Körper – Grenzen – Materialität

Die Politik der (post-)jugoslawischen Kunst von Marina Gržinić /Aina Šmid und Milica Tomić / Grupa Spomenik

Seraina Renz

New York 2010 an einem Tag im April um halb elf Uhr morgens: Das Museum of Modern Art öffnet seine Türen, ein Strom von Besucherinnen und Besuchern beginnt sich in die Eingangshalle zu ergießen. Derweil sitzt die Künstlerin bereits auf ihrem Posten in einem der Säle. Der Platz ihr gegenüber, der Stuhl an der anderen Seite des Tischs, ist noch leer. Doch es wird nicht mehr lange dauern, bis er von einer mutigen Besucherin besetzt werden wird. Die Künstlerin wird dort sitzen, stumm, geradeaus blickend, wie sie seit der Ausstellungseröffnung jeden Tag ohne Unterbrechung dort saß, während der Museumsöffnungszeiten, bis die Ausstellung ihre Tore wieder schließen wird. The artist is present. Der Künstlerkörper ist materiell präsent. Die ganze Ausstellung ist eine Materialisierungsmaschinerie, die nicht nur auf die andauernde materiell-körperliche Präsenz der Künstlerin Marina Abramović setzt – denn um ihr Lebenswerk geht es in der Ausstellung –, sondern auch längst vergangene Performances von Abramović mit Schauspielern täglich live in einem ständigen Loop neu aufführt.[1]

Marina Abramović ist die bekannteste Vertreterin der jugoslawischen Kunstszene – nicht zuletzt, weil sie das Land bereits 1979 nach dem Westen hin verließ –, und sie ist eine der berühmtesten Performance-Künstlerinnen überhaupt. Wenn sie am Beginn dieses Textes steht, dann nicht, weil ihr ein Großteil der darin formulierten Gedanken gewidmet wäre, sondern weil ihr Umgang mit Performance den folgenden Generationen von Künstlerinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die den Körper und die Grenzen des Körpers in ihren Arbeiten verwenden oder darüber reflektieren, als Kontrastfolie dient. Sie fügen den Körper in das symbolische System ein, um schließlich seine besonderen Qualitäten, seine Präsenz, auf der Grenze zwischen Signifikation und Materialität zu entdecken und für politische und künstlerische Zwecke fruchtbar zu machen.

In den frühen siebziger Jahren, als Marina Abramović, Braco Dimitrijević, Nuša und Srećo Dragan, Era Milivojević, Raša Todosijević und andere in Belgrad die ersten Performances zur Aufführung brachten, war diese Kunstform relativ neu. Sie kann als eine Weiterführung und gleichzeitig als Zuspitzung eines von den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts angestoßenen Prozesses verstanden werden, in dessen Verlauf Gebrauchsobjekte das Artefakt zu substituieren begannen und die einstmals klar gezogene Grenzlinie zwischen Kunst und Leben verschwamm. Ende der 50er Jahre setzte ein Prozess ein, der später die „Dematerialisierung des Kunstobjekts“[2] genannt wurde. Die Dematerialisierung war gleichsam Kritik am Objekt selbst, wie am Kunstsystem mit seinen Institutionen und am Kunsthandel. Künstlerinnen und Künstler begannen – zunächst noch innerhalb der gewohnten Kunstschauplätze, wenig später schon im städtischen Raum oder in freier Natur – Aktionen durchzuführen, die dezidiert ohne materielle Hinterlassenschaft blieben.
 

Materialität und Kunst

Den Begriff ,Dematerialisierung‘ prägte Lucy R. Lippard in ihrer 1973 erschienen Konzept-Kunst-Anthologie Six Years. The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972[3], die im Wesentlichen ein künstlerisches Umfeld und Denken beschreibt, an dem die Autorin selbst teilgenommen und das sie mitgeprägt hatte. Im Vorwort erwähnt sie die Aufbruchsstimmung und den Enthusiasmus, die Mitte der sechziger Jahre mit der Abwendung vom Kunstobjekt und der Hinwendung zu Kunst, die sich ihres Warencharakters entledigt hatte, verbunden waren.[4] Wenn Lippard von dematerialisierter Kunst spricht, tut sie dies durchaus im Bewusstsein, dass auch ein Blatt Papier mit Text Material ist. Auch eine ephemere Ak-tion ist mit Material verbunden, nämlich mit den Körpern der beteiligten Personen. Für ihre These spielt dieses Konzept von Material aber keine Rolle. Entscheidend ist, dass sich solche Kunstformen weitest möglich vom Kunst- und Objektbegriff früherer Zeiten entfernt hatten.[5]

Allerdings verleiht Lippard im Nachwort ihrer Verwunderung und Enttäuschung darüber Ausdruck, mit welchem Tempo die dematerialisierte Kunst letztlich doch vom Kunstmarkt absorbiert wurde.[6] Entsprechend verlor im Verlaufe der Zeit der positiv konnotierte Rekurs auf immaterielle und damit potentiell widerständige Kunstformen mehr und mehr an Bedeutung. Im ehemaligen Jugoslawien sowie in Osteuropa generell ist das Konzept der Lippardschen dematerialisierten Kunst weniger belastbar. Lucy Lippard beschreibt euphorisch die Zeit, als sich die Frauenbewegung, die Anti-Kriegsbewegung und eine Kunst, die aus ihrem alten Rahmen ausbrechen wollte, gleichzeitig und als lose zusammenhängende Phänomene formierten und gegenseitig befruchteten. Im Osten Europas gab es diese Konstellation nicht. Und das große Feindbild der jungen linken amerikanischen Kritikerin und ihrer Künstlerfreunde – der alles absorbierende freie Markt – war in Osteuropa schon längst aus dem Weg geräumt worden. Dennoch begannen sich seit den sechziger Jahren einzelne Künstlergruppen von einem Werk- und Kunstverständnis loszulösen, das gemäß Bojana Pejić im Wesentlichen die Skulptur und das Tafelbild umfasste und auf einem modernistischen Begriff von Autorschaft beruhte.[7]

Ein frühes Beispiel in Jugoslawien ist die Künstlergruppe OHO aus Ljubljana, die ab 1966 in Erscheinung trat. Sie arbeitete mit vorgefundenen Objekten, führte Aktionen im städtischen Raum durch und realisierte Land Art-Projekte. Diese neue Generation sah sich einer erstarrten, akademischen Kunstdoktrin gegenüber, die sie ablehnte. Insofern führte die Abwendung vom Kunstobjekt und die Kritik am modernistischen Erbe zu konzeptuellen, performativen und ephemeren Arbeiten; eine Entwicklung, die jener im kapitalistischen Westen nicht unähnlich war. Ohne auf ausführlichen Vergleichen zwischen Neo-Avantgarde im Westen und ‚neuer Kunstpraxis‘ – wie die KünstlerInnen es nannten – in Jugoslawien zu insistieren, bleibt festzuhalten, dass body art, das heißt Kunst, die Körper von Künstler-Innen oder anderen beteiligten Personen in ihr Zentrum rückt, seit den sechziger Jahren ein fester Bestandteil künstlerischer Arbeit sowohl im Westen wie in Jugoslawien geblieben ist. Was sich gewandelt hat, ist die Reflexion darüber, welche Rolle der Körper spielt, welche Bedeutung ihm zugrunde liegt und welche er herstellt. Dieser Wandel ist sowohl in der Praxis als auch im kunsttheoretischen Diskurs zu beobachten. Darüber hinaus gibt es die von künstlerischen Fragen primär unberührte feministische Diskussion über den Körper, die ebenso von Veränderungen und Verlagerungen des Interesses gekennzeichnet ist. 

Die oben eingeführte Künstlerin Marina Abramović ist dem frühen Diskurs verpflichtet geblieben, der den Topos der Immaterialität beschwört. Sie prophezeit in Gesprächen und Interviews, dass die Kunst des 21. Jahrhunderts eine Kunst ohne Objekte sein werde, die sich zwischen Künstler und Betrachter stellen.[8] Doch was bedeutet diese Hoffnung auf eine Kunst ohne Objekte, eine Kunst, die ganz auf der Körper-Präsenz der Künstlerin beruht? Letztendlich steckt die Idee dahinter, dass das Objekthafte das Kulturelle sei. Hinter dieser Kultur, also hinter dem Symbolischen und dem Objekt in der Kunst, gebe es einen nackten Körper, eine reine Materialität und Wahrheit. Hier treffen in paradoxer Weise zwei Konzepte von Materialität aufeinander: Abramović beschwört die Immaterialität und Vergänglichkeit der Kunstform ‚Performance‘, basierend auf dem Lippardschen Konzept von dematerialisierter Kunst, das den Verdinglichungsstatus von Kunst aufheben will.[9] Durch diese Arbeit an der Abschaffung der Verdinglichung wird Materialität auf einer anderen Ebene wichtig. Während Abramović also einerseits auf Kunst ohne Objekte setzt, huldigt sie andererseits der reinen Materialität, die in Form des Körpers und der körperlichen Präsenz als unhintergehbares existentielles Moment den Diskurs über ‚Performance‘ heimsucht. Als paradoxes Ergebnis bleibt, dass die Dematerialisierung zum essentiellen Material des Körpers führt. Dass Abramović den Körper als eine vorsymbolische und unhintergehbare Ordnung feiert, ist der beste Beweis dafür, dass sie in der Auseinandersetzung mit Performance nie mit einer bestimmten kritischen (feministischen) Theorie von Körper und Materialität in Berührung gekommen ist.[10]

Materialität und Feminismus

Als Schlussstein einer langen feministischen Debatte um das Material des Körpers legt Judith Butler 1993 ihr Buch Körper von Gewicht[11] vor. In Bezug sowohl auf die feministische Theorie im Allgemeinen als auch auf ihr eigenes, vorangegangenes Buch Das Unbehagen der Geschlechter[12] wirft Butler in der Einleitung nochmals die Frage auf, wie das Verhältnis von ‚Sex‘ und ‚Gender‘ gedacht wird und welchen Sinn die Unterscheidung hat. Die Begriffe ‚soziales Geschlecht‘ und ‚biologisches Geschlecht‘ stehen bei ihr immer in Anführungszeichen. Sexuelle Differenz wird häufig als eine Angelegenheit materieller Unterschiede betrachtet. Dagegen wendet Butler ein, dass die materiellen Unterschiede in bestimmter Weise von diskursiven Praktiken geformt und markiert werden. Sexuelle Differenzen sind von diskursiven Abgrenzungen nicht zu trennen, was jedoch nicht bedeutet, der Diskurs verursache sexuelle Differenz. Vielmehr muss man sich gemäß Butler vorstellen, dass regulierende Normen das ,biologische Geschlecht‘ materialisieren. Dieses wird nicht mehr als ein körperlich Gegebenes verstanden, dem das soziale Geschlecht nachträglich auferlegt wird, „sondern als eine kulturelle Norm, die die Materialisierung von Körpern regiert“.[13]

Butler führt in Körper von Gewicht vor, auf welche Probleme sich die Gender-Theorie einlässt, wenn sie das Material als Äußeres des Symbolischen und Diskursiven versteht: Im Feminismus werde auf Materialität als etwas rekurriert, das irreduzibel sei, auf das Konstruktion einwirke, das selbst aber nicht konstruiert sei. Dieses Verständnis liest Butler als eine Kritik an der – vermeintlich – poststrukturalistischen Auffassung, dass alles nur Text sei.[14] Butler selbst will Materialität weder negieren noch voraussetzen. Ihr Argument lautet folgendermaßen: „Der als dem Zeichen vorgängig gesetzte Körper wird immer als vorgängig gesetzt oder signifiziert. Diese Signifikation produziert als einen Effekt ihrer eigenen Verfahrensweise den gleichen Körper, den sie nichtsdestoweniger zugleich als denjenigen vorzufinden beansprucht, der ihrer eigenen Ak-tion vorhergeht.“[15] Diese Operation selbst sei bereits eine Konstruktion, wobei die Konstruiertheit nachträglich abgestritten werde. Welche Probleme sich der Feminismus einhandelt, wenn er sich auf Materialität als irreduzible und vorsymbolische Ordnung beruft, zeigt sie anhand von Luce Irigarays Lektüre des Timaios von Platon. Platon geht vom Konzept einer physis aus, die alle Körper aufnimmt, sich aber nie einem der eintretenden ähnlich gestaltet. „Was in diese hypodoche [Aufnahme, Behälter, S. R.] eingeht, sind Formen oder besser gesagt Gestalten (morphe), und doch hat dieses aufnehmende Prinzip, diese physis, keine richtige Gestalt und ist kein Körper.“[16] Dieses Aufnehmende, dem es untersagt ist eine Form anzunehmen, ist eindeutig als weibliches eingeführt. Insofern liest Irigaray Platon so, dass das Weibliche nicht auf der Ebene der Materie angesiedelt ist, sondern noch jenseits von Form und Materie liegt, denn jede Unterscheidung innerhalb der phallogozentristischen Ordnung findet in einem Einschreibungen aufnehmenden Raum statt, den die Unterscheidung selbst nicht unterbringen kann. Das Weibliche ist eine Materialität jenseits von Form/Materie:[17] „Für Irigaray wird ‚das Weibliche‘, von dem nicht gesagt werden kann, irgend etwas zu sein oder an der Ontologie überhaupt teilzuhaben – und hier lässt uns die Grammatik im Stich –, für Irigaray wird ‚das Weibliche‘ als die unmögliche Notwendigkeit, die jegliche Ontologie ermöglicht, durchgestrichen.“[18] Judith Butler will die Frage, was Materialität in einem philosophischen Sinne aus einer feministischen Warte bedeuten könnte, nicht letztgültig beantworten. Übrig bleibt ein Misstrauen gegenüber dem Körper/Material als Bezugspunkt für die Geschlechterpolitik. Positiv besetzt bleibt dagegen das komplexe und paradoxe Verhältnis zu Körper, Geschlecht und Materialität, paradigmatisch vertreten durch einen queeren Zugang zur Subjektivierung.[19]

Die 1980er Jahre: der dematerialisierte Körper in der
Videokunst

Der differenzierten Problematisierung eines Bezugs auf Materialität in der Theorie steht eine künstlerische Praxis gegenüber, die in einer ähnlichen – gleichsam nicht linear verlaufenden – Bewegung die Potentiale des Körpers auslotet. Eine andere Bewertung und ein anderer Einsatz des Körpers in der Kunst als derjenige, der mit Marina Abramović eingeführt wurde, finden wir ein Jahrzehnt nach den ersten Manifestationen von body art in Belgrad exemplarisch in den Werken von Marina Gržinić und Aina Šmid vor. 1982 produzierten die beiden zum ersten Mal ein Werk der bildenden Kunst, nachdem sie zuvor Punkmusikerinnen gewesen waren. Es ist ein 15-minütiges Ein-Kanal-Video, das den Titel Icons of Glamour – Echoes of Death trägt. Hervorgegangen ist die künstlerische Kooperation, die auch heute noch besteht, aus der vor allem durch die Punkbewegung geprägten Untergrund-Szene in Ljubljana der frühen achtziger Jahre.

Icons of Glamour – Echoes of Death ist formal eine lose in drei Teile gegliederte Arbeit, wobei der Anfangs- und Schlussteil durch die Einspielung des Songs The Model der Band Kraftwerk sowie durch den zeitweiligen Fokus der Videokamera auf den Bildschirm eines kleinen tragbaren Fernsehgeräts eingeklammert sind. Im mittleren Teil ist die reduzierte Geschichte des Werks untergebracht, wobei die Pointe der Erzählung bis zum stummen Schluss des Videos aufgespart ist. Die erste Aufnahme zeigt ein abgefilmtes Fernsehbild, auf dem der Vorspann des Videos läuft (Abb. 1). Wenig später ist auf dem Fernsehbild das Konterfei der damaligen Premierministerin der sozialistischen föderativen Republik Jugoslawien, Milka Planinc, zu sehen, die als iron lady – wie die zeitgleich in England regierende Margaret Thatcher – in die Geschichte des Landes eingegangen ist. Das Intro führt nebst dem kleinen Fernsehgerät auch eine der beiden Protagonistinnen ein (Abb. 2). Ihr Gesicht ist nur schwer erkennbar, weil es von der bläulichen Aufnahme der Premierministerin überblendet wird – von derselben Projektion also, die auch auf den Fernsehbildschirm gerichtet ist. Es zeigt sich, dass der Fernseher nicht selbst ein Bild ausstrahlt, sondern lediglich eine Projektionsfläche ist. Nach ein paar wenigen Minuten bricht die Musik ab, stattdessen ist das Summen eines Diaprojektors zu hören und ein Dialog zwischen zwei Frauen setzt ein. Der blaue Grund-Farbton wechselt in ein blasses Beige und der Fokus der Videokamera erweitert sich, gibt den Blick frei auf einen größeren Ausschnitt der Szenerie. Was sich hier in den wackligen und teils unscharfen Bildabfolgen zeigt, ist, wie eine junge Frau in einem offensichtlich unprofessionellen, selbst gebastelten Filmset vor einer Wand für die Videokamera posiert. Erst nach längerem Hinsehen ist zu erkennen, dass auf dieselbe hinter ihr liegende Wand Dias projiziert werden, auf denen die gleiche Frau, dieselben Posen einnehmend, aufgenommen wurde (Abb. 3). Wenig später fängt die Videokamera die zweite Person ein, die mit der ersten in ein Gespräch über Kindheits- und Jugenderinnerungen sowie über erste sexuelle Erfahrungen tritt. Man wird zum Voyeur einer intimen Nabelschau und erfährt darüber hinaus, dass die beiden Frauen ein lesbisches Paar sind (Abb. 4). Die Protagonis-tinnen bedienen sich dabei einer auffallend rüden Ausdrucksweise, die man sonst mit einem männlichen Sprechen über Sex verbinden würde. Die Erzählung gipfelt in einer visuellen Pointe: Eine der beiden Darstellerinnen hat einen Penis und offenbart sich damit als zweigeschlechtlich (Abb. 5). 

Das Video wurde 1982 in Ljubljana am ersten Videofestival, das in Osteuropa stattfand, gezeigt. Obwohl das Publikum dieses Festivals sich nicht aus der Kulturelite des Landes zusammensetzte, sondern aus einer mehrheitlich jungen, im Untergrund operierenden Kunst- und Musikszene, wurde es mit verhaltener bis offener Empörung aufgenommen.[20] Der Skandal dieser Arbeit in ihrem Entstehungskontext bestand nicht nur darin, dass zwei lesbische Frauen ihre Sexualität in einem als Kunstwerk deklarierten Video zur Schau stellten. Sondern der Schock des Publikums war umso größer ob der Tatsache, dass die beiden Frauen gar nicht lesbisch sind. Gemäß Marina Gržinić gab es in der sozialistisch jugoslawischen Gesellschaft zwei Tabus: Geschichte und Sexualität.[21] Das Video verstieß gegen letzteres. Sexualität war ein Bereich, der aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen war. Insofern gab es darüber keine öffentliche Diskussion. Als normal vorausgesetzt wurde Heterosexualität, die sich innerhalb eines patriarchalen Wertesystems und im privaten Rahmen abzuspielen hatte. Das Werk verletzte das Tabu der Sexualität in vielerlei Hinsicht, angefangen damit, sie überhaupt darzustellen und pornographische Elemente in die Kunst einzuführen. Dazu kamen die Tatsache, dass weibliche Sexualität inszeniert wird, und eine von der heterosexuellen Norm abweichende Veranlagung. Der schlimmste in dieser Reihe von Verstößen jedoch war, dass es sich nicht um eine authentisch-existentiell aufgeladene, subjektive Entblößung und Entäußerung handelte, sondern um einen bewusst gesetzten Akt zweier Künstlerinnen, die mit voller Absicht geltende Normen mit Füßen traten. Dass die Arbeit als politische Provokation konzipiert war, geht schon daraus hervor, dass das Konterfei einer konservativen Politikerin in die Bildabfolge montiert ist. Die Ablehnung der Videoarbeit war jedoch auch mit einem genuin ästhetischen Argument verbunden. Video war in Jugoslawien zu Beginn der achtziger Jahre ein junges Medium. Als Format der hohen Kunst war es noch nicht etabliert. Im Vergleich zum Medium Film kommt das Video buchstäblich ‚flach‘ heraus. 

Diese Redensart gibt Anlass, ein paar Überlegungen zur Ästhetik der Werke von Gržinić/Šmid anzustellen, welche von jener des Mediums und seiner Gebrauchsweise nicht zu trennen ist. Für die Verwendung von Video sprechen zunächst pragmatische Gründe: Die Video-Technik zeichnet sich dadurch aus, dass sie sehr einfach zu bedienen ist. Darüber hinaus ist sie sowohl in punkto Material als auch auf der Ebene des Personals kostengünstig. Die eigentliche Produktion wie auch die Nachbearbeitung kann ohne großes technisches Know-how und ohne komplizierte und teure Apparaturen bewältigt werden. Somit ist das Video prädestiniert für den Amateur – und für Künstlerinnen ohne Geld und Studio. Nur kann das Video nicht dasselbe leisten wie ein Film – und umgekehrt. Video ist nicht einfach die billigere Variante von Film. Auch wenn wir mit beiden Medien ein bewegtes Bild erzeugen können, wird das Ergebnis visuell sehr unterschiedlich ausfallen. Einer der größten Unterschiede liegt in der Fläche, bzw. in der Tiefe der erzeugten Bilder. Des Weiteren geht es aber auch um die Klarheit der Farben und die Bildschärfe.

Gržinić und Šmid setzen auf künstliche Farben in entweder über- und unterbeleuchteten Bildern, und das Videobild scheint geradezu platt wie eine dünne Scheibe an der Bildschirmoberfläche zu kleben. Die Körper, um die es so prominent in dem Video geht, die sich in allen möglichen Posen dem Voyeur vorführen, sind bar jeder materiell-haptischen Qualität. Besonders schlagend ist dieser mediale Effekt dort, wo eine ,reale‘ Frau vor einer Wand und neben einer Diaprojektion posiert, ohne dass die Projektion neben der Person, die in der Illusion des bewegten Bildes als eine lebende, reale vorgestellt ist, flacher ausfallen würde. Dort wo uns ein Film unweigerlich in einen Illusions-Raum ziehen würde – und zwar nicht nur im konkret räumlichen, sondern auch im psychologischen Sinne – bleiben wir hier an der Oberfläche stecken. Das Video dematerialisiert die Körper, die das Leitmotiv der Arbeit bilden und beraubt sie ihrer körperlich-realen, sowie psychologischen Tiefe. 

In Bezug auf die Rolle des Körpers hat sich im Werk Icons of Gla--
mour – Echoes of Death
ein Problembewusstsein konturiert, das sich im Prozess der Dematerialisierung manifestiert. Dematerialisierung kann hier nicht in der Lippardschen Weise begriffen werden, vielmehr geht es um eine Ent-Naturalisierung vom Körper/Material. Der Künstlerkörper fällt nicht mit dem Kunstwerk in eins – wie bei Abramovi
ć –, sondern wird als Erkenntnisgegenstand vorgeführt. 

Dieser Gegenstand, der den vielfältigsten Konzepten – z. B. von Geschlecht – eine Projektionsfläche darbietet, ist hier aber auch mit einer agency ausgestattet, d. h. er wirft selbst ein Bild zurück: eines, das das Publikum nicht erwartete. Für Gržinić und Šmid ist der Körper ein diskursiver Mittelpunkt, wobei in den achtziger Jahren das Interesse an der Geschlechterfrage im Vordergrund steht. Queerness stellt für die Künstlerinnen das herausforderndste Konzept vor. Die Künstlerinnen stellen die weibliche Sexualität in den Blickpunkt und demontieren im gleichen Moment die Norm der Heterosexualität, wobei dies alles aus einem anti-essentialistischen Impuls heraus unternommen wird.

From 1982 on, we openly performed a string of non-heterosexual roles for the camera and assumend unmistakebly lesbian and (as we would say today) queer positions – every form of non-heterosexual positioning we understood, exclusivley and entirely, as a political stance. This queerness […] demands, of us and of the viewer, a rethinking of the conditions of life, work, and possibilities of resistance. […] In the early 1980s, the enactment of lesbian positions in front of a video camera, ‚queer linguistics‘, and the use of pornography (as an attack on the socialist high-art formalist modernism that enjoyed the approval of the authorities) constituted a specifically political positioning.[22]

Seit Michel Foucault wissen wir, dass Gesellschaften Zugriff auf den Körper ausüben und dass er einer der Hauptschauplätze ist, auf dem moralische Fragen ausgehandelt werden. Der Körper ist damit ins Zentrum historischer und philosophischer Überlegungen gerückt. Eine einfache Identifizierung mit dem Körper ist jedoch nur um den Preis zu haben, dass man sich aus diesem Diskurs ausschließt statt einschließt, wie Butler mit Irigaray gezeigt hat. Dies gilt insbesondere auch für die Kunst, die im Unterschied zur Theorie nicht nur sprachliche Zeichen in ihrem Instrumentarium mitführt, sondern den Körper selbst zum Einsatz bringen kann. Dabei birgt genau das Zusammenfallen von Körper und Werk die Gefahr der totalen Identifikation. Damit der Körper gleichzeitig als Erkenntnisobjekt und politisches Instrument eingesetzt werden kann, ist eine Abstraktionsleistung vonnöten. Im Falle von Gržinić/Šmid wird sie dadurch erbracht, dass der Körper als etwas in Szene gesetzt wird, das mit Bedeutung versehen ist und damit wie ein Zeichen funktioniert. In Icons of Glamour – Echoes of Death wird der Körper entnaturalisiert, insofern er in ein symbolisches System von Verweisen und Projektionen eingeschlossen ist. Auf visueller Ebene ist die Entnaturalisierung maßgeblich erstens der Mediatisierung des Körpers und zweitens der Flachheit des Bildes geschuldet. Die Tiefe eines realen Auftritts des Körpers in der Performance sowie auch die Illusion von Tiefe – die z. B. mit dem Filmischen verbunden wäre – sind unterdrückt.

Die 1990er Jahre: Ethnizität und Grenzmarkierungen am und durch den Körper

In Jugoslawien gelangte die Diskussion um den Körper sowohl in der historischen Forschung als auch in der Theorie und der Kunst zu einer gesteigerten Virulenz, nachdem in den Bürgerkriegen von 1991 bis 1995 der Zugriff auf den Körper eine völlig neue und extreme Dimension angenommen hatte. Es waren Kriege, die sich auf rhetorischer Ebene auf einen Diskurs über ,Ethnizität‘ stützten – mit fatalen realen Folgen für die Bevölkerung. Nicht zuletzt deshalb verwarf die theoretisch informierte historische Forschung über den Jugoslawien-Krieg den Begriff ‚ethnischer Krieg‘, der die sonst übliche Bezeichnung ‚Bürgerkrieg‘ ersetzt hatte.[23] So vertritt z. B. Dubravka Žarkov die Ansicht, dass ‚Ethnizität‘ das Produkt des Krieges und nicht – wie die damaligen Machthaber und Vertreter der ‚ethnischen‘ Ideologie alle Welt glauben machten – der Auslöser des Bürgerkrieges war.[24] Gleichzeitig arbeitet sie den Zusammenhang zwischen ‚Ethnizität‘ und ‚Geschlecht‘ heraus, indem sie – hauptsächlich anhand der kroatischen und serbischen Medienberichterstattung – beweisen kann, dass der Diskurs über Ethnie ein gegenderter ist. Andere Studien, die sich mit ‚Ethnizität‘ befassen, streichen zwar die Konstruiertheit und Subjektivität von ‚Ethnizität‘ heraus, verbinden das Konzept jedoch hauptsächlich mit ‚Geschichte, Kultur und Abstammung‘.[25] Das heißt, als Hauptmerkmal von ‚Ethnizität‘ wird die Selbstzuschreibung bestimmter Eigenschaften angenommen, die eine Gruppe von Menschen vornimmt, um sich von einer anderen Gruppe abzugrenzen.[26] Diese Konstruktivisten unter den Soziologen und Ethno-logen bestreiten, dass es essentielle, primordiale Übereinstimmungen gibt, die eine ‚Ethnie‘ konstituieren.[27] Die Abgrenzungs- und Unterscheidungsmerkmale, auf die sich eine sich als ‚Ethnie‘ definierende Gruppe berufen, sind eine gemeinsame Geschichte, ähnliche Kultur und erbliche Zugehörigkeit.[28]

Auch in der Kunst ist die Problematik von ‚Ethnizität‘ ein Thema. Besonders explizit hat sich die serbische Künstlerin Milica Tomić – zusammen mit Ana Bezić, Damir Arsenijević, Branimir Stojanović als Grupa Spomenik (Denkmalgruppe) – mit ‚Ethnien‘ als Folge des Krieges beschäftigt. Für die Gruppe ist diese Frage jedoch nicht nur eine soziologische oder ethische, sondern betrifft genuin ästhetische Bereiche. Die Grupa Spomenik stellte 2010 in einer Wiener Galerie die Arbeit Pythagorean Lecture vor, eine komplexe Installation, die den Völkermord in Srebrenica thematisiert.[29] Sie bestand aus einer Sound-Installation, einer Schrifttafel und zwei Fotografien (Abb. 6).

Im selben Raum befand sich eine Arbeit mit dem Titel Matheme. Hierbei handelte es sich um einen Stapel von 1500 gleichnamigen Broschüren, die zum Mitnehmen fürs Publikum auslagen. Die auf mehrere Räume angelegte Ausstellung ist ein kompliziert ineinander verschachteltes Ganzes, das ich hier nicht im Detail analysieren werde. Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Körper in den oben genannten zwei Werken. Es ist jedoch wichtig zu erläutern, was das verbindende Element aller Bestandteile der Ausstellung war. Die Grundannahme der Grupa Spomenik ist, dass es ein Objekt ‚Völkermord in Srebrenica‘ gibt. Ihre These lautet, dass der gegenwärtige Umgang mit den Opfern des Genozids von Srebrenica die im Krieg begonnene Ethnisierung der Menschen fortsetzt: 

Dieses Objekt [Völkermord in Srebrenica, S. R.] war und wird auch weiterhin durch ideologische Operationen und strategische Zusammenarbeit zwischen folgenden Erscheinungen geschaffen: der zeitgenössischen Forensik, der Bürokratisierung des Genozid-Traumas und dem religiösen Ritual, das das Begräbnis der sterblichen Überreste aller im Genozid getöteten Personen begleitet. Durch die Analyse der Mechanismen hinter dem Völkermord und der politischen Apparate der Versöhnungsideologie, die das Trauma des Genozids normalisieren und depolitisieren, deckt ‚Grupa Spomenik‘ die Strategien auf, die für die Konstruktion der Ethnie nach Krieg und Völkermord verantwortlich zeichnen. Der gesamte Prozess der sogenannten Re-Assoziierung der sterblichen Überreste [...] durch die Internationale Kommission für vermisste Personen wiederholt [...] die ethische Spaltung und andauernde Produktion einer künstlichen Entität – der Volksgruppe oder Ethnie.[30]

Die Grupa Spomenik kritisiert die Perpetuierung der Ethnisierung der Bevölkerung, die u. a. darauf beruht, dass die sterblichen Überreste der im Massaker in Srebrenica Getöteten in einem muslimischen Bestattungsritual kulturell oder ‚ethnisch‘ markiert und zugeschrieben werden. So konstruierte nicht nur der Krieg ‚Ethnien‘ durch ‚ethnische Säuberungen‘, sondern noch in der Aufarbeitung werden die Körper dazu eingesetzt, um ‚ethnische‘ Grenzen zu markieren.

In der Pythagorean Lecture und in Matheme geschieht die Auseinandersetzung mit dem skizzierten Problemfeld folgendermaßen: Einerseits gibt es die Schrifttafel, auf der ein Auszug aus dem eben zitierten Nachwort von Matheme abgedruckt ist. Hier ist u. a. formuliert, was eine ‚pythagoräische Lesung‘ ist und welchem Zweck sie dient. Die Pythagoräische Lesung basiert auf dem Konzept der akusmatischen Stimme, einer Stimme ohne sichtbare Quelle, einer Stimme aus dem Off. Der Text erwähnt dies nicht, aber wir wissen, dass der griechische Philosoph Pythagoras seine Schüler hinter einem Vorhang verborgen zu unterrichten pflegte, damit nicht sein Äußeres von seinen Worten und seiner Stimme ablenke. 

Andererseits waren zwei Fotografien ausgestellt (siehe Abb. 6 links). Es handelt sich um Dokumentationsmaterial der lecture performance in Zagreb, der Lesung, die dem Blick des Publikums verborgen hinter einem geschlossenen Vorhang stattfindet. Das dritte Element der Pythagorean Lecture ist das eigentliche Kernstück, nämlich die Lesung selbst, eine den Raum dominierende Sound-Installation. Ohne die Broschüre Matheme, in der der gesprochene Text abgedruckt ist, wäre es schwierig, ihm zu folgen (Abb. 7).

Der Text setzt sich im Wesentlichen aus zwei Elementen zusammen. Das erste Element ist eine Auflistung von Gegenständen, die für die forensische und bürokratische Arbeit im Zusammenhang mit der Identifikation der Ermordeten verwendet wird. Das zweite Element ist ein ausformulierter Text, der grob an der Struktur eines Gesprächs orientiert ist. Das deuten die einem Abschnitt jeweils vorangestellten Buchstaben A-D an. Als Gespräch im engeren Sinne kann der Text nicht bezeichnet werden, weil sein wesentlichstes Merkmal seine dissoziativen Übergänge sind. Es handelt sich vielmehr um disparate Statements oder Bemerkungen, die immer wieder von der Gegenstandsauflistung unterbrochen werden. Es ist evident, dass diese Textstruktur Programm ist. Der auf zufälligen Wiederholungen und scharfen Schnitten beruhende Text vermeidet die Konstruktion einer festen textuellen Entität. Als solche fluchtet die Textstruktur auf ein dezidiertes Gegenprogramm zur ,Re-Assoziierung‘ hin, die für das posthume Festlegen und Fixieren von Entitäten und Identitäten steht.[31] Weiter verrät das Nachwort in Matheme, was es mit der akusmatischen Stimme auf sich hat, die sowohl in der ursprünglichen lecture performance als auch in der Soundinstallation Pythagorean Lecture zu vernehmen war:

‚Grupa Spomenik‘ konstruierte die Idee der akusmatischen Stimme in einem Dialog mit dem pythagoreischen Vortrag; die Gruppe arbeitete strategisch mit den Wirkungen der Stimme bei dieser Lesungsform: Der Klang dringt hier hinter einem Behang hervor. […] Die Akusmatik, die anhaltend, aber ohne sichtbare Produktionsquelle erklingt, führt im visuellen Darstellungsfeld eine Distanz zum Darstellungsfeld der Performance ein und erzeugt so einen Minimalraum für die Kritik an den Mechanismen der Identifikation und Aufzählung der sterblichen Überreste als Hauptfaktoren bei der Normalisierung und Perpetuierung des Genozids. In diesem Fall positioniert sich die performative Kunst, befreit von der Maschinerie der Repräsentation, in einem Klang ohne Quelle, der [...] die Axiome des Genozids ohne eine Identifikation mit der menschlichen Welt und dem bekannten Wissensstand überträgt.[32]

Der Stimme ist folgendes eigen: Sie ist untrennbar an sprachliche Zeichen und damit an Bedeutung geknüpft. In der Rede einer Person vernehmen wir zwar ihre Stimme als Laut, aber sofern wir die Rede verstehen, werden wir unsere Aufmerksamkeit unmittelbar der Bedeutung der sprachlichen Zeichen zuwenden. Wir verweilen weder bei den Zeichen selber, noch verweilen wir beim Laut, der diese Zeichen trägt oder bildet. Wie Dieter Mersch gezeigt hat, stellt der Laut in der klassischen Lingu-istik zwar einen Ausgangspunkt dar, aber dieses Material des Zeichens, sein Fleisch sozusagen, wird in allen folgenden Operationen außer Acht gelassen.[33] Erst die jüngere Theorie hat an der Stimme etwas gefunden und rehabilitiert, das sich dem negativen, rein auf differenziellen Operationen beruhenden Spiel der Signifikation entzieht. Dieses Etwas ist gemäß Mladen Dolar ein nicht-bedeutender Rest oder Überschuss, den wir besonders dort aufspüren, wo wir die Stimme in erster Linie als Stimme wahrnehmen – im Gesang z. B. – und die Worte hinter ihr zurücktreten, die Bedeutung jedoch nicht ganz verschwindet.[34]

Die Suche nach einem Ort oder einer Topologie des „Objekts Stimme“[35], wie Mladen Dolar in Anlehnung an Jacques Lacans Terminologie den oben umschriebenen Überschuss in der Stimme bezeichnet, zeigt, dass es kaum ein anderes Phänomen gibt, das so sehr auf Innerlichkeit und Subjektivität verweist wie die Stimme. Sie scheint eine Art ‚Kern‘ zu verkörpern, also im Innersten des Subjekts angesiedelt und Garant seiner Subjektivität zu sein. Ähnlich wie der Blick bei Lacan hat aber auch die Stimme die Eigenschaft, auf den anderen gerichtet, im anderen ankommend und durch den anderen transformiert und zurückgeschickt, als nicht mehr eigenes und ursprüngliches wieder im Subjekt zu landen. In diesem Prozess wird sie zum Objekt, das etwas dem Subjekt Äußerliches einführt und es von innen her in seiner Zentriertheit bedroht. Es ist nahe liegend, dass die akusmatische Stimme, die Stimme ohne sichtbare Herkunft, die Innerlichkeit, die dem Phänomen Stimme immer beigegeben ist, in Frage stellt. Für Mladen Dolar wäre der Sonderfall ‚akusmatische Stimme‘ im Grunde ihre paradigmatischste Erscheinungsform, da die Herkunft der Stimme nie eindeutig zu bestimmen ist, auch wenn sich der Sprecher zeigt. Zwar hat sie einen unleugbaren Bezug zum Körper, doch ist sie weder in ihm noch an ihm, z. B. an der Mundöffnung und dem dahinter imaginierten Inneren, eindeutig zu verorten.[36] Insofern steht die Stimme im Zusammenhang mit dem Körper, aber nicht für ihn. Sie steht für die Essenz des Subjekts, kann aber doch nicht mit ihr zusammenfallen. Der Einsatz der akusmatischen Stimme in den Projekten der Grupa Spomenik zeugt von der Komplexität des Verhältnisses zum Körper, der schon Teil der ‚Repräsentations-Maschinerie‘ geworden ist, da auch er ein Zeichen ist. Wenn auf den Körpern ‚ethnische‘ Grenzen eingeschrieben werden und mit Körpern ‚Ethnien‘ eingegrenzt werden, verfährt die Kunst in einer gegenläufigen Bewegung dazu. Die Gruppe befasst sich mit Körpern, oder eher mit corpses, die noch posthum ein Schlachtfeld darstellen, auf dem ideologische Kämpfe ausgetragen werden. 

Die lacansche Auffassung des Körpers, die die Grupa Spomenik mit der akusmatischen Stimme vorführt, ist dadurch gekennzeichnet, dass es einen Schnitt durch ein Gefüge gibt. Der Körper ist immer schon Signifikant und Materie. Man kann sie nicht voneinander ablösen, aber auch nicht miteinander verschmelzen. Die Stimme steht für diese innere Grenze zwischen Signifikant und Materie, sie bezieht zwei Dinge im Modus des gegenseitigen Ausschlusses aufeinander. Die daraus resultierende Präsenzerfahrung ist das paradoxe Dritte in der Dichotomie zwischen Signifikant und Materie. Die Auffassung, die Marina Abramović in diesem Text exemplarisch verkörpert, sieht ebenfalls eine Grenze zwischen dem (symbolischen) Kunstobjekt und dem (natürlichen) Körper vor, wobei die Präsenz-Erfahrung jedoch mit der physischen Realität identifiziert wird. Die Grupa Spomenik verlagert den Schnitt oder die Grenze jedoch in den Körper hinein. 

Seit der Körper Mitte des 20. Jahrhunderts Eingang in die Kunst gefunden hat – um der Kunst einen Ausweg aus der Objekt-Verhaftetheit zu weisen –, hat er seine Bedeutungen und Potentiale immer wieder verändert. Er ist nicht nur in der Theorie ein umstrittenes Erkenntnisobjekt, wo – wie wir mit Butler gesehen haben – der Rekurs auf das Material und das Natürliche am Körper allerhand unerwünschte Folgen mit sich bringen kann. Er wird auch in der Kunst sehr bald als Bestandteil des symbolischen Systems gesehen, der nicht vor der Kultur steht und von ihr Einschreibungen erfährt. Es gibt eine Umkehrung der Hierarchie zugunsten der Zeichenhaftigkeit des Körpers, wie das Beispiel von Marina Gržinić/Aina Šmid gezeigt hat. Dabei ist der Körper einerseits Projektionsfläche, produziert aber selbst auch ein Bild und ist folglich mit agency ausgestattet. Zu einem späteren Zeitpunkt und unter anderen politischen Umständen wird dieses Potential weiter ausgelotet, jedoch in einer Weise, die versucht, den Körper aus dem System der Repräsentation weitgehend herauszuhalten, um auf die fatalen Konsequenzen hinzuweisen, die sich aus dem repräsentativen Einsatz von Körper und dem Zugriff auf ihn ergeben.

 

Bibliographie

Biesenbach, Klaus Hg. (2010): Marina Abramović. The Artist Is Present. Ausstellung im MOMA, New York 14. 3.–31. 5. 2010. New York: Museum of Modern Art.

Butler, Judith (1990): Das Unbehagen der Geschlechter. Übers. v. Kathrina Menke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Amerik. Orig.: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London: Routledge, 1990.

Butler, Judith (1993): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. Amerik. Orig.: Bodies that Matter. New York: Routledge, 1993.

Dolar, Mladen (2007): His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Grupa Spomenik (2010): Matheme. Deutschsprachige Broschüre zur Ausstellung in der Charim Galerie, Wien. http://grupaspomenik.wordpress.com/mathemes-of-re-assotiation/ (zuletzt gesehen: 27. 9. 2011).

Gržinić, Marina (2008): „The Video, Film and interactive Multimedia Art of Marina Gržinić and Aina Šmid“. In dies./Tanja Velagić (Hg.): New-Media Technology, Science and Politics. The Video Art of Marina Gržinić and Aina Šmid. Wien: Löcker, 39-159.

Jones, Amelia (1998): Body Art. Performing the Subject. Minneapolis/London: University of Minnesota Press.

Lippard, Lucy R., Hg. (1973): Six years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972. Reprint. Berkeley: University of California Press, 2006.

Mersch, Dieter (2002): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink.

Pascht, Arno (1999): Ethnizität. Zur Verwendung des Begriffs im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs. Eine Einführung. München: Akademischer Verlag.

Pejić, Bojana (1999): „Sozialistischer Modernismus und die Nachwehen“. In: Lóránd Hegyi (Hg.): Aspekte/Positionen. 50 Jahre Kunst aus Mitteleuropa 1949–1999. Wien: Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 115-124.

Stooss, Toni, Hg. (1998): Marina Abramović. Artist Body. Performances 1969–1979. Ausstellung im Kunstmuseum Bern, 1. 4.–1. 6. 1998. Mailand: Edizioni Charta.

Žarkov, Dubravka (2007): The Body of War. Media, Ethnicity, and Gender in the Break-up of Yugoslavia. Durham, London: Duke UP.


Fussnoten

1    Vgl. Biesenbach (2010).
2    Lippard (1973).
3    Lippard (1973).
4    Lippard (1973), vii.
5    Vgl. Lippard (1973), 5.
6    Vgl. Lippard (1973), 263.
7    Vgl. Pejić (1999), 120.
8    In einem Interview mit Hans Ulrich Obrist; vgl. Stooss (1998), 45 und 50.
9    Es ist wichtig anzumerken, dass sich Abramović während ihrer Retrospektive in einem seltsamen Widerspruch verstrickt, indem sie rhetorisch das ‚Ephemere‘ der Performance-Kunst beschwört, gleichzeitig aber den Versuch einer Verewigung durch die beständige Wiederholung ihrer alten Werke unternimmt.
10     Sie betont auch, dass Fragestellungen der Geschlechter-Theorie keine Motivation für ihre Arbeiten darstellten. Vgl. Jones (1998).
11     Butler (1993).
12     Butler (1990).
13     Butler (1993), 22.
14     Vgl. Butler (1993), 55.
15     Butler (1993), 56.
16     Butler (1993), 69.
17     Vgl. Butler (1993), 65.
18     Butler (1993), 67.
19     Vgl. das letzte Kapitel von Butler (1993), 305-333.
20     Dies berichtete Marina Gržinić anlässlich eines Workshops, den die Autorin 2010 in Zürich im Rahmen des Graduiertenkollegs Gender Studies mit der Künst-lerin durchführte.
21     Aus dem Gespräch mit Marina Gržinić.
22     Gržinić (2008), 48.
23     Vgl. Žarkov (2007), 5.
24     Vgl. Žarkov (2007), 2.
25     Vgl. Pascht (1999), 46.
26     Vgl. Pascht (1999), 27.
27     Vgl. Pascht (1999), 37.
28     Vgl. Pascht (1999), 46.
29     Das Werk hat eine längere Vorgeschichte. Diese Arbeit hat keine feste Werkstruktur, deshalb steht meine Beschreibung in der Vergangenheitsform. Unmittelbar vorangegangen war ihr eine lecture performance an der Performance Studies International Conference in Zagreb. Die Installation in der Charim Galerie in Wien war die Fortsetzung und ein Ausbau des Projekts.
30     Grupa Spomenik (2010), 22. Zitiert nach der deutschen Übersetzung der Galerie.
31     Der Titel des Werks Matheme verweist selbst auch auf die strukturellen Operationen, die den Text ausmachen.
32     Grupa Spomenik (2010), 24.
33     Mersch (2002), 96 ff.
34     Dolar (2007), 29.
35     Dolar (2007), 52 f.
36     Vgl. Dolar (2007), 82-97.

Abb2
Abb. 1-5: (v. l. n. r.) Stills aus: Marina Gržinić/Aina Šmid: Icons of Glamour, Echoes of Death/Ikone glamourja, odmevi smrti, 1982, Video, 15 min 45 sec. Mit freundlicher Genehmigung von Marina Gržinić.
Abb3
Abb. 2
Abb4
Abb. 3
Abb5
Abb. 4
Abb6
Abb. 5
Abb7
Abb. 6: Installationsansicht: Grupa Spomenik, Pythagorean Lecture, Installation (Schrifttafel, zwei Fotografien, Soundinstallation) und Matheme (Broschüren), 2010. Mit freundlicher Genehmigung der Charim Galerie Wien.
Abb8
Abb. 7: Grupa Spomenik: Matheme, 2010.