Editorial

Georges Felten
Lange Zeit hatte man sich damit begnügt, die Räume des Hauses mit abnehmbaren Wandbehängen auszukleiden und gegebenenfalls kostbare Dinge als Blickfang aufzustellen. Die übrigen Möbel – 
Betten, Tische, Bänke – waren schlicht und konnten zerlegt werden, machten jeden Wohnungswechsel des Besitzers mit und bewahrten den Charakter von Gebrauchsgegenständen. Jetzt änderte sich das. Das Ehebett bekam einen festen Platz im Schlafzimmer, die Truhe repräsentierte ästhetische Vorlieben oder, noch bezeichnender, wurde durch Schrank und Kommode ersetzt. […] Schon Samuel Pepys unterhielt Kontakt mit Kunsthändlern, von denen er, der höchst fachkundig war, Stiche, Möbel und ein Bett erwarb.[1]

In seinem berühmten Plädoyer Pour une histoire de la vie privée (1986) vermisst der sich selbst als ‚Sonntagshistoriker‘ bezeichnende Philippe Ariès[2] als eine Art private eye den Tatort, an dem das – sit venia verbo – private I erste aussagekräftige Spuren zu hinterlassen beginnt. Detektivisch begutachtet er ein Ameublement, das nicht länger rein praktischen oder repräsentativen Zwecken gehorcht, sondern den persönlichen Geschmack der Person ebenso bekundet wie kultiviert. Vornehmlich am veränderten alltäglichen Umgang der Menschen untereinander und mit sich selber lässt sich so für Ariès ablesen, wie ab dem 16. Jahrhundert allmählich – aber weder gradlinig noch uniform – eine grundlegend neue Spielart von ‚Sozialität‘ entsteht, durch die sich das Private in Absetzung von den kollektiven und gemeinschaftlichen Umgangsformen des Mittelalters als Sphäre eigenen Rechts konstituiert.

In den Notizen zu seinem Vortrag weist Ariès auf die Skepsis hin, mit der viele, stärker an der „großen politisch-kulturellen Geschichte“[3] orientierte Berufskolleg*innen seinem zunächst rein alltagshistorischen Zugriff begegneten. So mahnten diese an, „Raum und Zeit für private Aktivitäten“ hätten sich überhaupt erst dann ergeben können, als der Staat – Stichwort service public – „eine Reihe von gouvernementalen Funktionen, die bis dahin dezentralisiert geblieben waren, beispielsweise die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, die Jurisdiktion, den militärischen Schutz usw.“, dank verlässlich besoldeter Staatsdiener dauerhaft gewährleistet habe.[4] Die endgültige Fassung von Ariès’ Vortrag trägt diesen Einwänden durchaus Rechnung: Neben der veränderten Rolle des Staats veranschlagt er die Fortschritte bei der Alphabetisierung und die neuen, auf Innerlichkeit bedachten Religiositätsformen des 16. und 17. Jahrhunderts als epochale Umwälzungen – deren intrikate Effekte sich in der Alltagspraxis aber stets auf durchaus eigenwillige Weise ausgeprägt hätten.[5]

Auch wenn diese Methodendiskussion mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte zurückliegt, so hat sie zumindest insofern nichts an Aktualität verloren, als sie die Historizität – mithin auch die Wandelbarkeit – von Privatheit und deren komplexe Mehrdimensionalität hervorhebt: die verschiedenen, nicht immer reibungslos ineinander übergehenden, über umwegige Prozesse miteinander verbundenen Ebenen, auf denen sie und ihr Gegenpart ‚Öffentlichkeit‘ zum Tragen kommen. Damit arbeitet Ariès’ Ansatz einem im wortwörtlichen Sinn kritischen Umgang mit Privatheit zu, wie ihn beispielsweise auch Raymond Geuss an den Tag legt, wenn er, gegen den liberalen Mainstream angehend, eine genealogische (Re-)Konstruktion des Begriffs in Angriff nimmt.[6] 

Ein wesentlich undifferenzierteres Bild bietet sich demgegenüber in der heutigen Debatte um Big Data und soziale Netzwerke: In vager kulturkritischer Drapierung wird dort allzu häufig nichts weniger als der ‚Niedergang‘ der Privatsphäre verkündet, anstatt dass ihre, womöglich tatsächlich grundlegenden Wandlungen analysiert würden. ‚Das‘ Private wird mithin als homogene Entität begriffen und als schützenswertes Gut fraglos vorausgesetzt. Die wenigsten scheint dabei zu kümmern, dass ‚das‘ Private etwa auch eine Sphäre ist, in der sich Machtverhältnisse innerhalb der Familie und zwischen den Geschlechtern reproduzieren: dass es also selber durchaus problematische Züge aufweist.

Um sich angesichts solcher Vielschichtigkeit adäquat – sachhaltig – mit den gegenwärtigen Veränderungen und dem sich eventuell in ihnen abzeichnenden Strukturwandel auseinanderzusetzen, bedarf es der gleichermaßen historisch aufgeklärten wie materialgesättigten Arbeit am Begriff. Der Öffentlichkeit bescheinigte Jürgen Habermas einst, sie sei „mehr und anderes als ein Fetzen liberaler Ideologie, den die soziale Demokratie unbeschadet abstreifen könnte“.[7] Ob und inwiefern Ähnliches auch auf ihr Pendant, die Privatheit, zutrifft, darüber sich Gedanken zu machen möchte das vorliegende Heft einladen.

Zürich, im März 2018  Georges Felten

 

1 Philippe Ariès (1986): „Einleitung. Zu einer Geschichte des privaten Lebens“. In: ders./Roger Chartier (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Übers. v. Holger Fliessbach u. Gabriele Krüger-Wirrer. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1991, 7-19, hier: 12. Frz. Orig.: „Pour une histoire de la vie privée“. In: Roger Chartier (Hg.): Histoire de la vie privée. Bd. 3: De la Renaissance aux lumières. Paris: Seuil, 7-19.

2 Vgl. Philippe Ariès (1980): Ein Sonntagshistoriker. Philippe Ariès über sich. Übers. v. Eva Groepler. Meisenheim: Hain, 1990. Frz. Orig.: Un historien du dimanche. Paris: Seuil.

3 Ariès (1986), 8.

4 Ariès (1986), 17.

5 Vgl. Ariès (1986), 9 f.

6 Vgl. Raymond Geuss (2001): Privatheit. Eine Genealogie. Übers. v. Karin Wördemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002. Engl. Orig.: Public Goods, Private Goods. Princeton: Princeton UP.

7 Jürgen Habermas (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, 57 f.