Editorial
„Da hab i s’ angschaut, hab ma denkt: scheen is s’ net.“[1] Diesen Satz spricht in unnachahmlich missbilligendem Tonfall der „Herr Karl“, eine Bühnenfigur des Schauspielers und Autors Helmut Qualtinger im ebenfalls Herr Karl betitelten Bühnenmonolog von 1961. So, wie Herr Karl denkt und empfindet, kann sich das „s’“, das nicht schön ist, auf alles Mögliche beziehen: auf eine nur allzu mühsam zu liebende Frau, auf das weibliche oder je nachdem männliche Geschlecht im Ganzen, auf eine alltägliche Situation und selbst auf ein ganzes langes Leben. Ein Hof negativer Assoziationen schwingt in diesem Hauptsatz aller Unlust und aller Unlustigen mit: vom Missbehagen bis zum Ekel, von der Appetitlosigkeit bis zur Misogynie und Misanthropie, von der Trägheit bis zum Hass. Wo immer ein unbestimmtes negatives Gefühl sich breitmacht, ist beim Herrn Karl die Unlust schon auf den Plan gerufen.Â
Dieser Herr Karl ist berühmt geworden als ein Amalgam aus politischem Opportunismus, kleinbürgerlicher Weltsicht und einer großen Portion Selbstgerechtigkeit. Eine ganzes Spektrum von Unlustempfindungen durchzieht seine Lebens- und Erfahrungswelt und hindert ihn dennoch nicht daran, sich erfolgreich den ständig wechselnden – vor allem politischen – Verhältnissen immer wieder geschickt anzupassen. Was sich bei dieser mittlerweile zu einem Stereotyp der Dekadenz gewordenen mürrischen wienerischen Figur zeigt, ist selbstverständlich nicht auf deren Soziotop beschränkt. Unlust, manchmal ein starkes und zuweilen auch nur ein untergründig wirksames Gefühl, kann Ausdruck des Ekels sein, kann dezentes Zurückweichen vor unangenehmen Umständen ebenso bezeichnen wie grundsätzliche Angst, sie kann Aversion, Motivationsarmut, Müdigkeit und Erschöpfung ebenso wie totale körperliche und geistige Verweigerung oder auch Aggression bedeuten; sie kann sporadisch und punktuell auftreten oder der Inbegriff einer das ganze Leben umfassenden Verneinung sein.Â
Eltern pubertierender Kinder kennen den Ausruf: „Ich hab keine Lust!“ nur zu gut und wissen, dass diese Formel alle Formen der Begegnung mit der Familie betreffen kann, unabhängig davon, welche Einladung oder welches Angebot zu gemeinsamen Aktivitäten gerade ausgesprochen wurde. Häufig wird dann die Frage gestellt: „Aber warum denn nicht?“, allerdings zumeist ohne Aussicht auf eine plausible Antwort. Zu unbestimmt ist die Unlust einerseits und andererseits zu umfassend und grundsätzlich; zu starke Unlust erzeugt bei den Jugendlichen zudem die Vorstellung, dass sie dieses Gefühl nun auch noch reflektieren und erklären müssten. Eine solche Generalverneinung kennen wir auch von Herman Melvilles Figur des Schreibers Bartleby.
In seinem Buch Jenseits des Lustprinzips, einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1920, hat sich Sigmund Freud ausführlich der Unlust gewidmet. Für Freud ist sie mehr als irgendein starkes Gefühl, denn sie übernimmt einen wichtigen Part im ökonomischen Haushalt der Seele. Freud spricht auf der Ebene der Metapsychologie sogar von „imperativen Lust- und Unlustempfindungen.“[2] Da der psychische Apparat aufgrund seiner grundsätzlich ökonomischen Ausrichtung bemüht sei, die „in ihm vorhandene Quantität der Erregung möglichst niedrig oder wenigstens konstant zu halten“[3], also Spannung abzubauen, schränke die Unlust das Regime des Lustprinzips psycho-ökonomisch sinnvoll ein. Freud folgert aus dieser Beobachtung: „Es kann also nur so sein, daß eine starke Tendenz zum Lustprinzip in der Seele besteht, der sich aber gewisse andere Kräfte oder Verhältnisse widersetzen, so daß der Endausgang nicht immer der Lusttendenz entsprechen kann.“[4] Unlust, der Antagonist des Lustgewinns, ist das Gefühl, das dem Scheitern des Lustgewinns ein Profil gibt. Sie erhält im seelischen Geschehen deshalb eine zentrale Rolle, wenn nicht gar eine Nobilitierung. Wie deutlich Freud seine Theorie auch aus alltäglichen Beobachtungen heraus entwickelt hat und wie nah sie damit an unserer heutigen, wenn auch kulturell anders codierten Lebenswelt bleibt, wird aus folgender Bemerkung deutlich: „Die meiste Unlust, die wir verspüren, ist ja Wahrnehmungsunlust, entweder Wahrnehmung des Drängens unbefriedigter Triebe oder äußere Wahrnehmung.“[5] In einer an Lustversprechen und Lustgewinn orientierten Lebenswelt wie der unseren ist das Eingeständnis: „Scheen is s’ net“ – das Eingeständnis dessen, dass die Herrschaft des Lustprinzips selbst dort schon eingeschränkt ist, wo kein manifestes Leiden vorliegt – eine bedeutsame und womöglich sogar kritische Einsicht.Â
Beim Schreiben des Editorials fällt (mir) auf, dass alle bisher genannten Beispiele einer Theorie und Praxis der Unlust aus Wien stammen. Ein weiterer eindringlicher Schilderer und Bewunderer der Unlust und des „Scheen is s’ net“, der hier noch genannt werden müsste, ist ebenfalls ein Kind dieser Stadt: Heimito von Doderer, der Autor des Romans Die Strudlhofstiege.[6] Selbstverständlich sollte darin kein Axiom gesehen werden. Es ist natürlich nicht so, dass die Unlust eine wienerische oder österreichische Spezialität wäre, auch wenn es auffällt, welch große Expertise die Autoren und Autorinnen dieser Stadt von Freud und Schnitzler bis zu Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek in der Schilderung der Unlust entwickelt haben. Wenn die Unlust wienerisch sein sollte, dann vielleicht nur insofern, als die wienerische Stadtkultur gerade den Genuss, die Hingabe – und sei es die an den Topfenstrudel –, die Verführung, das Laisser-faire und das Reich der künstlichen und künstlerischen Lüste exzellent zu inszenieren weiß. Vielleicht kennt man in Wien den Preis genauer, der für die dekadenten Gelüste zu zahlen ist.
Die Beiträge dieses Heftes beleuchten ein breites Spektrum der Unlust, die sich in der Literatur und den Künsten von einer äußerst produktiven Seite zeigt.
Lustvoll und leicht hat sich jedenfalls die Zusammenarbeit mit den Gast-editorinnen Christine Abbt und Christine Weder gestaltet. Die Redaktion dankt herzlich dafür. Unser Dank geht wie immer auch nach Wien (!) an Pascale Osterwalder, für das Cover und generell für die umsichtige visuelle Betreuung dieses und aller Hefte.
Zürich, im September 2014 Barbara Naumann
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Fussnoten
1 Helmut Qualtinger (1961): Der Herr Karl. TV-Filmproduktion des ORF. Regie: Erich Neuberg. (DVD).
2 Sigmund Freud (1920): Jenseits des Lustprinzips. In: ders.: Studienaus-gabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Bd. 3. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1975, 213-272, hier: 217.
3 Freud (1920), 219.
4 Freud (1920), 219.
5 Freud (1920), 221.
6 Vgl. Heimito von Doderer (1951): Die Strudlhofstiege, oder,
Melzer und die Tiefe der Jahre. Mit einem topographischen Anh.
von Stefan Winterstein und einem Nachw. von Daniel Kehlmann. München: C. H. Beck, 2013.