Editorial

Barbara Naumann

In der Osnabrücker Zeitung vom 27. 5. 2015 konnte man unter der Überschrift Bildergeschenk in der Kunstsammlung NRW: Düsseldorf zeigt Kasimir Malewitsch und Imi Knöbel lesen:

Nullpunkt der Malerei sollte es sein, Fanal des Aufbruchs einer neuen Kunst: Kasimir Malewitschs (1878–1935) Schwarzes Quadrat leuchtet als radikalster Erneuerungsakt der Moderne über Jahrzehnte hinweg – und erschreckt zugleich, hundert Jahre nach seinem Erscheinen, als Zeichen rücksichtsloser Auslöschung der Tradition. Jetzt hat auch die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ihr Schwarzes Quadrat.[1]

„Endlich!“, möchte man ausrufen, endlich ist klar, was es mit Malewitschs einst so verstörender Kunst auf sich hat. Dass nun auch Düsseldorfs Kunstsammlung „ihr“ Quadrat hat, freut viele sicher sehr; womöglich erfreut aber noch mehr der Umstand, dass die Osnabrücker Zeitung Malewitsch einordnen und nachweisen konnte, warum auch die Düsseldorfer Kunstsammlung logischerweise „ihren“ Malewitsch brauchte. Die Sache ist nun historisch situiert, man hat verstanden und kunstmarkt-gemäß reagiert. Wenn nun noch aus den Reihen der Gegenwartskünstler der Beuys-Schüler Imi Knöbel, der von Malewitsch schon lange faszinierte „Meister der Hartfaser“ (so Focus am 25. 12. 2015), mit eigenen Bildern und Faserplatten auf den einst rebellischen Russen reagieren kann, scheint auch der Gegenwartsbezug der einstigen russischen Avantgardekunst rundum abgedeckt.

Warum nun diese Zitate und Bemerkungen an dieser Stelle? Sie zeigen, dass es ein breites kulturelles Verständnis oder besser: ein Selbstverständnis darüber gibt, wie sich die künstlerischen Dinge und ihre Betrachtungsweisen erschöpfend einordnen, erklären, verhandeln sowie ‚ausstellen‘ lassen bzw. lassen müssten. Gerade aber das Schwarze Quadrat hat aufgrund seiner formalen Restriktion und seines rätselhaften Gestus niemals aufgehört, das ‚visuelle Denken‘ anzuregen und das scheinbar so selbstverständlich Verhandelbare aus jedem selbstverständlichen Kontext herauszuziehen. Betrachtet man zudem die Risse und Farbsprünge in der Oberfläche des Gemäldes, die kein einfaches und glattes Schwarz zeigt, sondern verfallen ist, brüchig und in sich schattiert, dann tritt dazu noch der Aspekt von Zeit und Vergänglichkeit, der den manifestartigen und scheinbar unverrückbaren Charakter des so gerne als „Nullpunkt der Malerei“ rezipierten Bildwerks ins Schwanken bringt. Erinnert man schließlich den Umstand, dass Malewitsch sich beim Entwickeln seines Schwarzen Quadrats (von dem er zahlreiche Exemplare schuf) ausdrücklich an der russischen Ikonenmalerei orientierte, dann zeigt sich, dass selbst traditionell kunstreligiöse Argumente nicht aus dem Horizont des angeblichen revolutionären Aufbruchs der Moderne verbannt waren.

Zum weithin bekannten Anekdotenschatz gehört die viel zitierte Frage einer Putzfrau angesichts einer Installation von Josef Beuys: „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ Sei dies tatsächlich eine Anekdote oder nur ein Witz – jedenfalls weist die verständliche Frage der Putzfrau auf eben jenen unsicheren Status des Bildes oder Artefaktes und damit auf den möglicherweise völlig prekären Status von Sichtbarkeit, den kritische Bildtheorien zu behandeln sich zur Aufgabe gemacht haben. An solchen und ähnlichen Nicht-Selbstverständlichkeiten der Bildbetrachtung setzt das vorliegende Heft über Visuelles Denken an. Dieter Mersch und die von ihm versammelten Autorinnen und Autoren stellen Fragen nach dem Umgang mit dem unsicheren Status von Artefakten, nach dem, was sie zu denken geben und welches Denken in ihnen gezeigt, nachvollzogen, durchgeführt, ausgeführt oder vielleicht auch nur illustriert wird. Unter welchen Voraussetzungen man überhaupt angesichts von pikturalen Artefakten und Installments von ‚Denken‘ (und nicht nur von ‚Zeigen‘, ‚Evidenzherstellung‘, o. Ä.) reden kann, dies bildet den Fragehorizont dieses Heftes. Im Antworthorizont steht dabei die Insistenz auf der Eigengesetzlichkeit, dem Eigensinn der Artefakte selbst.

Für Zusammenarbeit, Koordination und viele Denkanstöße geht der herzliche Dank der Redaktion an Dieter Mersch. 

Außerdem bedanken wir uns bei wieder einmal bei der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturtheorie und Semiotik für die jahrelange finanzielle Unterstützung – auch das keine Selbstverständlichkeit.

Zürich, im April 2016 Barbara Naumann

 

Fussnoten:

1 Dr. Stefan Lüddemann: „Bildergeschenk in der Kunstsammlung NRW: Düsseldorf zeigt Kasimir Malewitsch und Imi Knöbel“. In: Osnabrücker Zeitung, 27. 5. 2015. http://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/579174/dusseldorf-zeigt-kasimir-malewitsch-und-imi-knoebel#gallery &0&0&579174 (zuletzt gesehen: 1. 5. 2016).

edito2016
Abb. 1: Kasimir Malewitsch: Skizze zum 5. Bild der Oper Sieg über die Sonne (1913). Staatliches Museum für Theater und Musik, Sankt Petersburg.