Abstracts



Hans Richard Brittnacher: „… ein gewisser Zustand“

Kleists somnambule Charaktere

Kleists Heldinnen und Helden sind der Worte müde, der Taten überdrüssig. Rhetorik und Strategie haben als diskursive Orientierungen nur Unglück in die Welt gebracht – deren gebrechliche Einrichtung ist Worten, die lügen, und Handlungen, die Zwecke verfolgen, nicht gewachsen. Dass sich Kleists Figuren immer wieder in tranceartigen Zuständen bewegen, schlafwandelnd oder unter ‚einem träumerischen Besinnen’ das Richtige tun, obwohl es widersinnig scheint, dass sie sogar um ihren Somnambulismus wissen, aber nichts von ihm – „Daß mich die Nacht verschläng! Mir unbewusst / Im Mondschein bin ich wieder umgewandelt!“ (Prinz Friedrich von Homburg, V. 115f.) –, dass etwa Friedrich im Schlaf seine Liebe zu Natalie bekennt, deren Namen er im Wachzustand vergisst: all dies sind Hinweise auf einen ‚gewissen Zustand unserer’, der sich zwischen Halbschlaf und Traum als eine andere, diffuse, aber verlässlichere Wissensordnung anbietet, wenn sich die Welt von der Rationalität im Stich gelassen fühlt. Gerade wenn es allen anderen so vorkommt, als ob Penthesilea, Käthchen oder der Prinz von Homburg nicht sich selbst gehorchen, sondern, wie von einem Magneten gezogen, einem fremden Willen, kommen diese doch dem, was sie lieben und wünschen und hassen, mag es ihnen selbst auch unbewusst sein, nahe – näher, als ihnen je im Wachen gelingt. Im Zustand träumerischer Absenz ist es möglich, in versöhnende Balance zu bringen, was im Wachzustand als Antagonismus unerträglich ist. Die Anmut/Grazie von Kleists Helden – auch die der Marionette – ist an einen Zustand der Außerkraftsetzung des Bewusstseins gebunden.

Es sind vor allem zwei körpersprachliche Metaphern, die poetologische Schlüsselfunktionen für das Werk Kleists beanspruchen dürfen; in ihnen offenbart sich eine Anthropologie des Schläfrigen und Träumerischen, die in einer Welt aus Trug und Täuschung mit Gesten körperlicher Entgrenzung ein natürliches Dispositiv der Wahrhaftigkeit zur Geltung bringt: das träumerische Versenken und das impulsive Aufschrecken. In der von Missgunst, Lüge und Verstellung verdunkelten Welt sehen nur die Schlafenden klar: das Suspendieren des Wachzustandes ist Voraussetzung persönlicher Integrität und effektiven Handelns. Auch das Aufschrecken suspendiert wie das Sich-Versenken eine Ordnung der Rationalität, die nichts als trügerischer Schein ist. Das Aufschrecken bei Kleists bedeutet das Erwachen aus der falschen Ordnung in die größere Wahrheit des Traums. Es riskiert freilich auch einen destruktiven Exzess, weil es, da aus der Ordnung ausgebrochen, auch von deren Restriktionen nicht länger eingehegt ist. Das träumerische Sich-Überlassen an eine innere Schwerkraft will den Frieden in einer Welt, die ihn verweigert, das Aufschrecken stiftet den Krieg, um ihn zu erzwingen.

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Sabine Maasen: Vom gesellschaftlichen Sinn der Müdigkeit(en)


Der Blick auf populäre Gesundheitsratgeber, moderne Psychiatriegeschichte oder gegenwartskritische Zeitdiagnose verrät: Müdigkeit avanciert in diesen Beiträgen soeben zu einem Topos sui generis, der nicht nur als höchst individuelles Phänomen Beachtung verdiene, sondern, wichtiger noch, als Indiz für eine Gesellschaft zu werten sei, die müde mache. Die der Müdigkeit inhärente kritische Funktion droht dadurch jedoch verloren zu gehen. Ein Streifzug durch den pflegekosmetischen, schönheits-chirurgischen und kosmetisch-psychopharmakologischen Diskurs illustriert die These: Im Regime der Leistungs- oder gar Optimierungsgesellschaft haben die vielen Müdigkeiten (z. B. als Burnout, als Depression oder als Volkskrankheit) keinen Platz – zumindest keinen im Innern ihres um ‚leistungsfähig‘/‚nichtleistungsfähig‘ codierten Regimes. Wohl aber findet sie Platz im ‚konstitutiven Außen‘ dieses Regimes. Diese Müdigkeit als Kritik an einer Gesellschaft, die müde macht, wird jedoch beständig verdrängt, um die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer auf Leistung getrimmten Einheit zu bestätigen: Sie hat aus Individuen zu bestehen, die entweder leistungsbereit oder aber willens sind, ihre Leistungsbereitschaft wiederherzustellen. Müdigkeit ist keine Option, sondern etwas, das zu beseitigen ist. Im gleichen Zuge referieren Depression, Burnout und Stress unablässig auf Müdigkeit – als Ursache, als Symptom oder als Begleiterscheinung der vielen Müdigkeiten. Allerdings gibt es Stimmen, welche die kritische Funktion der Müdigkeit (im Singular des konstitutiven Außens) einfordern: in der Trendforschung (Bolz), in der Zeitdiagnose (Han) oder in der radikalen Kapitalismuskritik (Creydt). Hier macht sich indessen weniger eine konzise Theorie oder eine spezifische Reformidee geltend als vielmehr eine Haltung, das Mögliche zu denken – gespeist nicht zuletzt aus dem, was man als die weise Müdigkeit der Skeptiker erkennen könnte.

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Sonja Osterwalder: Tired & washed out

Zur Müdigkeit im Detektivroman

Gehören Neugierde, Wachsamkeit und Beobachtungsgabe zu den steten Attributen literarischer Detektive, hält die Müdigkeit in der Gestalt des Überdrusses und der Langeweile mit Sherlock Holmes erstmals Einzug in die Kriminalliteratur: Der Meisterdetektiv flüchtet vor dem öden Alltagstrott in den Drogenrausch. In der amerikanischen hard-boiled school arbeiten die Ermittler nach dem Vorbild der Pinkerton-Detektivagentur als kleine Angestellte oder als ständig bedrohte Alleinunternehmer und sehen sich unentwegt allen Zumutungen ausgesetzt, die das (Arbeits-)Leben bereithält. Die Folge ist eine weit aufgefächerte Müdigkeit, in der Melancholie, Ekel und Katerstimmung ebenso Platz finden wie Gleichgültigkeit.

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Patrick Fehlmann: Warum auch Maschinen und Bauwerke müde werden


Fast zwei Jahrhunderte sind vergangen, seit ein Bergwerksangestellter die ersten Fälle von Materialermüdung beschrieben hat: Die Förderketten hatten wiederholt während des normalen Gebrauchs versagt – obwohl sie zuvor statische Prüfungen mit höheren Beanspruchungen schadlos überstanden hatten. Das Phänomen des plötzlichen Materialversagens bei wiederholter Beanspruchung tritt bis heute immer wieder bei Bauteilen von Eisenbahnen, Flugzeugen, Offshore-Strukturen und sogar Brücken auf. Damals wie heute versuchen Ingenieure mit Hilfe von aufwendigen Materialtests und den Grundlagen der Mechanik die Gesetzmäßigkeiten dieser komplexen Schädigungsmechanismen zu beschreiben und so eine Grundlage für die Dimensionierung von ermüdungsbeanspruchten Bauteilen zu schaffen.

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