Editorial
Vor ein paar Wochen hat IKEA einen Pop-up-Store in der unterirdischen Einkaufspassage am Zürcher Hauptbahnhof eröffnet. Für kulturkritisch Angehauchte ein gefundenes Fressen: Ist das Unternehmen mit diesem Pilotprojekt, das gleich mehrfach im Zeichen des Transitorischen steht (Konzept des Pop-up, Verkehrsdrehscheibe Bahnhof), nicht endlich an dem Ort angekommen, der ihm aufgrund seiner notorisch wackligen und wenig langlebigen Möbel – seiner mobilia im etymologischen Wortsinn – ‚von Haus aus‘ immer schon zugedacht war? Die PR-Abteilung von IKEA sieht das selbstredend etwas anders und will das Experiment als Anpassung an die veränderten Mobilitätsgewohnheiten der eigenen Kundschaft verstanden wissen. Im Klartext: Den neuen Vertriebsweg gehe man schlicht, weil man die Zeichen der Zeit erkenne. Komplementär zu dieser sachbedingten Flexibilität legt das Unternehmen beim eigenen Webauftritt denn auch Wert darauf, sich als „Einrichtungshaus“ mit 75-jähriger Tradition zu präsentieren. Quer zu seinem gängigen Low-Cost- und DIY-Image setzt es auf der eigenen Homepage mithin auf Konnotationen, die das Häusliche als Hort der Geborgenheit und zeitenüberdauernder Stabilität beschwören.
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Wenn es ums Sich-Einrichten geht, sind derart konträre Zuschreibungen indes kein Alleinstellungsmerkmal des Phänomens IKEA. Das zeigt ein Blick in einen richtungsweisenden Aufsatz von Thomas Wegmann, einem der beiden Gasteditoren des vorliegenden Hefts. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wird die Kulturgeschichte des Wohnens vielmehr durch vergleichbare, „koevolutionär“ aufeinander bezogene „Ambivalenzen“ und „Friktionen“ grundiert: hier Phänomene der ‚Verflüssigung‘ (Konsumlogik, Kapitalisierung), dort die Stilisierung des Hauses zum affektiv aufgeladenen Rückzugsort. Vor diesem Hintergrund tun sich nicht nur für IKEA-Kund*innen ungeahnte Dimensionen auf. Wie man der Alltagspraxis des Sich-Einrichtens mit interdisziplinär-kulturwissenschaftlichem Scharfblick beikommen kann, zeigen ebenso eindrucksvoll wie unterhaltsam die Beiträge, die Wegmann und Hans-Georg von Arburg fürs vorliegende Heft zusammengestellt haben. Wir bedanken uns bei allen Beteiligten für die äußerst angenehme Zusammenarbeit und wünschen Ihnen, liebe Leser*innen, eine anregende Lektüre. Wer weiß, vielleicht springt für Sie dabei ja sogar die eine oder andere konkrete neue Einrichtungsidee heraus.
Zürich, im Oktober 2021 Georges Felten
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Fussnoten
1) Vgl. jig (2021): Ikea eröffnet Pop-up-Store am HB Zürich. In: Tages-Anzeiger, 15. 8. 2021, https://www.tagesanzeiger.ch/ikea-eroeffnet-pop-up-store-am-hb-zuerich-825181897334 (zuletzt gesehen: 14. 10. 2021).
2) https://www.ikea.com/ch/de/?ref=gwp-start (zuletzt gesehen: 14. 10. 2021).
3) Thomas Wegmann (2016): Über das Haus. Prolegomena zur Literaturgeschichte einer affektiven Immobilie. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 36, 40-66, hier 48 u. 53.