Editorial

Barbara Naumann

Wahrscheinlich hat man folgende Eröffnungstakte in der Version der Big Band Glenn Millers im Ohr: (siehe Bild rechts)

Es liegt etwas in dieser Melodielinie, in diesem Rhythmus, im warmen Klang der Saxophone. Kaum benennbar und extrem wirkungsmächtig, stellt sich schon nach dem ersten Takt ein je-ne-sais-quoi ein, erfasst einen jener eigentümliche Swing, der die meisten Gemüter sofort in Bewegung versetzt und aufhellt. Durch die Musik in eine bewegliche Heiterkeit versetzt, lässt sich der Körper affizieren, zum Wippen mit der Fußspitze und zum rhythmischen Kopfnicken drängen, vielleicht sogar zum Tanzen. „In the Mood“: Erwartungsvoll sind Ohr, Körper, Gemüt – man ist heiterer Stimmung. Erfasst und durchdrungen von einer Stimmung, die diese wenigen Noten mit unausweichlicher Macht übertragen können. Fast jeder kann dies erfahren, es funktioniert unabhängig von Alter und Geschlecht, und fast jeder genießt dieses Etwas sogar. Und doch bleibt die Stimmung – das Geheimnis dieser Musik wie der Musik überhaupt – weitgehend unbeschreibbar.

Mit jener ubiquitären, das Leben und den Weltzugang jedes Menschen prägenden und doch der sprachlichen Be-Stimmung sich entziehenden, mit der in jeder Hinsicht rätselhaften Stimmung befasst sich das vorliegende Heft. Jeder weiß, dass die Stimmung das Erdrückendste, Düsterste, Belastendste der menschlichen Erfahrung ausmachen kann. Sie vermag aber auch die leichteste, zarteste, heiterste, flüchtigste und beflügelndste Bewegung des Gemüts zu sein. Die Stimmung ist seit je ‚Gegenstand‘ und ‚Forschungsgebiet‘ der Instrumentenkunde, der Musikwissenschaft, der Philosophie, der Neurologie, der Psychiatrie und Psychologie. Vor allem aber gehört die Stimmung zum Geheimnis der Wirkungsmächtigkeit der Künste, und im Kontext der Kunstproduktion und -rezeption ist vielleicht am meisten über sie nachgedacht worden. Aus einer Ausstellung von Olafur Eliasson oder Jean Tinguely kommen die meisten Besucher mit einem heiteren Gesicht; nach dem Anhören von Brahms’ Requiem sucht man den heiteren Ausdruck wohl eher vergebens. Johann Sebastian Bachs Forschungen zum Wohltemperierten Klavier stehen am Ende einer großen Experimentalreihe, die als ein Ergebnis die Modulationsfähigkeit zwischen sämtlichen Dur- und Molltonarten erzielte; sie sind aber auch ein Beginn des Nachdenkens über Tonalität und Emotion, das bis heute ununterbrochen anhält.

Über die Feststellung Heideggers, dass die Stimmung den Bezug zu allen Dingen der Welt prägt, über die Feststellung Freuds, dass die Dinge vom Subjekt positiv oder negativ besetzt werden und so immer einer Gestimmtheit unterliegen, ist die Forschung bis heute kaum hinaus gelangt. Vielfältig empfunden und beschrieben, ist die Stimmung und sind Stimmungen doch kaum beherrschbar geworden. Stimmung – und zwar in jedem Sinne des Wortes – ist nach wie vor ein Rätsel. Unmittelbar deutlich wird dies, wenn man einige die Stimmung charakterisierende Metaphern betrachtet: Stimmung kann steigen, überborden, umschlagen oder kippen, sie kann einem aber auch gänzlich vergehen. Von der miesen Laune bis hin zur schweren Depression, vom verhaltenen Schmunzeln bis hin zu Luftsprüngen jubelnden Entzückens oder zum dröhnenden Gelächter, von der ironischen Andeutung bis zum harten Schlag ins Gesicht reicht die schier unendliche Ausdruckspalette menschlicher Stimmungen. Dabei geht die emotionale Anstrengung der meisten Menschen generell in die gleiche Richtung – nämlich die der Vermeidung ‚schlechter‘ Stimmung. Die permanente Aufforderung, guter Stimmung zu sein („relax!“, „take it easy!“), stellt gewissermaßen den gesellschaftlichen kategorischen Imperativ nicht mehr nur der US-amerikanischen Gegenwart dar. In der Regel paart sich die Sehnsucht nach guter Stimmung gern mit hedonistischen Lebensformen und öffnet Stimulanzien wie Alkohol und Drogen, aber auch den Scharlatanen der Politik, der Medizin und natürlich aller Facetten des New-Age-Therapiebereichs Tür und Tor.

Einer der vielen Autoren, die sich selbst stets im Lichte der eigenen Stimmungen wahrgenommen und diese für äußerst interessant befunden haben, ist Goethe. Seine Stimmungsbeobachtungen waren ihm so wichtig, dass er sie zunächst selbst säuberlich notierte, später dann von Eckermann aufzeichnen ließ. Schon als junger Reisender in der Schweiz hielt er fest: „ich fühle recht gut, daß meine Natur nur nach Sammlung und Stimmung strebt und an allem keinen Genuß hat was diese hindert." [1] Goethe wusste, dass Stimmung nicht gleichzusetzen ist mit guter Stimmung. Denn nicht immer war er „in the mood“ für die Literatur oder die Wissenschaft. Er wusste sich selbst durchaus der Unlust, der Krise zu überlassen, wovon etwa die jahre- bis jahrzehntelangen Unterbrechungen der Arbeit an Werken wie Faust oder Wilhelm Meister Zeugnis ablegen. – In bester Stimmung hat hingegen der Gasteditor Hans-Georg von Arburg (Lausanne) dieses Heft gestaltet, und wir danken für die heitere und ununterbrochen produktive Zusammenarbeit! 

Heiterer Stimmung präsentiert aber auch die Redaktion dieses Heft – und zwar deshalb, weil es eine erfreuliche Ankündigung zu machen gibt: Die von Pascale Osterwalder in Zusammenarbeit mit Wolfie Christl völlig neu gestaltete Homepage der figurationen ist in diesem Monat aufgeschaltet worden:

www.figurationen.uzh.ch

Wir empfehlen unbedingt einen Blick auf die neue Seite, die eine ausführliche und übersichtliche Dokumentation der Hefte sowie weiter reichende Recherchemöglichkeiten bietet.

Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieses Heftes sei herzlich gedankt.


Zürich, im Oktober 2010


Fussnote:

1 Johann Wolfgang Goethe: Reise in die Schweiz (15. 8. 1797). In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter. München: btb, 2006, Bd. 4.2, 629.

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