Editorial
Man ist gewohnt, das Gedächtnis in erster Linie als kognitive Leistung des Individuums, als Erinnerungsvermögen und als Speicher habitualisierter Handlungen vorzustellen. Auch wird der Begriff ,Gedächtnis‘ häufig in einem kulturtheoretischen Zusammenhang gebraucht, nämlich als die Form kultureller Überlieferung schlechthin: Überindividuelle, soziale Einheiten sind damit angesprochen, unter Umständen verbindet man damit sogar die ganze Menschheit. Institutionalisierte Formen des kulturellen Gedächtnisses wie etwa die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes verkörpern solche globalisierten Formen der Erinnerung und verbinden sie mit dem Appell zur Aufbewahrung und Pflege historischer Formen. Auch die großen Institutionen wie etwa Staaten, Gemeinden, Wirtschaftsunternehmen, ihrem Selbstverständnis nach als ‚Körperschaften‘ organisiert und daher mit einer Körpermetapher verbunden, können als Träger einer schematisierten Erinnerung verstanden werden. Aber wie wäre der fleischliche, menschliche Körper als Träger eines Gedächtnisses zu denken? Ein mehr oder weniger virtuoser Musiker, ein Sportler, ein Koch könnten sich wahrscheinlich sofort eine Vorstellung vom Körpergedächtnis machen, würden sie die antrainierten und habitualisierten Bewegungsabläufe beim Spielen oder im Laufen und Gemüseschneiden, die die Freiheit des virtuosen Spiels, der Interpretation und der Bewegungsökonomie ermöglichen, als Form des Gedächtnisses auffassen.
Anthropologen, Mediziner, Gentechnologen zeigen, dass sich der menschliche Körper schlechthin als Bündel oder Speicher der phänotypischen Entwicklung des Menschen verstehen lässt. Die Metapher des Körpergedächtnisses impliziert aber auch, dass die Aktualisierung und Lesbarkeit dieses Gedächtnisses nicht offen zutage liegt – und in der Tat gehört es ja zu den Aufgaben der Naturwissenschaften, dieses Gedächtnis zu aktualisieren und lesbar zu machen. Damit wird nicht selten die Hoffnung auf eine Prognosefähigkeit verbunden, sei es in Bezug auf die Heilung von Krankheiten, sei es in Bezug auf die zukünftige zivilisatorische Entwicklung der ganzen Gattung.
Es war Sigmund Freud, der im späten 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit seinen Studien zur weiblichen Hysterie in der Pariser Klinik Salpêtrière das Körpergedächtnis mit der Konstitution des psychischen Apparats in Zusammenhang brachte. Er verstand die bei den Patienten und Patientinnen auftretenden Lähmungen, Sprach- und Sehstörungen, Kontrakturen und andere Symptome als körperlich dargestellte Erinnerungsspuren, die ein zugrundeliegendes Trauma sichtbar machen. Der körperliche Ausdruck des Symptoms steht also in direkter Verbindung mit dem Leid(en), und der Körper ist in diesem Sinne das Gedächtnis dieses Leidens, das im Symptom eine Darstellungsform gefunden hat. Das symptomale Körpergedächtnis, insofern es dem Leiden gegenüber verspätet auftritt, bewahrt die Spur des Leidens. In direkter Beziehung zur Intensität des Leids, aber auch zu den historisch spezifischen kulturellen Ausdrucksformen, die dem Patienten zur Verfügung stehen, erkannte Freud die Gesten und Stile, die der expressive Körper der Kranken wählt. Körperexpressivität wird dabei als kulturelle, symbolische Form aufgefasst. Der Körper erscheint dann als Träger von „Engrammen“ (diesen Begriff sollte Aby Warburg für seine Beschreibungen des Archivs von körperlich-gestischen Ausdrucksformen in der Kunstgeschichte benutzen [1]). Rätselhaft aber bleibt diese Form des Gedächtnisses, so stark auch seine Angebote an Lesbarkeit oder Entschlüsselung sein mögen.
Alle diese Aspekte – kulturtheoretische, medizinische, medienspezifische, anthropologische, historische, ästhetische – werden in den Beiträgen dieses Heftes angesprochen. Es verdankt sein Thema und seinen interdisziplinären Zuschnitt den Mitgliedern des Graduiertenkollegs „Körper und Gedächtnis“, das an der Universität Zürich von 2006 bis 2008 arbeitete. Besonderer Dank der Redaktion geht an die Autorinnen und an Therese Steffen, die mit Ihrem Engagement den Forscherinnen bei ihren Aktivitäten im Graduiertenkolleg wie auch bei der Arbeit an diesem Heft Lebendigkeit und Freude an der Sache vermittelt hat. Für die Erlaubnis, ihre für das Graduiertenkolleg angefertigte Fotoarbeit „Minima Materialia“ auf eine der Memory-Karten der Covergraphik drucken zu dürfen, danken wir Pascale Osterwalder. Unser Dank geht ebenso an das Kompetenzzentrum Gender Studies (KGS) der Universität Zürich für die freundliche finanzielle Unterstützung dieses Heftes.
Zürich, im Mai 2008
[1] Vgl. Ernst Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Ãœbers. v. Matthias Fienbork. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, 323-347.