Editorial
Ein Thesaurus ist in der engeren Wortbedeutung ein Schatz oder auch Schatzhaus. Folgt man den Erläuterungen in Grimms Wörterbuch, war die Bedeutung des Schatzes zunächst ganz auf einen materiellen, pekuniären Zusammenhang begrenzt: Schatz als deutsche Version der lateinischen Begriffe obolus, pecunia, talentum; später auch von substantia, mobilia etc. Er bezeichnete also Reich- und Besitztümer aller Art, aber noch keinen Sprachschatz und ebenso wenig einen geliebten Menschen. Paradigmatisch dafür mag die Stelle im Alten Testament (1. Kön. 7;51) dienen, an der der Tempel des sagenhaften Königs Salomo aufgrund der prunkvollen Ausstattung als eine Schatzkammer erscheint: „So wurden alle Arbeiten, die König Salomo für das Haus des Herrn ausführen ließ, vollendet. Dann brachte er die Weihegaben seines Vaters David hinein und legte das Silber, das Gold und die Geräte in die Schatzkammern des Hauses des Herrn.“[1] Die vornehmste Aufgabe der weltlichen und spirituellen Schatzhäuser war das Sammeln, Horten und Verbergen. Erst spät lässt sich dann im Hochdeutschen der übertragene Gebrauch auf „jedes beliebige köstliche Gut“ und damit auch auf Personen nachweisen.Â
Bei der Erwähnung eines Schatzhauses wird manchen sicher das sogenannte Schatzhaus des Atreus in den Sinn kommen (Abb. 1). Es wurde bei uns im Geschichtsunterricht über die griechische Antike erwähnt und löste mit seinem geheimnisvollen Namen einen seltenen Moment der Neugier aus. Sofort stellten sich Phantasien von Abenteuerreisen und Schatzfunden ein – dabei war der Name des Baus doch selbst der Phantasie des Archäologen Heinrich Schliemann entsprungen. Zwar war Schliemann sich nicht ganz im Klaren, ob der von ihm freigelegte antike Kuppelbau mit schmalem Portal von ca. 1250 v. Chr. (nachdem ihn vor ihm schon andere Archäologen begutachtet und teilweise ausgeräumt hatten), wirklich ein antikes Königsgrab (Tholos) war. Aber sehr wohl wusste er, mit welcher Namensgebung er sein deutsches Publikum begeistern und spendabel stimmen konnte. Die Sprache spielte für die Attraktivität der Schätze Schliemanns eine bedeutende Rolle. Zudem zeugt jenes Schatzhaus auf dem Peloponnes von einer Bauweise, die heute noch für eine solche Funktion paradigmatisch erscheint: Es ist tief und fest gebaut, trotzt Angriffen und Erdbeben; es verwahrt sicher, was man ihm anvertraut.Â
Auch die Überlegungen zu einem neuen Thesaurus, die im vorliegenden Heft entwickelt werden, gehen von einem Bau aus. Genauer gesagt: Die Baumetapher bleibt leitend für den hier vorgestellten kulturellen Thesaurus, auch wenn man ihn sich nicht mehr als steinernen Bau vorzustellen hat. Ulrike Steierwald, die im letzten Jahr ein großes Thesaurus-Projekt mit dem Beispiel Das Herz thesaurieren gestartet hat,[2] weist in ihrem einleitenden Beitrag darauf hin, dass für einen zeitgemäßen kulturellen Thesaurus das Prinzip der Architektur als ein dynamisches aufgefasst werden muss: Das „dynamische Prinzip jeder Architektonik zeigt sich auch im relationalen Beziehungsgeflecht eines Thesaurus.“ Wie also kann man diesen neuen Thesaurus denken, der auf Künste und ihre Kommentierung ausgelegt, nicht hierarchisch, sondern relational, polylogisch, dezentriert ist?
Auch dieser aktuelle digitale Thesaurus benötigt eine komplexe Architektur: Begriffe, Kunstwerke, Texte (fiktionale wie solche der Forschung), Studien, Pläne, Lektüren etc. werden auf einer Plattform erst in einer komplexen Vernetzungs- und Verlinkungsarchitektur zu dem zusammenfinden können, was ein kulturelles Schatzhaus heute zu bedeuten und zu leisten vermag. Insofern erscheinen die Beiträge dieses Heftes in einer doppelten Funktion: Als erste Schätze in diesem künftigen Schatzhaus untersuchen sie die Sprachbildlichkeit einzelner Begriffe (in Bild, Text und assoziierten Forschungsfeldern) in der Form ‚klassischer‘ Aufsätze, und sie sind zugleich erste Texte, die – untereinander und mit den erwähnten Werken verlinkt – deren breite kulturhistorische Diskussion als Schatz in Erscheinung treten lassen: Ergänzungen jederzeit möglich und nötig! Um einmal im Bild zu bleiben: Das Thesaurus- Projekt bildet das erste Herzstück einer Forschung, die potentiell weiterwachsend, zu einer Art progressiver Universalpoesie der Kulturschätze werden könnte. Und dies in einer Architektur, die die konventionelle Hierarchie zwischen der Kunst und ihrer Kommentierung, zwischen akademischen und außerakademischen Redeweisen, zwischen Fiktion und Forschung, Sprache, Bild und Ton außer Kraft setzt und in einen Polylog verwandelt, wiewohl deren Differenz und Ãœbergänge immer markiert bleiben.Â
In Adelungs Wörterbuch der hochdeutschen Mundart (1811) wird darauf hingewiesen, dass in Worten wie „Brautschatz, Mithabe und Mahlschatz“, doch auch „der Begriff einer Kostbarkeit mit eintritt. In beyden findet auch die Bedeutung einer Gabe Statt.“[3] Das Kunstwerk Abschweifung von Lilian Robl in diesem Heft ist in diesem Sinne eine bild-textliche Gabe in multimedialer Form (siehe den QR-Code auf S. 111). Zu hoffen ist, dass der im Entstehen begriffene neue Thesaurus dazu beiträgt, weitere Schätze der Literatur und Kultur zu aktualisieren und in Bewegung zu versetzen.Â
Wir danken Ulrike Steierwald und Wolfgang Kemp herzlich dafür, dass sie unseren Leser*innen und uns ihr Schatzhaus eröffnet und auch die figurationen zum Weitersammeln und Verknüpfen eingeladen haben.Â
In eigener Sache: Wir begrüßen herzlich Stefanie Heine als neues Redaktionsmitglied, und wir danken Noah Schmitz (nun in Berlin) ganz besonders für sein Engagement bei der redaktionellen Arbeit an diesem Heft.
   Zürich, im Oktober 2019 Barbara Naumann
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Fussnoten
1 Zit. nach der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (2001). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk.
2 Vgl. Ulrike Steierwald, Hg. (2018): Das HERZ thesaurieren. Der Thesaurus literarischer Sprachfiguren und Bildbegriffe. Eine audiovisuelle Dokumentation in 16 Teilen. https://ulrike-steierwald.de/der-thesaurus (zuletzt gesehen: 18. 9. 2019). (zuletzt gesehen: 18. 9. 2019).
3 Johann Christoph Adelung (1811): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Wien: Bauer, Lemma:Â
Der Schatz, Sp. 1375 f.