Poetik des Unbehagens

Unlust als point de départ in Romanen 
Marie NDiayes

Caroline Torra-Mattenklott

Das diffuse Unbehagen ist in den Romanen Marie NDiayes ein wiederkehrendes Motiv – und mehr als das: Es ist der habituelle Zustand der zumeist weiblichen Protagonisten, der Ausgangspunkt und das movens ihrer Suchbewegungen, die Anspannung, aus der die Handlung hervorgeht und die sie in Gang hält. Ein Beispiel ist der Anfang des Romans En famille von 1990: Die 18-jährige Protagonistin, die durch eine Verwechslung oder Unaufmerksamkeit ihrer Tante zu Beginn des Romans irrtümlich Fanny genannt wird und diesen Namen bis zum Ende beibehält, wird am Gartentor ihrer Großmutter von wütenden Hunden empfangen. Der Onkel, der auf ihr Rufen hin vor die Haustür tritt, macht keine Anstalten, ihr zu öffnen, und als sie endlich von einer Tante eingelassen wird, fühlt sie sich von der versammelten Familie unerkannt und abgelehnt. Fannys Unbehagen beschränkt sich an dieser Stelle nicht auf ihren Unmut über die unfreundliche Behandlung, sondern hat zugleich auch eine körperliche und eine kognitive Seite. Noch auf der Straße klettert Fanny auf einen Stein und zwängt, für die Hunde unerreichbar, ihren Oberkörper durch die Gitterstäbe des Gartentors. Aus dieser unbequemen Position heraus streckt sie ihrem Onkel beide Arme entgegen:

„Voyons, Georges, c’est moi, ta nièce!“ dit-elle en souriant. Et elle tendait les bras vers lui malgré la douleur que lui causaient les barreaux au moindre mouvement. Elle respirait d’ailleurs avec difficulté, mais pouvait-elle rester derrière la grille comme une étrangère, humiliée par les chiens? [1]

Die verrenkte Körperhaltung, aus der Fanny sich, eingeklemmt zwischen Drinnen und Draußen, nur mit Hilfe ihrer Tante befreien kann, steht emblematisch für ihr Verhältnis zur Familie, der sie sich den ganzen Roman hindurch auf ebenso obstinate wie masochistische Weise anzunähern versucht, bis sie vom Hund ihres Cousins in Stücke gerissen und schließlich als Wiedergängerin, nur noch ein Schatten ihrer selbst, von der Tante in einen Schuppen geräumt wird.[2] Die Gründe für die Ablehnung, die ihr die Familie entgegenbringt, bleiben indessen vage. Fanny zögert nicht, die Ursache in einem schwerwiegenden Versäumnis ihrerseits zu vermuten, obwohl ihr ein solcher Fehler gar nicht bewusst ist:

Et elle était chagrinée que les chiens ne l’eussent pas reconnue, voyait là le signe d’un grave manquement de sa part. […] Elle n’avait, à sa connaissance, jamais fait de tort à la famille et s’était toujours occupée des deux chiens avec sollicitude, lors de ses brefs séjours chez l’aïeule. Mais, qu’on lui en voulût pour une raison qu’elle ignorait, voilà devant quoi il fallait s’incliner.[3]

Fannys Ahnungslosigkeit lässt nicht nur das Verhalten der Hunde und der Familie unverständlich erscheinen, sondern taucht zudem Fannys eigene Wahrnehmungen und Erwartungen in ein zweifelhaftes Licht: Kann der fast kahlköpfige Onkel seit ihrem letzten Besuch so viele Haare verloren haben? Ist es möglich, dass die alten Hunde sie plötzlich nicht mehr wiedererkennen? Warum spricht die Tante sie mit einem falschen Namen an und erzählt ihr Details aus der Familiengeschichte, über die sie doch selbst am allerbesten Bescheid zu wissen glaubt?[4] Das Unbehagliche der Situation hängt mit einer grundlegenden Unsicherheit zusammen, einem Zweifel, der Fannys Zeitwahrnehmung und Erinnerung, ja ihre gesamte Identität in Frage stellt.

In der Folge wird deutlich, dass Fannys Besuch bei der Großmutter bereits eine Reaktion auf die Missstimmung zwischen ihr und ihrer Familie ist: Das Haus der aïeule ist die erste Station auf einer Reise, die Fanny unternimmt, um die ihr unbekannte, seit vielen Jahren verschollene Tante Léda zu finden. Dass Léda von ihrer Geburt nicht unterrichtet wurde, so Fanny, ist ein Versäumnis ihrer Eltern, das wie ein Fluch auf ihr lastet und ihr Leben von Beginn an deformiert hat.[5] Die Suche, die den angerichteten Schaden wieder gutmachen soll, Fanny aber tatsächlich aus einer unbehaglichen Situation in die nächste treibt und die Unklarheiten eher vermehrt als beseitigt, bildet die narrative Substanz des Romans.

Mit einer Formulierung von Georges Poulet könnte man das vage Unbehagen als Marie NDiayes point de départ bezeichnen:[6] als den Punkt, von dem ihre Romane ihren Ausgang nehmen, und zwar sowohl im Sinne einer charakteristischen Grundbefindlichkeit der Romanfiguren, die deren Suchbewegungen und Erkenntnisprozesse antreibt, als auch im Sinne einer kreativen Spannung, einer Unbestimmtheit, die den Vorgang der literarischen inventio in Gang setzt. In En famille wird dieser Vorgang in die Erzählung selbst verlegt: Das Unbehagen an der Familie und der eigenen fraglichen Identität treibt Fanny dazu, sich selbst gleichsam als Romanfigur neu zu erfinden; ihre Identitätssuche nimmt die Form eines Familienromans im Freud’schen Sinne an. Ihre Erzählung von der vergessenen Tante, die wie die nicht geladene dreizehnte Fee im Märchen in absentia ihr Schicksal bestimmt[7], ist ein Schritt in diese Richtung; die Übernahme des ihr irrtümlich beigelegten Namens, den sie bisher nur aus Büchern kennt, ein weiterer:

– Je ne m’appelle pas Fanny, Tante Colette! Tu as donc tout oublié? Mais cela ne fait rien, appelle-moi Fanny. Il me fallait, de toute façon, dit Fanny avec plaisir, un nouveau prénom. […] Tante Colette, si pointilleuse, avait été jusqu’à confondre son prénom avec celui d’elle ne savait qui, n’ayant jamais rencontré de Fanny ailleurs que dans les livres.[8]

Mit dem Namen ‚Fanny‘ eignet sich Fanny auch dessen fiktionalen Charakter an. Bei einem Besuch im Hause ihres Vaters, der von ihrem neuen Namen nichts wissen kann, begrüßt der ihr unbekannte, in eine pittoreske Uniform gekleidete Hausangestellte sie irritierenderweise als „mademoiselle Fanny“.[9] Er behauptet, unter diesem Namen von ihr gehört zu haben, kann sich aber auf Fannys Nachfrage hin weder erinnern, ob dabei wirklich von ihr die Rede war, noch, ob der Name ‚Fanny‘ überhaupt je gefallen ist. Diese Unsicherheit stürzt Fanny in erneute Zweifel: Weiß ihr Vater überhaupt, wer sie wirklich ist? Könnte ihre verwandtschaftliche Beziehung ihm nicht plötzlich fraglich erscheinen? Obwohl die widersprüchlichen Angaben des Domestiken sie selbst verunsichern, kann sie seine Zweifel durch einen Hinweis auf die identitätsstiftende Funktion der Namen in der Literatur entkräften:

– Je ne suis même pas sûr, continua le domestique, qu’il s’agisse bien de Fanny, ni que ce prénom ait jamais été prononcé ici. Alors, comment voulez-vous que je sache si on parle de vous? D’ailleurs, qui êtes-vous?
– Je suis Fanny! s’écria Fanny irritée.
– Eh, Fanny, cela ne veut rien dire! s’exclama-t-il à son tour.
– Je ne suis rien d’autre, dit-elle butée, que Fanny, et cela vous suffirait bien si vous suiviez mon histoire dans un livre.
– Sans doute, fit le domestique avec conviction.[10]

Wie um den fiktionalen Charakter Fannys und ihrer Unternehmung zu bestätigen, übergibt der Dienstbote ihr bei ihrem Aufbruch mit verschwörerischer Miene eine unbeschriebene Postkarte, die Léda vor einigen Jahren an den Vater geschickt habe. Auf Fannys ungläubiges Nachfragen hin („Vous ne savez pas précisément qui je suis […], et, cependant, vous êtes certain que ma tante Léda a envoyé cette carte vierge […]! Comment est-ce possible?“[11]) begründet er sein Wissen mit dem ihm offenkundig zugedachten Part: „Je l’ignore […]. Il faut croire que c’est là mon rôle.“[12] Die vom Snobismus des Vaters zeugende Fantasie-Uniform des Bediensteten kann angesichts seines metafiktionalen Selbstkommentars auch als ein komödiantisches Attribut gelesen werden, das auf seine soziale und literarische Doppelrolle hinweist. Ich werde auf den Zusammenhang zwischen Unbehagen und literarischer inventio bei NDiaye weiter unten noch einmal zu sprechen kommen, möchte aber zuvor ausführen, wie sich meine These vom diffusen Unbehagen als point de départ in die Tradition einer Psychologie und Narratologie der Unlust stellen lässt.

 

Uneasiness, inquiétude, manque: Psychologie und Narratologie der Unlust

Bereits in der Philosophie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts gilt die Unlust als das Prinzip, das den Menschen zum Handeln antreibt. Der älteren Auffassung, dass es die Aussicht auf ein größeres Gut sei, die ihn dazu motiviere, seinen momentanen Zustand zu verändern, setzt John Locke in seinem Essay concerning human understanding seine Theorie der uneasiness entgegen: Das Begehren (desire), das unseren Willen zum Handeln bestimme, sei letztlich ein Unbehagen, das aus einem Mangelzustand resultiere, und ziele stets auf die Wiedererlangung von Ruhe, Behaglichkeit oder Leichtigkeit (ease). Wenn die Abwesenheit einer Sache, so begehrenswert sie auch sei, keine Unlust erzeuge, der Mensch also auch ohne sie zufrieden sei, bleibe sein Begehren so schwach ausgeprägt, dass es nicht ausreiche, um den gegenwärtigen Zustand zu verändern. Der hauptsächliche, wenn nicht einzige Antrieb zum Handeln ist nach Locke das Unbehagen:

[T]he chief if not only spur to human Industry and Action is uneasiness.[13]
What moves the mind, in every particular instance, to determine its general power of directing, to this or that particular Motion or Rest? And to this I answer, The motive, for continuing in the same State or Action, is only the present satisfaction in it; The motive to change, is always some uneasiness: nothing setting us upon the change of State, or upon any new Action, but some uneasiness. This is the great motive that works on the Mind to put it upon Action, which for shortness sake we will call determining of the Will […].[14]

Der Begriff uneasiness steht bei Locke für ein weites Spektrum mehr oder weniger heftiger Missempfindungen, zu denen sowohl der körperliche Schmerz als auch die mentalen Zustände der Trauer, der Furcht, der Verzweiflung, des Ärgers und des Neides gehören.[15] Bereits die Verminderung einer Lustempfindung, so Locke, kann als schmerzhaft wahrgenommen werden, gehört also zu den vielfältigen Erscheinungsformen der uneasiness.[16] Im Unterschied zum traditionellen Begriff des Affekts bzw. der passiones umfasst der Begriff der uneasiness also nicht nur heftige Gemütsbewegungen, die von körperlichen Symptomen begleitet werden, sondern auch schwächere Grade der Unlust sowie Unlustempfindungen, die nur auf mentaler Ebene wirksam sind.[17]

In seinen Nouveaux Essais sur l’entendement humain hat Leibniz Lockes Theorie der uneasiness aufgegriffen und weiterentwickelt. Dem französischen Locke-Übersetzer Pierre Coste folgend, gibt Leibniz uneasiness mit dem Wort inquiétude wieder, das, wie bereits aus einer Anmerkung Costes hervorgehe, nicht ganz dieselbe Bedeutung habe, das Gemeinte aber letztlich genauer bezeichne:

PHILALÈTHE. […] J’ai été un peu en peine de la signification du mot Anglois: uneasiness. Mais l’interprète François […] remarque […] que par ce mot Anglois l’auteur entend l’Etat d’un homme, qui n’est pas à son aise, le manque d’aise et de tranquillité dans l’ame, qui à cet egard est purement passive; et qu’il a fallu rendre ce mot par celui d’inquietude, qui n’exprime pas precisement la même idée, mais qui en approche de plus prés. […]

THÉOPHILE. L’interprete a raison […] il me paroist quasi que le mot d’inquietude, s’il n’exprime pas assés le sens de l’auteur, convient pourtant assés à mon avis à la nature de la chose et celui d’uneasiness, s’il marquoit un deplaisir, un chagrin, une incommodité, et en un mot quelque douleur effective, n’y conviendroit pas. Car j’aimerois mieux dire que dans le desir en luy même il y a plutôt une disposition et préparation à la douleur, que de la douleur même.[18]

Während unter Lockes Begriff uneasiness auch der Schmerz, und, so wäre zu ergänzen, die heftigeren Affekte fallen, bezeichnet der von Leibniz favorisierte Begriff der inquiétude (‚Unruhe‘) nur einen schwachen, kaum wahrnehmbaren Grad der Unlust. Costes Übersetzung wird in Leibniz’ Lektüre zu einer korrigierenden Umschrift, die einen differenzierteren Begriffsgebrauch ermöglicht – eine präzisere Unterscheidung zwischen uneasiness/inquiétude und Schmerz bzw. Affekt –, zugleich aber auch den Fokus der Untersuchung verschiebt: Leibniz’ inquiétude ist das affektive Pendant zu den petites perceptions, jenen infinitesimalen, sich der deutlichen Erkenntnis entziehenden Wahrnehmungen, die in ihrer Gesamtheit die diffusen Vorlieben und Abneigungen, das je ne sais quoi sowie die starken, aber nicht weiter zergliederbaren sinnlichen Qualitäten ausmachen.[19] Die unmerklichen Reize, die den Menschen in Unruhe (inquiétude) versetzen und die Leibniz auch als Rudimente oder Elemente des Schmerzes, als „demi-douleurs“ bezeichnet, lenken das Handeln des Menschen, ohne als Schmerzen ins Bewusstsein vorzudringen, und können durch die Akkumulation infinitesimaler Lustmomente (demi-plaisirs) schließlich zu einer vollen und wahrhaftigen Glückserfahrung führen.[20]

Auf der Ebene dieser diffusen sollicitations stellt das Handeln sich als ein reflexhafter, gleichsam mechanischer Vorgang dar, der von unbewussten Impulsen gesteuert wird. Dementsprechend beschreibt Leibniz die infinitesimalen Reize auch als Triebfedern, die den Menschen wie eine Maschine am Laufen halten. Das deutsche Wort für inquiétude, ‚Unruhe‘, ist, wie Leibniz bemerkt, ein anderer Ausdruck für das Uhrpendel, das den subtilen Mechanismus des Uhrwerks in steter Bewegung hält. Ebenso wie die Uhr ist auch der Mensch, solange er lebt, in ständiger Unruhe. Selbst was er als sein Gleichgewicht wahrnimmt, ist immer nur ein vorübergehender Zustand, der schon im nächsten Augenblick durch einen neuen Sinneseindruck, eine unmerkliche organische Veränderung gestört werden kann:

Mais pour revenir à l’inquietude, c’est à dire aux petites solicitations imperceptibles, qui nous tiennent tousjours en haleine, ce sont des determinations confuses, en sorte que souvent nous ne savons pas ce qui nous manque […]. Ces impulsions sont comme autant de petits ressorts qui tachent de se debander, et qui font agir nostre machine. […] On appelle Unruhe en Allemand, c’est à dire inquietude, le balancier d’une horloge: on peut dire, qu’il en est de même de nostre corps qui ne sauroit jamais estre parfaitement à son aise: parce que quand il le seroit, une nouvelle impression des objets, un petit changement dans les organes, dans les vases et dans les visceres, changera d’abord la balance, et les fera faire quelque petit effort pour se remettre dans le meilleur etat qu’il se peut; ce qui produit un combat perpetuel qui fait pour ainsi dire l’inquietude de nostre Horloge […].[21]

Die Unruhe (inquiétude) erscheint in den Nouveaux Essais als der Normalzustand des Menschen, als das Prinzip, das ihn am Leben hält, ohne dass er sich seiner Wirkungsweise bewusst würde. Im letzten, auf die Einführung der Uhrwerkmetapher folgenden Schritt von Leibniz’ Überlegung erfährt der Begriff überdies noch eine Erweiterung: Er bezeichnet nicht mehr nur das Unbehagen, das den Menschen zur Tätigkeit antreibt, sondern auch diese Tätigkeit selbst, den ständigen Kampf zwischen den Kräften, die den Gleichgewichtszustand erschüttern, und denen, die danach streben, ihn wieder herzustellen. Aus Lockes manifestem, als Schmerz oder Affekt präzise benennbarem Unbehagen ist also ein unbewusster Mechanismus geworden, der von infinitesimalen, immer wieder ausgeglichenen Unlustquantitäten angetrieben wird – eine gottgegebene Ökonomie, bei der die Unlust zum Verschwinden gebracht wird, bevor sie ins Bewusstsein dringt, während die Lustempfindungen sich akkumulieren und die Schwelle zum Bewusstsein überschreiten können. Unlust im Sinne der inquiétude, so lässt sich zusammenfassen, ist in der Leibniz’schen Psychologie keine bestimmte Empfindungsqualität und kein spezifischer Seelenzustand, sondern eine abstrakte Quantität, ein Energiepotential oder eine Spannung, die nur negativ, als mangelndes Gleichgewicht oder mangelnde Ruhe definiert ist. Während nach Lockes Theorie der uneasiness durchaus Zustände der Ruhe und Zufriedenheit denkbar sind, in denen kein Unbehagen zum Handeln nötigt, ist nach Leibniz noch die scheinbar gleichgültigste Lebensregung eine Folge der unausgesetzt pulsierenden Unruhe, die Leib und Seele in Gang hält.

Mit dem Stichwort der Ökonomie deutet sich bereits an, womit ich meinen Exkurs zur Psychologie der Unlust abschließen möchte: mit einem Blick auf Freuds Theorie des Lustprinzips, das in der Traumdeutung unter der Bezeichnung ‚Unlustprinzip‘ eingeführt wird.[22] Laplanche und Pontalis bezeichnen das Lust- bzw. Unlustprinzip bei Freud prägnant als einen „,automatischen‘ Regulationsmechanismus“ des psychischen Apparats, dessen Grundprinzip darin besteht, unlustvolle Spannung zu vermeiden oder abzuführen.[23] „Die Motivation“, heißt es bei Laplanche/Pontalis ganz ähnlich wie bei Locke, „ist die aktuelle Unlust und nicht die Aussicht auf die zu erreichende Lust“.[24] Oder in Freuds eigenen Worten, zu Beginn der Schrift Jenseits des Lustprinzips:

In der psychoanalytischen Theorie nehmen wir unbedenklich an, daß der Ablauf der seelischen Vorgänge automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird, das heißt, wir glauben, daß er jedesmal durch eine unlustvolle Spannung angeregt wird und dann eine solche Richtung einschlägt, daß sein Endergebnis mit einer Herabsetzung dieser Spannung, also mit einer Vermeidung von Unlust oder Erzeugung von Lust zusammenfällt. Wenn wir die von uns studierten seelischen Prozesse mit Rücksicht auf diesen Ablauf betrachten, führen wir den ökonomischen Gesichtspunkt in unsere Arbeit ein.[25]

Ähnlich wie Leibniz, der die inquiétude metaphorisch als Triebfeder (ressort) konzeptualisiert, beschreibt Freud die Unlust als einen Spannungszustand, der im Sinne des Lustgewinns reduziert werden muss. Derselbe Gedanke wird auch unter den Begriff der Erregungsquantität gefasst: Die Unlust entspricht einer Steigerung, die Lust einer Verringerung der Erregungsquantität.[26] Mit dem Erreichen vollkommener Spannungslosigkeit kehrt der Organismus in den unbelebten Zustand zurück; das Lustprinzip steht in dieser Hinsicht im Dienste des Todestriebs.[27] Das Aufsparen, die Akkumulation von Triebenergie im Dienste des Realitätsprinzips, kommt dagegen einer provisorischen Akzeptanz von Unlust gleich, die dem Todestrieb entgegenwirkt, indem sie den lebensnotwendigen Spannungszustand aufrechterhält.[28]

Im Zentrum von Jenseits des Lustprinzips steht der Wiederholungszwang, d.h. die Beobachtung, dass Analyse-Patienten verdrängte, der Erinnerung nicht zugängliche Erlebnisse als gegenwärtige wiederholen, selbst wenn damit keine Möglichkeit des Lustgewinns verbunden ist.[29] Bei nicht neurotischen Personen, so Freud, zeigt sich dieser Zwang in Form eines schicksalhaften, „dämonischen Zuges in ihrem Erleben“[30], der umso eindrücklicher wirkt, wenn die Betroffenen sich dabei passiv zu verhalten scheinen, das Erlebte ihnen also scheinbar von außen widerfährt.[31] Zur selben Gruppe von Phänomenen gehören die Angstträume bei der traumatischen Neurose.[32] Freud schlägt verschiedene, zum Teil widersprüchliche Erklärungen für diese Phänomene vor.[33] Die in Jenseits des Lustprinzips formulierte These ist, dass der Wiederholungszwang einer den Trieben immanenten Tendenz zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes entspricht, eine Perspektive, unter der Lustprinzip und Todestrieb ununterscheidbar werden: Die Wiederholung des Verdrängten und die dadurch produzierte Unlust dienen einer Spannungsabfuhr, die dem Lustprinzip entspricht und letztlich auf die Rückkehr in den unbelebten Zustand hinausläuft.

Das Leben ist für Freud nur um den Preis erheblicher Unlustempfindungen zu haben, die zum Teil als Triebenergie zum Handeln nutzbar gemacht, zum Teil in einer komplexen Dynamik von Verdrängungen, Besetzungen und Gegenbesetzungen, Verschiebungen und Projektionen gebunden und umgeleitet werden. In seiner psychoanalytisch inspirierten Studie Marie NDiaye: Blankness and Recognition hat Andrew Asibong vorgeführt, wie sich Freuds Theorien des Traumas und des Fetischismus sowie postfreudianische Theorien der Persönlichkeitsspaltung und Selbstentfremdung auf NDiayes Werk anwenden lassen. Asibongs Erkenntnisinteresse richtet sich vor allem auf die „emotional blankness“ von NDiayes Protagonistinnen, d.h. auf ihre Unfähigkeit, sich emotionalen Erfahrungen auszusetzen und „emotionales Wissen“ zuzulassen.[34] Demgegenüber richtet sich mein Augenmerk hier eher auf Situationen, die Asibong mit einer Formel von Wilfried Bion als „wild flashes of unstoppable K.“ beschreibt: als intensive emotionale Erfahrungen, denen NDiayes Protagonistinnen wider Willen ausgesetzt sind und von denen – laut Asibong vor allem in den späteren Werken NDiyaes – ein positiver psychischer Antrieb („a non-negotiable psychic propulsion forwards“) ausgeht.[35] Die von Asibong in diesem Zusammenhang erwähnten Ereignisse, das unwillkürliche Urinieren Norahs in Trois femmes puissantes[36] und die Begegnung mit dem namenlosen schwarzen Tier in Autoportrait en vert[37], sind auch Beispiele für Momente der Unlust – es handelt sich aber m.E. weniger um emotionale Erfahrungen als um irritierende Symptome verdrängter oder anderweitig unbewältigter Wirklichkeitsaspekte.

Wie schon angedeutet, ist dieser Antrieb nicht nur auf psychischer, sondern auch auf poetologischer Ebene wirksam: Die Zustände der Unlust setzen die Handlung und die literarische Einbildungskraft (inventio) in Gang. Als movens narrativer Prozesse ist Unlust im allgemeinen Sinne einer Schädigung bzw. eines Mangels schon in der Frühphase der strukturalen Narratologie beschrieben worden. Bevor ich auf Marie NDiayes Romane zurückkomme, möchte ich diese erzähltheoretische Tradition kurz in Erinnerung rufen.[38]

Wladimir Propp listet in seiner Morphologie des Märchens 31 Funktionen auf, die nicht immer vollständig, aber in immer gleicher Reihenfolge für alle russischen Zaubermärchen konstitutiv sind.[39] Die ersten sieben Funktionen bilden den Einleitungsteil des Märchens; der eigentliche Konflikt, der den Ausgangspunkt der Handlung bildet, folgt an achter Stelle. Propp unterscheidet zwischen Märchen, bei denen die Handlung durch eine Schädigung in Gang gesetzt wird, etwa durch eine Entführung, einen Raub oder einen Mord (Funktion VIII), und Märchen, die mit einer bereits bestehenden Fehl- oder Mangelsituation beginnen, etwa mit dem Fehlen einer Braut, eines Freundes, eines Zaubermittels oder einer materiellen Existenzgrundlage (VIIIa).[40] Die Funktionen IX und X leiten die Gegenhandlung des Helden ein, der zu einer Reise aufbricht (XI) und nach einer Reihe von Abenteuern und Begegnungen (XII-XVIII) das anfängliche Unglück gutmacht bzw. den Mangel behebt (XIX).[41]

Der amerikanische Ethnologe und Märchenforscher Alan Dundes hat dieses Schema mit Bezug auf indianische Volksmärchen vereinfacht und terminologisch präziser gefasst: In seiner Morphology of North American Indian folktales werden Propps Funktionen VIII und XIX zu einer Kernsequenz, die für sich alleine ausreicht, um einen bestimmten Märchentyp strukturell zu definieren.[42] Dundes verwendet für diese Sequenz die Formel lack/lack liquidated, wobei lack ein Ungleichgewicht (disequilibrium) bezeichnet, das ebenso durch ein Zuviel wie durch ein Zuwenig gekennzeichnet sein kann.[43] Zu einem ähnlichen Resultat gelangt Greimas, der Propps Funktionen systematisch reduziert und generalisiert, so dass die Sequenz manque/liquidation du manque nicht mehr nur als Kennzeichen eines bestimmten Märchentyps, sondern als ein allgemeines Strukturmodell der Erzählung (récit) erscheint.[44] Wie Leibniz und Freud beschreibt Greimas den Mangelzustand als eine Triebfeder, eine mechanische Spannung (ressort), die dazu tendiert, ihr polares Gegenteil zu produzieren. Diese Spannung, die durch die Differenz oder Distanz (écartement) zwischen manque und liquidation du manque unterhalten wird und sich bei der Verkehrung des Negativen ins Positive löst, identifiziert Greimas mit der quête [45], der Suche, die der Held oder die Heldin unternimmt, um das gestörte Gleichgewicht ins Lot zu bringen.

Fannys Suche nach ihrer Tante Léda trägt alle Züge einer solchen quête, auch wenn es ihr bis zum Ende nicht gelingt, den Mangelzustand zu beheben, der sie antreibt. Tatsächlich lassen sich nicht nur die beiden von Dundes und Greimas isolierten Funktionen lack und lack liquidated in En famille wiederfinden, sondern auch andere von Propp inventarisierte Grund-elemente des Märchens, so z.B. die Abreise (Funktion XI), die Übergabe eines Zaubermittels durch einen Schenker und die Wegweisung (XII-XV), die der Dienstbote von Fannys Vater als „seine Rolle“ betrachtet.[46]


Marie NDiaye, Mon cœur à l’étroit und Autoportrait en vert

Während Fannys quête trotz aller Bemühungen nie wirklich zu einer befreienden Einsicht führt, fungieren die anfangs meist diffusen und unerklärlichen Zustände des mentalen und körperlichen Unbehagens in NDiayes späteren Romanen – zu denken ist hier vor allem an Autoportrait en vert (2005), Mon cœur à l’étroit (2007), Trois femmes puissantes (2009) und Ladivine (2013) – als Auslöser von Erkenntnisprozessen, in denen verdrängte oder verleugnete Familienrealitäten ans Licht geraten. Gegen ihre eigenen, zum Teil erheblichen Widerstände finden einige der Protagonistinnen in diesen Texten am Ende zu einer Souveränität, die es ihnen ermöglicht, die verdrängten Aspekte ihrer Identität anzuerkennen und sich ihren fremd gewordenen Eltern, Kindern oder Geschwistern anzunähern bzw. von ihnen zu lösen. In Mon cœur à l’étroit und in der ersten Erzählung der Trois femmes puissantes ist die Erlangung dieser Souveränität gleichbedeutend mit der Wiederherstellung körperlichen Wohlbefindens.

Nadia, die 50jährige Protagonistin und Ich-Erzählerin von Mon cœur à l’étroit, muss zu Beginn des Romans die Schule verlassen, an der sie unterrichtet, weil ihr ebenso wie ihrem Mann und Lehrerkollegen Ange dort plötzlich eine unerklärliche Feindseligkeit entgegenschlägt. Eines Abends kommt Ange mit einer tiefen Wunde in der Brust nach Hause, verweigert aber jede medizinische Hilfe, so dass die Wunde bald eitert und das Zimmer mit ekelerregendem Gestank erfüllt.[47] Ein von Nadia und Ange verachteter Nachbar nistet sich in der Wohnung ein, versorgt das Ehepaar mit opulenten Mahlzeiten und bringt die mittlerweile wie durch eine Schwangerschaft aufgedunsene Nadia dazu, Ange und die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Auf der Reise zu ihrem Sohn wird Nadia nicht nur von ihrem weiterhin zunehmenden Körperumfang, von Schweißausbrüchen und Heißhungerattacken gequält, sondern auch von imperativem Harndrang.[48] Aber nicht nur ihr eigener Körper, sondern ganz Frankreich scheint sich gegen sie verschworen zu haben: In ihrer Heimatstadt Bordeaux fahren die Straßenbahnen konsequent an ihrer Haltestelle vorbei, und als endlich doch eine anhält, schließen die Türen, bevor Nadia einsteigen kann, so dass sie mit ihrem schweren Koffer zu Fuß zum Bahnhof gehen muss.[49] Ihr Zug, der letzte an diesem Tag, bleibt in Marseille stehen, statt bis Toulon weiterzufahren, wo sie die Fähre erreichen will. Für ihre Sitznachbarin Nathalie besteht kein Zweifel daran, dass diese Fahrplanänderung speziell gegen Nadia gerichtet ist, ohne dass deutlich würde, weshalb.[50] „Comment se fait-il que je ne sache jamais rien?“[51] Nadias Frage bezieht sich nicht nur auf ihr Unverständnis der eigenen Situation, sondern auch auf die traurige Geschichte der unbekannten Mitreisenden, die diese ihr im Zug erzählt hat. Nadia hat ihr nicht zugehört, ein Versäumnis, dessen sie sich erst im Nachhinein bewusst wird. Zusätzlich zu ihrem Körpergewicht belastet sie nun das vage erahnbare Unglück Nathalies:

Je m’en veux d’avoir manqué le début des ses propos. Essayant vainement de me rappeler ce que j’ai dû entendre sans l’écouter, sans me rendre compte qu’elle me parlait, je perds le fil de ce qu’elle dit. Je replonge dans une rêverie qui m’isole – bien opportunément, me dis-je, car n’ai-je pas la terreur, n’ai-je pas la détestation des confidences? […] Mais je ressens le poids de l’irréparable malheur. Ce fardeau vague déjà me pèse, m’encombre. Comme je voudrais pourtant m’unir à son chagrin, tâcher de le distraire par de bonnes paroles. Mais voilà que cette froide et sévère méfiance que je reconnais si bien fige mon cœur mal à l’aise, voilà que secrètement je me sens soulagée de ne rien savoir des tourments de cette femme […].[52]

Nadias ambivalente Selbstreflexion markiert einen Wendepunkt in der Erzählung: Ihre Unfähigkeit, sich Nathalie aufmerksam und einfühlend zuzuwenden, macht ihr die Schuld bewusst – den Egoismus, die Arroganz und Gefühlskälte –, für die sie und Ange mit ihrem Martyrium büßen müssen. Mit dieser Einsicht ist Nadias Leidenszeit noch nicht vorüber, aber sie erhält auf der Fähre zumindest die Gelegenheit, Nathalies Geschichte zu erfahren und aufrichtiges Mitgefühl zu empfinden.[53] Erst als sie im Dorf nahe dem Wohnort ihres Sohnes ihren alten Eltern wiederbegegnet, die sie wegen deren fremder, vage als maghrebinisch identifizierbarer Herkunft und mangelnden Bildung Jahrzehnte lang verleugnet hat[54], lösen sich die beklemmenden Symptome auf: Ange wird in ihrer Abwesenheit gesund und verliebt sich in eine ehemalige Prostituierte, deren Name ebenfalls auf eine maghrebinische Herkunft hinweist[55], und Nadia bringt in der Wohnung ihrer Eltern das Ding („cette chose“) zur Welt, von dem ihr Körper besessen war: ein schwarzes, glänzendes, flüchtiges, vielleicht auch behaartes Wesen ähnlich einem Aal, das durch die Küchentür verschwindet und nichts als eine feine Blutspur hinterlässt.[56]

Nicht in allen Texten NDiayes nimmt der Erkenntnisprozess die Form einer zielgerichteten Suche oder Reise an. In Autoportrait en vert vollzieht sich die Selbstanalyse der Ich-Erzählerin in einer Reihe ineinander geschachtelter, assoziativ aufeinander bezogener Erzählstränge, die sich den disparaten, durch Trennung, Migration und erneute Partnerschaften verzweigten Familienverhältnissen nur auf Umwegen annähern. Auf der discours-Ebene gehen den Erzählungen von der Familie zwei Erzählungen voraus, die von Freundinnen der Ich-Erzählerin handeln und strukturelle Merkmale der Familiengeschichte vorwegnehmen. Dabei bleibt die Chronologie der Ereignisse ebenso unübersichtlich wie die kinderreiche, über mehrere Kontinente verteilte Familie: Die zahlreichen, nicht chronologisch geordneten Datumsangaben beziehen sich zum Teil wie bei Tagebucheinträgen auf den Zeitpunkt der Niederschrift, zum Teil auf die Ereignisse selbst, und obgleich sich das gesamte Geschehen nur über eine Dauer von vier oder fünf Jahren erstreckt, ergibt sich eher das Bild einer komplexen Konstellation von Personen und Geschichten als das einer linearen Handlung. Das auffälligste Kompositionselement sind die refrainartig eingestreuten Berichte über das Garonne-Hochwasser im Dezember 2003, die das Buch rahmen, aber weder den Anfangs- noch den Endpunkt der erzählten Zeit markieren.

Auch in Autoportrait en vert beginnt die eigentliche Erzählung mit einer kognitiven Unsicherheit, die Unbehagen verursacht, ohne eine im selben Maße virulente Krise zu signalisieren wie die Ausgangssituationen von En famille und Mon cœur à l’étroit. Die Irritation geht in diesem Fall nicht von einem zwischenmenschlichen Konflikt, sondern von einer unscharfen Sinneswahrnehmung aus: Auf dem verlassenen Grundstück eines ehemaligen Bauernhofs, an dem sie jeden Tag mehrmals vorüberfährt, um ihre vier Kinder zur Schule zu bringen und abzuholen, glaubt die Ich-Erzählerin – ich nenne sie der Einfachheit halber Marie – neben einem Bananenbaum die sich nur vage von ihrer Umgebung abhebende Silhouette einer grüngekleideten Frau wahrzunehmen:

2002 – Comme je la voyais chaque jour devant sa maison, il m’a été longtemps impossible de distinguer entre cette présence verte et son environnement.
Je passais devant chez elle, au volant de ma voiture […] et mon regard tombait à chaque fois sur une forme incertaine qui aussitôt après se confondait dans ma mémoire avec l'arbre unique de l'enclos, un haut et large bananier.
Je passais donc devant chez elle quatre fois par jour. Et je la regardais et ne la voyais pas, et cependant une obscure insatisfaction m’obligeait à tourner la tête de ce côté, pourtant je ne remarquais rien, jamais, qu’un beau bananier insolite. Je freinais devant cette maison. Je roulais presque au ralenti et pas une seule fois mes yeux n’ont manqué de se poser sur la silhouette immobile, aux aguets, de la femme en vert debout près du bananier largement plus imposant qu’elle, et cela je le sais sans doute possible. Car j’avais, quatre fois par jour, le cœur étreint par quelque chose d’innommable quoique pas absolument mauvais, dès que j’avais dépassé la ferme au bananier solitaire dans la cour grillagée […].[57]

Die Unschärfe der Wahrnehmung überträgt sich hier auf die Sprache und mithin auf den Leser, der trotz oder gerade wegen der wiederholten Erzählung des sich viermal täglich wiederholenden Geschehens im Unklaren darüber bleibt, ob die grüngekleidete Frau tatsächlich sichtbar und anwesend ist oder nicht. Während der Beginn des ersten Satzes („Comme je la voyais chaque jour devant sa maison“) bereits das Bild einer Frau evoziert, löst die Fortsetzung des Satzes diese Vorstellung in Vagheit auf: Die Rede ist von einer „présence verte“, die für die Betrachterin lange Zeit nicht von ihrer Umwelt zu unterscheiden war. 

Dasselbe Verhältnis von Erwartung und Auflösung wiederholt sich im zweiten, ungleich längeren Satz. Der vierte, in sich paradoxe Satz („Et je la regardais et ne la voyais pas“, „je ne remarquais rien, jamais, qu’un beau bananier“) widerspricht überdies dem ersten („Comme je la voyais chaque jour devant sa maison“). Der sechste Satz behauptet „sans doute possible“ die Präsenz einer grüngekleideten Frau, die im siebten Satz wieder zu etwas Unbenennbarem verschwimmt. Der Versuch der Ich-Erzählerin, ihren Zweifel zu beheben, indem sie ihre Kinder nach deren Wahrnehmung fragt, schlägt fehl: Die Kinder sehen keine grüngekleidete Frau, aber Marie ist sich nun ganz sicher, sie erstmals genau erkannt zu haben. Am selben Tag noch wird Marie mit der Frau in Grün Bekanntschaft schließen. Dass Katia Depetiteville nach Auskunft der Leute im Dorf bereits seit zehn Jahren tot ist, hindert Marie nicht daran, sich mit ihr anzufreunden und sich ihre Erzählungen anhören.

Katia Depetiteville oder ihre Wiedergängerin ist die erste einer ganzen Serie von Frauen in Grün, deren zweifelhafte Identitäten und Rollen stets ein gewisses Unbehagen auslösen: eine grüngekleidete Lehrerin aus Maries Kinderzeit, die wegen ihrer rabiaten Strafen gefürchtet war;[58] eine unbekannte Frau in grünen Shorts, die ihr auf der Straße eine Familiengeschichte erzählt und in der Marie ihre Freundin Christina vermutet, bis deutlich wird, dass beide Frauen sich in der Person geirrt haben;[59] die neue Frau von Maries Vater, die früher Maries beste Freundin war, nun aber die Rolle ihrer Stiefmutter erfüllen muss;[60] die Frau eines Jugendfreundes von Maries Freundin Jenny, die sich erhängt, nach ihrem Tod aber wieder auftaucht und die Ehe stört, die Jenny unterdessen mit dem Jugendfreund eingegangen ist[61], und schließlich Maries Mutter, die sich neu verheiratet und ein weiteres Kind bekommt, als Marie selbst bereits zum fünften Mal schwanger ist.[62] Die meisten dieser Frauen sind tatsächlich grün gekleidet oder tragen grüne Kontaktlinsen. Die Farbe ist jedoch nicht das, worauf es wirklich ankommt: Eine Frau in Grün, so erkennt Marie am Ende, ist eine Frau, die sich an einem Ort befindet, an dem sie nicht sein sollte. Dies gilt auch für die Garonne, den Fluss, der über die Ufer getreten ist.[63]

Der Zweifel, mit dem die Erzählung anhebt, löst einen Prozess der Fiktionalisierung und der Reflexion aus, der es der Ich-Erzählerin ermöglicht, durch eine Kette von Analogien hindurch ihre komplexen Familienstrukturen zu beleuchten: Erst vor dem Hintergrund der geisterhaften, aus der Vergangenheit oder Imagination entsprungenen Frauen in Grün wird das Unbehagen beschreibbar, das Marie angesichts der neuen, die Generationenfolge in Unordnung bringenden Verbindungen und Kinder ihrer Eltern befällt. Die Wiedergängerinnen verkörpern diese Unordnung, aber auch die ‚dämonische‘ Wiederholungsstruktur im Leben der Ich-Erzählerin, die in den grünen Frauen ihr persönliches Schicksal, einen „sens fatal“ zu erkennen meint.[64]

Gleichwohl ist die Annäherung an die Familie in Autoportrait en vert nicht der Weisheit letzter Schluss. Als Marie in Begleitung von Katia Depetiteville ihre beiden jüngeren, mutmaßlich dem Alkohol- und Drogenkonsum verfallenen Schwestern in der Pariser Banlieue aufsucht und Katia, die mit den dicken Schwestern nichts anzufangen weiß, sich aus deren Wohnung davon macht, kommt die Ich-Erzählerin, Autorin von Beruf, ins Zweifeln, ob ihr karitativer Familienbesuch den Verlust der rätselhaften Freundin wert ist:

Me vient la pensée méchante […] que ma visite charitable à ces deux filles ne valait pas la perte de Katia Depetiteville. Car je pense à ma mère, à la femme d’Ivan, à ma belle-mère, et je redoute de me considérer moi-même comme un être insensé si toutes ces femmes en vert disparaissent l’une après l’autre, me laissant dans l’impossibilité de prouver leur existence, ma propre originalité. Je me demande alors […] comment trouver supportable une vie dénuée de femmes en vert découpant en arrière-plan leur silhouette équivoque. Il me faut, pour traverser calmement ces moments d’hébétude, d’ennui profond, de langueur désemparante, me rappeler qu’elles ornent mes pensées, ma vie souterraine, qu’elles sont là, à la fois être réels et figures littéraires sans lesquelles l’âpreté de l’existence me semble racler peau et chair jusqu’à l’os.[65]

Die Frauen in Grün, besagt diese metapoetische Reflexion, sind gleichermaßen reale Personen und fiktive Figuren; der Beweis ihrer Existenz, der sich nur auf literarischem Wege führen lässt, belegt zugleich die Originalität der Autorin, die sie in einem ebenso analytischen wie kreativen Akt hervorgebracht und durch Analogieverfahren vervielfältigt hat. Der Akt der Fiktion ist von Unlust begleitet, von Zweifel, leichten Schwindelgefühlen und einem „cœur étreint“, und die Figuren, die stets deplatzierten Frauen in Grün, lösen immer ambivalente Empfindungen aus. Gleichwohl bewahren sie vor einer noch schlimmeren Spielart der Unlust: vor dem Stumpfsinn, der Langeweile, der Trägheit und Lustlosigkeit, Zuständen, die ebenfalls zum Bedeutungsspektrum dieses Wortes gehören, der schöpferischen inquiétude aber diametral entgegengesetzt sind. Wo die Unlust Monster gebiert, wie in Mon cœur à l’étroit, wird sie zu einem poetischen Vermögen, einer Triebfeder der Erkenntnis, einem Therapeutikum gegen die Trägheit des Geistes.

 

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Walch, Johann Georg (1726): Philosophisches Lexicon. Leipzig: Gleditsch.

 

Fussnoten:

1 NDiaye (1990), 8.

2 Vgl. NDiaye (1990), 85 f., 305 f.

3 NDiaye (1990), 7 f.

4 Vgl. NDiaye (1990), 7, 9 f., 12 f.

5 Vgl. NDiaye (1990), 15 f., 19.

6 Vgl. Poulet (1964); 
Poulet (1971), 306 u. ö. Vgl. dazu auch de Man (1983).

7 Zum Märchenmotiv des oubli initial in En famille vgl. auch Moudileno (1998), 445.

8 NDiaye (1990), 9 f.

9 NDiaye (1990), 33.

10 NDiaye (1990), 35.

11 NDiaye (1990), 39 f.

12 NDiaye (1990), 40.

13 Locke (1689), II, XX, § 6.

14 Locke (1689), II, XXI, § 29 (Herv. im Orig.).

15 Vgl. Locke (1689), II, XX, § 6-16.

16 Vgl. Locke (1689), II, XX, § 6, 16.

17 Vgl. Locke (1689), II, XX, § 17. Zum Affektbegriff um 1700 vgl. z. B. den umfassenden Artikel „Affect“ in Walch (1726), 49-59.

18 Leibniz (1765), II, XX, § 6 (Herv. im Orig.).

19 Vgl. Leibniz (1765), „Préface“, 54 f.

20 Leibniz (1765), II, XX, § 6.

21 Leibniz (1765), II, XX, § 6 (Herv. im Orig.).

22 Vgl. Freud (1900), 568-574.

23 Laplanche/Pontalis (1967), 297.

24 Laplanche/Pontalis (1967), 297.

25 Freud (1920), 217.

26 Vgl. Freud (1900), 568; Freud (1920), 217 f.

27 Vgl. Freud (1920), 270 f.

28 Vgl. Freud (1920), 220.

29 Freud (1920), 228-230.

30 Freud (1920), 231.

31 Vgl. Freud (1920), 232.

32 Vgl. Freud (1920), 241 f.

33 Vgl. dazu den Art. „Wiederholungszwang“ in Laplanche/Pontalis (1967), 627-631.

34 Vgl. Asibong (2013), u. a. 14-28; zum Begriff emotional knowledge: 16.

35 Asibong (2013), 16 (Herv. im Orig.).

36 Vgl. NDiaye (2009), 65.

37 Vgl. NDiaye (2005), 93.

38 Für den Hinweis auf diese Tradition danke ich Thomas Anz.

39 Vgl. Propp (1928), 25-30.

40 Vgl. Propp (1928), 36-40.

41 Vgl. Propp (1928), 55.

42 Vgl. Dundes (1964), 61 f. Dazu ausführlich Bremond (1968).

43 Vgl. Dundes (1964), 61 f.

44 Vgl. Greimas (1966), 206 f.

45 Vgl. Greimas (1966), 207.

46 Zur Struktur der quête in En famille vgl. auch Jordan (2008), bes. 151.

47 Vgl. NDiaye (2007), bes. 70-72, 106-112, 166-171.

48 Vgl. NDiaye (2007), 238, 245-248, 268.

49 Vgl. NDiaye (2007), 241-245.

50 Vgl. NDiaye (2007), 249-254, 258.

51 NDiaye (2007), 256.

52 NDiaye (2007), 251 f.

53 Vgl. NDiaye (2007), 269-275.

54 Vgl. NDiaye (2007), 336-347, 363-368. Zur unscharfen Geographie in Mon cœur à l’étroit und zu Nadias möglicher Herkunft siehe auch Sheringham (2009), bes. 173 f.

55 Vgl. NDiaye (2007), 369 f., 375-377.

56 Vgl. NDiaye (2007), 373.

57 NDiaye (2005), 9.

58 Vgl. NDiaye (2005), 15.

59 Vgl. NDiaye (2005), 16-23.

60 Vgl. NDiaye (2005), 30 f., 36.

61 Vgl. NDiaye (2005), 40-62.

62 Vgl. NDiaye (2005), 62-72.

63 Vgl. NDiaye (2005), 94.

64 NDiaye (2005), 16, 33, 68.

65 NDiaye (2005), 77.