auchsubversiven Variante, nicht allein durch die Verarbeitung von Alltagserlebnissen, sondern zusätzlich durch die wilde Kombination „unpassendster“ Elemente. (Haut-)Farben, Nationalitäten, Sprachen, Aliens und Menschen etc. erscheinen munter durcheinandergewürfelt; es wird mit vermeintlich „geschmacklosen“ (Farb-)Mischungen provoziert. Im Gegensatz dazu bietet die gegenwärtige Popliteratur den Anzug und Girlie-Look, womit sie sich offenbar ganz auf die Seite der Kommerzialität geschlagen hat. Pop als ein Dazwischen, zwischen Kommerz und subversiver Jugendkultur, als Kultur, die sich in ihren Anfängen auchdurch eine Nähe zu demokratischen Ambitionen auszeichnete, da sie, im wörtlichen wie übertragenen Sinn, auf der Verstärkung dünner, marginaler Stimmen basierte [35], hat sich in dieser Spielart mehrheitlich auf die eine Stimme des weißen, männlichen Mittelstandssubjekts der Medienund Kulturbranche kapriziert. Der hedonistische Selbstverlust scheint den überschaubaren Rahmen des Vertrauten zu benötigen: Ein Realitätssplitter wird absolut gesetzt und mittels Leiberfahrung und Körperinszenierung als „authentisch“ für eine ganze Generation vermarktet. [36]
Auch auf der strukturellen Ebene ersetzt diese Literatur das Moment des Anderen durch die Reproduktion des allzu Bekannten, in dem das Ich sich als „echt“ spiegeln darf. Wiederum Diederichsen weist darauf hin, daß ein „Wahrheitseffekt“ durch die „Gleichzeitigkeit neuer Stimmen und ein neues Publikums in einem ansonsten konventionellen Rahmen“ zu erzeugen ist. [37] Gerade weil Pop und Jugend zu zentralen Einsatzgrößen im Komsumkapitalismus werden [38], avanciert zur entscheidenden Frage, „was und wer in bestimmten Spielarten von Pop repräsentiert wird: Konzepte der Affirmation oder solche des Widerstands; der Mainstream oder die Subalternen.“ [39] In der Popliteratur ist es eindeutig der Mainstream [40], der sich allerdings nicht als Minderheit stilisiert, wie es noch für die Raver zu Anfang der 90er Jahre konstatiert wurde, sondern als Geldaristokratie oder neue Mitte. Das „popkulturelle Quintett“ [41] um Stuckrad-Barre und Kracht bildet hierbei eine Variante, Goetz als feierndes Mitglied der Kulturschickeria eine weitere. Im Gestus des Fallenund Treibenlassens dichtet sich der Text bis zur Hermetik ab: Deine Realität ist meine Realität, ist Realität, ist Realität – und irgendwann die Welt. Das Subjekt dieser Welt ist normiert: Es ist jung, heterosexuell, männlich und hat in der Regel das Abitur.
Ultrasüße Fellchenmaus
„Die Bücher der Zeit“, urteilt Sybille Berg in ihrem Roman Sex II (1999), „handeln von Techno oder davon, wie Leute herumlaufen. Hin und her (ich laufe so rum, schreiben vornehmlich junge Männer) und nichts wissen und vor allem nichts wollen.“ [42] Was nicht heißen soll, daß keine Frauen auftauchten. Von ihnen gibt es reichlich, sie sind süß (Goetz) und hübsch (Kracht), sie plappern, schnattern (Kracht, Stuckrad-Barre) und geben sich locker (passim).Kurz, sie treten, wie bereits erwähnt, in der Regel als Maus (Goetz) oder Mädchen auf – man muß sie nicht ernstnehmen. Die Popliteratur insgesamt markiert sich durch ein radikales Ausblenden von Machtasymmetrien aus dem Bewußtsein – man ist ja unter sich –, was ein grelles Einblenden der Ausgrenzung sämtlicher Spielarten nicht hegemonialer Männlichkeit [43] auf der Ebene der Darstellung nach sich zieht. Die Vermeidung von Frauenfiguren, mit denen auf Augenhöhe zu reden wäre, ist hierbei so charakteristisch wie systemstabilisierend.
Im Sumpf am Boden hinten tagt der Stammesrat.
Da sitzend die Männer unten und rauchen. Oben stehen die jungen Frauen mit ihren Gesichtern.[44]
Insbesondere Relax,der Roman von Alexa Hennig von Lange, reflektiert auf jenes in Ravenur reproduzierte Ungleichverhältnis zwischen Girlie und seinem männlichen Gegenpart, jenem mißlungenen Helden, dem ungeachtet seines permanenten Scheiterns weiterhin die hegemoniale Position zugestanden wird. Hier wird eine Paargeschichte doppelt, nämlich aus seiner und ihrer Sicht erzählt. Während sein Part mit der bereits erwähnten Selbsternennung zum Rockstar einsetzt, beginnt der ihre mit der Angst vorm Warten, Warten auf ihn: „Jedes Wochenende muß ich auf Chris warten, weil Chris dann nämlich immer feiern geht.“ [45] Die Pointe des Romans besteht darin, daß sich die gesamte Liebesgeschichte allein im Kopf der beiden abspielt; aufeinander treffen sie nicht und den beharrlich für die nächste Zukunft anvisierten Sex haben sie nicht. Statt dessen trösten sie sich mit als unbefriedigend erlebter Selbstbefriedigung – letztlich auch das einzige sie verbindende Gesprächsthema: „Hast du gestern gerattert?“ [46] Vor allem er ist mit letzterem und mit dem Feiern stets so überfordert, daß ihm keine Energie für eine eingehendere Beschäftigung mit ihr bleibt – auch wenn er sie ständig im Kopf trägt. Im Gegenzug hält sie so bissige wie ungehört bleibende Schimpftiraden – und hängt seine Söckchen in ihrer Wohnung zum Trocknen auf. Ihre Lebensund Denkwelt ist bestimmt von einem nahezu gleichberechtigten Nebenund Ineinander von Emanzipationsdiskurs und der Rede vom Frauenals Mutterglück. Sie, die „Kleine“, liebt und bewundert die Comicfigur Vampirella, da diese sich ohne jede Schwierigkeit in der Männerwelt durchsetzt. Vampirella dient ihr in seiner Abwesenheit als Onanievorlage, und die körperliche Beschäftigung erlaubt ihr, weiter vom Kinderglück mit ihm zu tagzuträumen. Obwohl sie sich die Kläglichkeit ihres „Helden“ wortreich vor Augen führt, flüchtet sie sich vor der Evidenz der gescheiterten Beziehung in Phantasien über die zukünftige Kleinfamilie. Ihr gegenwärtiger Unmut bleibt, vom sanften Schmollen abgesehen, dem Freund weitestgehend verborgen, denn dieser darf mit Unannehmlichkeiten nicht belastet werden, darauf achtet sie sorgsam.
Während die Meisterin der (literarischen) Verführung, die Marquise de Merteuil, weibliche Verstellungsartistik als Grundlage aller Verführungskunst und diese wiederum als Rache an ihrem Geschlecht im entfesselten Geschlechterkrieg erachtet [47], zwingen Machtasymmetrien in der Welt des literarischen Pop der 90er zu keiner Verteidigungshandlung, zumindest zu keiner gegen den ‘geliebten Feind’. Selbsterniedrigung bis zur Selbstzerstörung scheint die näherliegende Reaktionsweise, was die Attraktivität der weiblichen Protagonistinnen für ihre männlichen Generationsgenossen nicht gerade erhöht. Wozu verführen, wenn die Damen ohnehin stets Gewehr bei Fuß stehen? Daß viele Frauen über die Generationengrenze hinweg unerfreuliche Liebesverhältnisse durch beharrliche Selbstverführung am Leben und sich in Abhängigkeit halten, ist ein bekanntes Thema der Frauenliteratur und wurde letztens virtuos von Marlene Streeruwitz (1997) in ihrem Roman Verführungen.dargestellt. Doch retten sich die „Mädchen“ der Popliteratur eben nicht, wie letztlich Helene, in die Nüchternheit der Weiterbildungskurse beim Arbeitsamt, sondern docken sich an eine Emanzipationsrhetorik an, die ihren Unterwerfungsgestus für sich und andere akzeptabel macht: freches Girlie, ultrasüße Fellchenmaus. Angezogen vom männlichen Gegenüber, von dessen häufig unfreiwilligem, dessen häufig einer Überforderung geschuldeten Desinteresse auf sich selbst zurückgeworfen, übt sich das Girlie in Langeweile und Süßsein. Das Subjekt der Verführung ist damit weiterhin männlich – auch ohne rechten Glauben an die eigene Verführungskraft. Das Objekt aber ist keineswegs notwendig weiblich, sondern in der Regel das eigene, also wiederum maskuline Ich. „Hopla“, erschrickt sich denn auch folgerichtig das Ich auf den letzten Seiten von Dekonspirationeund nennt Frauen erstmalig nicht nur beim Namen, sondern auch als Frauen.
Ich glaube, ich bin in Alexa verliebt. Ein unwünschenswert klarer Gedanke, dem sofort ein verunsichert Zurückzucken folgt. Du wirst die Liebe der geliebten Frau nicht gewinnen. Inschrift, die über dem Leben des Zweitgeborenen steht.[48]
Frauen verführen verunsicherte, gleichwohl aber in der Normalität abgesicherte Männer, wenn überhaupt, durch ihre Körper, ihre zufällige Anwesenheit, ihre Verfügbarkeit. Direkte „Übergriffe“ ihrerseits werden meist tendenziell verwirrt abgewehrt. Das männliche Subjekt ist mit sich, seinen Sorgen, seiner Männlichkeit, mit seiner Verführung zur Selbstkonstitution im Selbstverlust beschäftigt. Die Damen kreisen in der Warteschleife und ziehen sich in entzückender Enttäuschung ebenfalls auf sich zurück. Das Ich, zumal das männliche, wird zum Anfang und Ende, Fluch und Trost einer Begegnung, die sich nur im Rausch, in der Unsicherheit eines Vielleicht konkretisiert: „Konfrontation mit der Egostruktur, die man seinem schlimmsten Freund nicht wünschen würde“ [49]: Sternschnuppe, komm her oder laß es bleiben.
[1] Goetz (1998), Umschlagtext.
[2] Goetz (1998), 80.
[3] Goetz stellt mit seinen 47 Jahren hier die absolute Ausnahme dar.
[4] Goetz (1998), 81-82.
[5] Vgl. Lyotard (1989): „Merkzettel zur Lektüre“, insb. 16.
[6] Seit dem Erscheinen im Jahr 1998 konnte bereits die 16. Auflage in Druck gehen.
[7] Stuckrad-Barre (2000), 76.
[8] Insbesondere bei Christian Krachts Faserland ist auffällig, wie oft Szenen der Annäherung durch Übelkeit mit Folgen vereitelt werden. Anders als bei Goetz, der solche Ausfälle als zum Exzess dazugehörig akzeptiert, wird dies als weiterer Grund für den Weltekel bemüht. Vgl. u.a. Kracht (1997), 29, 42. Goetz (1998), 179.
[9] Goetz (1998), 270.
[10] Goetz (1998), 124.
[11] Goetz (2000), 17.
[12] Goetz (2000), 207.
[13] Goetz (1998), 258.
[14] Goetz (2000), 207.
[15] Wiederum Goetz bringt es auf den Punkt, wenn er den Vorteil der 90er Jahre im Unterschied zu den 80ern in deren Entspannungspotential sieht: „Es war das widersprüchlichste und politischste, das radikalste, das kriegloseste und schließlich sogar noch in 1989 kulminierende Jahrzehnt der Jahrzehnte dieses verdammten Jahrhunderts. / War das ein Streß. War ich froh, als das endlich vorbei war.“ Goetz (1998), 221.
[16] Goetz (1998), 167.
[17] Kierkegaards Tagebuch eines Verführers wird im folgenden nach der 1963 erschienenen Ausgabe zitiert.
[18] Kierkegaards Essay Die Wiederholung wird im folgenden nach der 2000 erschienenen Ausgabe zitiert.
[19] Kierkegaard (2000), 4.
[20] Vgl. Kierkegaard (2000), 22.
[21] Kierkegaard (1963), 50f.
[22] „Ich will die Madness der Sprache, den Fun der Exposition, die Absurdität des Tuns. Ich hätte es, wie immer, gerne kürzer, zerfetzter, kaputter.“ Goetz (2000), 180.
[23] „Tristesse Royale“ ist der gleichnamige Titel eines Gesprächsprotokolls, in dem vier sog. Popliteraten ein „Sittengemälde der Gesellschaft” erstellen wollen. Hierfür wurde ein Kaminzimmer im Hotel Adlon angemietet. (Bessing [2000], 11). Dieses Event erzielte ein großes Presseecho. Sämtliche Artikel zum Thema finden sich unter
www.single-dasein.de/ kritik/debatte_coolness.htm
[24] Vgl. gleichnamigen Artikel vom 07.08.2000 in der taz, im Rahmen der Debatte um neue deutsche Literatur: „Goldene Zeiten für Literatur”.
[25] Gleichnamiger Roman von Goetz, der zunächst auf der täglichen Veröffentlichung im Internet basierte. Goetz (1999).
[26] Der Begriff geht auf die Studien zur Jugendkultur der CCCS zurück. Terkessidis und Holert entwickeln im Rekurs auf diesen die Grundthese ihres Buches Mainstream der Minderheiten. Diese beschreibt Jugend als eine der zentralen Wareneinsätze im Konsumkapitalismus, der sich in der westlichen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte: „Denn je mehr der mit Jugendlichkeit verkoppelte Konsumismus ins Zentrum der Gesellschaft rückte, desto mehr wurde die Gesellschaft als ganze durch ihren Konsum jugendlich. […] Alle sehnen sich heute nach jugendlichem Lebensstil und jugendlichem Aussehen. Alle sehnen sich nach der Flexibilität der Jugend. Und so wurde Jugend zu einem Instrument der ständigen Kontrolle.“ (16) „Ob sie es wollten oder nicht, die Jugendlichen und ihre Musik wurden zur gesellschaftlichen Avantgarde der Durchsetzung der neuen Werte des Konsumismus.“ (12)
[27] Hennig v. Lange/ Müller-Klug/Haaksmann (2000).
[28] Kalauertauglich: Die prominentesten PopliteratInnen tragen Adelsnamen (von Stuckrad-Barre, Hennig von Lange).
[29] Vgl. Kracht (1997), u.a. 88, 104-106.
[30] Vgl. u.a. Kracht (1997), 68.
[31] Vgl. u.a. Kracht (1997), 131. Insgesamt fällt Kracht durch unverhohlene Schwulenfeindlichkeit auf. Vgl. Kracht (1997), 99, 126.
[32] Goetz (1998), 261.
[33] Goetz (1998), 32.
[34] Goetz (2000), 155.
[35] Vgl. Diederichsen (1997), 96-113.
[36] Beurteilung der taz von Relax, abgedruckt als Klappentext: „authentisch und entspannt“. Vgl. die taz-Debatte „Goldene Zeiten der Gegenwartsliteratur“. Siehe www.single-dasein.de/kohorten/ akt_gen5.htm#Tutzing.
[37] Diederichsen (2000), taz, 07.08.2000.
[38] Entsprechend erweist sich Jugendkultur, also auch Pop, als höchst umstrittenes Terrain, da die Gesellschaft des Konsumkapitalismus sich zunehmend in ihrer Jugend repräsentiert.
[39] Holert/Terkessidis (1997), 18.
[40] Mainstream wird hier als normalisierende, Hegemonie beanspruchende Form der Warenund Bewußtseinsproduktion verstanden. Vgl. Holert/ Terkessidis (1997), 8-9.
[41] Untertitel zu Bessing, Hg. (2000).
[42] Berg (1999), 10.
[43] Aggressive Abgrenzung von Frauen, homosexuellen und schwarzen Männern sind klassische Elemente der Konstruktion hegemonialer Männlichkeit (u.a. Connell 1987). Diese kennzeichnet sich durch die Fähigkeit, differente Subjektpositionen auf eine fiktive Einheit hin zu bündeln, die wiederum mittels Virilität, Heterosexualität und Potenz Positionen von Weiblichkeit, Homosexualität und Impotenz (als das unterlegene Andere) fixiert (vgl. Tillner/Kaltenecker [1995]). Die große Ausnahme bildet hier Tim Staffels Roman (2000): Heimweh. Hier verbinden sich heteround homosexuelle Maskulinität in einer Männerfreundschaft, die jene Prekarität unterschiedlicher Begehren auszutarieren sucht. Die Frauenfiguren sind zwar randständig, werden aber keinesfalls abgewertet.
[44] Goetz (1998), 38.
[45] Hennig von Lange (1998), 135.
[46] Hennig von Lange (1998), 61.
[47] Vgl. Laclos (1985), 185.
[48] Goetz (2000), 200.
[49] Goetz (1998), 189.
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