Editorial

Sophie Witt

Situiertes Schreiben: die Begrenztheit des eigenen historischen und immer partialen Standpunkts anzuerkennen und der Endlichkeit des Daseins und der Erkenntnismöglichkeiten Rechnung zu tragen – diese Haltung durchzieht und dieses Konzept nährt die Texte des vor- sowie bereits des zurückliegenden figurationen-Heftes. Von den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart nehmen die beiden Hefte dieses Jahrgangs ihren Ausgang und reagieren damit auf ein Moment der Dringlichkeit. Zu den längerfristigen Krisensymptomen wie Klimawandel und globaler Ungleichheit kommen dieser Tage der andauernde Krieg in der Ukraine, die akute Gewalt im Nahen Osten und die kriegerische Eskalation zwischen Israel und Palästina.

Nach Gemeinschaftlichkeit und Konvivialität zu fragen – wie dies beide Hefte tun – und gleichzeitig davon auszugehen, dass die Gesellschaftsutopien der Moderne an Zugkraft eingebüßt haben und nicht ohne Weiteres reaktivierbar sind, dafür steht die Rede von der Verletzlichkeit (vulnerability) und die Betonung ihrer Stärken (virtues). Von der unabwendbaren Verletzlichkeit her werden „Szenarien eines Zusammenlebens in Differenz“ denkbar. Die Beschäftigung mit geteilter Sterblichkeit und die Suche nach lebbaren Alternativen zum Eigentumsindividualismus könnte dieser Tage aktueller, könnte dringlicher nicht sein. 

Situiertes Schreiben ruft nicht nur dazu auf, sich – politisch, ethisch, erkenntniskritisch – innerhalb der jeweiligen Gegenwart zu lokalisieren. Es sucht nach Medialitäten dieser kritischen Selbstverortung. Welche Modi des Denkens und Handelns, welche Weisen der Artikulation und Kommunikation sind geboten oder bleiben möglich angesichts sich jagender Dringlichkeiten? Dass beide Hefte dieses Jahrgangs einen dezidierten Fokus auf künstlerische Darstellungs- und Handlungsweisen legen, ist kein Zufall. Das vorliegende Heft erinnert u.a. mit Cornelius Castoriadis an die Bedeutung der Tragödie, an deren „ständige Mahnung zur Selbstbegrenzung“, an die „Verdeutlichung der Auswirkungen von hybris“ und an den „Nachweis, dass gegensätzliche Argumente koexistieren können“. Das sei etwa, schreibt Castoriadis, eine der Lehren aus Sophokles’ Antigone.

Womöglich wegen dieser Lehren feiert Antigone derzeit eine auffällige Wiederkehr auf Stadttheaterbühnen und internationalen Theaterfestivals. In diesem Jahr schließt Milo Rau mit Antigone im Amazonas eine Tragödien-Trilogie ab. Erarbeitet u.a. mit indigenen Aktivist:innen in Brasilien und seither gastierend auf allen wichtigen europäischen Bühnen, werden die Gewaltstrukturen zwischen Globalem Norden und Globalem Süden mit alltäglichen Herrschafts- und Ausbeutungslogiken des Globalen Nordens zusammengebracht. „Angesichts akuter Megakrisen“ widmet sich das SchauSpielHaus Hamburg in der Spielzeit 2023/24 der Bearbeitung und Übertragung der thebanischen Tragödien und bringt unter Regie der Intendantin Karin Beier den fünfteiligen „Marathon“ ANTHROPOLIS von Roland Schimmelpfennig nach Aischylos, Sophokles und Euripides auf die Bühne. Nach den gewaltsamen politischen und affektiven „Ungeheuern“ fragt das Projekt. Es geht der Vermutung nach, dass sich „die vernunftbasierte Welt als Illusion erweisen könnte, und irrationale Kräfte auf ihr Existenzrecht pochen. […] der Rausch, die Religion und die Naturgewalt; Feinde, die sich ihre Feindschaft nicht nehmen lassen; und weibliches Empowerment.“  

In unterschiedlichen Gestalten durchgeistern diese Kräfte auch dieses Heft, stören Gewiss- und Reinheiten und imaginieren Formen des Zusammenlebens, auch zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren; und alternative Genealogien, die den modernen Heroismus des Starken und Souveränen nicht auf Kosten der dann ständig drohenden „Ungeheuer“ gewinnen.

Die politische Aktualität der Tragödie liegt aber womöglich weniger in ihren Themen als in der theatralen Form. Die Tragödie sei darin demokratisch, schreibt Castoriadis, „dass sie ständig an die Sterblichkeit, also die radikale Begrenztheit menschlichen Daseins erinnert.“ Sie erinnert daran nicht zuletzt durch die Ko-Präsenz im Theaterraum, in der Spielende und Zuschauende eine Situation teilen und für den:die:das Andere:n – zumindest potenziell – durchlässig werden. Immunisierung – das haben die geschlossenen Theaterhäuser während der Pandemie gezeigt, die sich nun endlich wieder gefüllt haben – ist im Theater schwer möglich, weder physisch noch sozial. Das Modell des Offen-Geteilten wird in diesem Heft begegnen: ein „‚weltoffenes‘, semipermeables, ein immer-schon-kontaminiertes Selbst, ein Selbst, das sich nicht in Verteidigungsstellung bringen muss, weil es mit seiner eigenen Verwundbarkeit (durch den Tod, durch andere Menschen) zurechtkommt.“

Auf eine im guten Sinne offene und geteilte Zusammenarbeit blicken wir im Herausgeber:innenkreis und Redaktionsteam zurück: In diesem Sinne danken wir Karin Harrasser und Franz Thalmair für die Konzeption dieses Heftes und allen Autor:innen für ihre Beiträge in Wort und Bild. Im Redaktionsteam der figurationen begrüßen wir Ana Preuß aus Hamburg und freuen uns auf gute Zusammenarbeit; und verabschieden uns von Noah Schmitz, dem wir für seine kompetente und verlässliche Mitarbeit sehr herzlich danken.

Hamburg, im Oktober 2023  Sophie Witt

 

Fussnoten

1) Harrasser, Karin/Thalmair, Franz: Einleitung. Die Stärken der Schwäche, in diesem Heft, 9. 

2) Castoriadis, Cornelius (2011): Das griechische und das moderne politische Imaginäre. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 4: Philosophie, Demokratie, Poiesis. Hg. v. Michael Halfbrodt u. Harald Wolf. Übers. v. Michael Halfbrodt. Lich: Edition AV,93-121, hier 103. 

3) Programmbeschreibung unter https://schauspielhaus.de/stuecke/anthropolis1 (zuletzt gesehen: 25. 10. 2023).

4) Castoriadis, Cornelius (2011): Das griechische und das moderne politische Imaginäre. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 4: Philosophie, Demokratie, Poiesis. Hg. v. Michael Halfbrodt u. Harald Wolf. Übers. v. Michael Halfbrodt. Lich: Edition AV, 93-121, hier 103.

5) Harrasser, Karin/Thalmair, Franz: Einleitung. Die Stärken der Schwäche, in diesem Heft, 11. 

Situiertes Schreiben: die Begrenztheit des eigenen historischen und immer partialen Standpunkts anzuerkennen und der Endlichkeit des Daseins und der Erkenntnismöglichkeiten Rechnung zu tragen – diese Haltung durchzieht und dieses Konzept nährt die Texte des vor- sowie bereits des zurückliegenden figurationen-Heftes. Von den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart nehmen die beiden Hefte dieses Jahrgangs ihren Ausgang und reagieren damit auf ein Moment der Dringlichkeit. Zu den längerfristigen Krisensymptomen wie Klimawandel und globaler Ungleichheit kommen dieser Tage der andauernde Krieg in der Ukraine, die akute Gewalt im Nahen Osten und die kriegerische Eskalation zwischen Israel und Palästina.Situiertes Schreiben: die Begrenztheit des eigenen historischen und immer partialen Standpunkts anzuerkennen und der Endlichkeit des Daseins und der Erkenntnismöglichkeiten Rechnung zu tragen – diese Haltung durchzieht und dieses Konzept nährt die Texte des vor- sowie bereits des zurückliegenden figurationen-Heftes. Von den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart nehmen die beiden Hefte dieses Jahrgangs ihren Ausgang und reagieren damit auf ein Moment der Dringlichkeit. Zu den längerfristigen Krisensymptomen wie Klimawandel und globaler Ungleichheit kommen dieser Tage der andauernde Krieg in der Ukraine, die akute Gewalt im Nahen Osten und die kriegerische Eskalation zwischen Israel und Palästina.