Fortschritt in vaterloser Welt
Geschichtliche Entwicklung und individuelle Lebensführung nach Condorcet
I. Die Schande des Vatermords
Der Tornado des Säkulums, der eiskalte Sturm des Terrorismus, fuhr endlich aus der heißen Wolke und schlug das Leben nieder. Nicht die, deren Vermögen oder Leben geopfert wurde, litten am bitterlichsten, sondern die, denen jeder Tag eine große Hoffnung der Freiheit nach der anderen mordete, die in jedem Opfer von neuem starben, und vor die sich allmählich das weinende Bild eines sterbenden, von Ketten und Vampyren umwickelten Reichs als Preis aller Opfer gekrümmt hinstellt.
Diese Sätze finden sich in einem Text Jean Pauls über die Marat-Mörderin Charlotte Corday, der in einer ersten Fassung im Sommer des Jahres 1800 entstand und 1809 in der Sammlung Dr. Katzenbergers Badereise erschien. [1] Neben der frühen Warnung vor dem weltgeschichtlichen „Terrorismus“, die auf die Französische Revolution gemünzt ist, enthalten sie die Zumutung, daß man den Verlust der Hoffnung schwerer zu nehmen habe als den Verlust des Lebens. Folgt man Jean Paul, so hat es Marie Jean Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet vergleichsweise leicht gehabt, denn ihm kam während der Französischen Revolution nur das Leben, nicht aber die Hoffnung abhanden.
In Condorcets Leben und Werk zeigt sich wie in einem Spiegel die Zeit, in der er lebte, und man möchte fast meinen, daß sie sich eben dafür an ihm gerächt hat: Als „optimistischer Rationalist“, gar als „einer der besten“ Menschen, „die je gelebt haben“[2], wurde er Opfer der Revolution, für die er gekämpft hatte. Nach einer glänzenden wissenschaftlichen Karriere, die ihn, gefördert von den Aufklärern Turgot und d’Alembert, 1782 in die Académie française geführt hatte, schlug er sich 1789 auf die Seite der Revolution und blieb ihr noch treu, als sie sich gegen ihn wandte. Im Juni 1793 protestierte Condorcet gegen den Verfassungsentwurf der Jakobiner; im Juli wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen und im Oktober desselben Jahres wurde er zusammen mit den Girondisten, denen er zwar nahestand, aber nicht angehörte, zum Tode verurteilt.[3] Daß Condorcet unvergessen ist, verdankt er einem Umweg, den er in den letzten Monaten vor seinem Tod eingeschlagen hat. Er fand Zuflucht bei seiner Gönnerin Madame Vernet und entging auf diese Weise vorerst der Verhaftung und der Vollstreckung des Todesurteils. In seinem Versteck verfaßte er binnen drei Monaten die Schrift, die ihn vor allem berühmt machen sollte, den Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain). Im März 1794 verließ Condorcet sein Versteck bei Madame Vernet, wohl um seine Gönnerin nicht zu gefährden. Nach wenigen Tagen wurde er in einem Gasthof festgenommen und ins Gefängnis von Bourg-la-Reine gebracht. Man schöpfte Verdacht – so lautet die Legende –, als er ausgehungert ein Omelette mit einem Dutzend Eiern bestellte. Sein Tod am 29. März 1794 – Condorcet wurde fünfzig Jahre alt – war wohl nicht, wie es die Heldenverehrer wollten, Selbstmord, sondern wurde durch einen Herzanfall verursacht. Jules Michelet, der Historiker der französischen Revolution, meinte, auf der Republik laste damit „die Schande des Vatermords, das Verbrechen, den letzten derjenigen Philosophen in den Tod getrieben zu haben, ohne die es sie nicht gegeben hätte.“[4]
Wenn Michelet von „Vatermord“ spricht, so ist die Versuchung groß, diese Charakterisierung wörtlich zu nehmen und zu fragen, in welcher Weise Condorcet denn die Rolle eines „Vaters“ der Revolution gespielt haben mag. Dieser historiographischen Frage nach der politischen Rolle Condorcets möchte ich hier freilich nicht nachgehen, sondern allgemeiner die Frage stellen, inwieweit es überhaupt plausibel ist, die Figur des ‚Vaters‘ auf die Entwicklung der Geschichte zu beziehen (II). Im Ausgang von Adam Smiths Rede von der „vaterlosen Welt“ und der „unsichtbaren Hand“ (III) möchte ich dann auf Condorcets Geschichtsphilosophie eingehen (IV). Weil sie von sich aus zu Fragen der Erziehung vorstößt, schließe ich mit Anmerkungen, die der von Condorcet selbst ausgefüllten Vaterrolle gewidmet sind (V). Dabei wird es zu einer überraschenden Annäherung zwischen Condorcet und Montaigne kommen.
Die Kombination zwischen der metaphorischen Rede vom ‚Vater‘ einer geschichtlichen Entwicklung und der konkreten Vaterschaft ist nicht nur äußerlich reizvoll, sondern in der Sache gerechtfertigt, denn Condorcet verfaßte in seinem Versteck bei Madame Vernet nicht nur seinen geschichtsphilosophischen Esquisse, sondern auch, im März 1794, also in den letzten Tagen vor seinem Tod, Conseils à sa fille[5]. Diese Ratschläge waren seiner Tochter Éliza gewidmet, die damals kurz vor ihrem vierten Geburtstag stand.[6]
II. Familienbilder im Geschichtsprozeß: Gott und andere Väter
Welchen Sinn ergibt es überhaupt, mit Bezug auf die Geschichte von ‚Vaterschaft‘ zu reden? Ich will kurz auf einige systematische Unterscheidungen hinweisen, die sich hier aufdrängen.
Zunächst mal kann man sich eine Vater-Figur vorstellen, die für die Geschichte der Menschheit insgesamt zuständig ist. Sie fällt mit der Figur eines Schöpfers zusammen, dem einerseits die Einrichtung oder der Aufbau der Welt obliegt, andererseits die Begleitung und Anleitung der Entwicklung der Menschheit. Was diese Entwicklung betrifft, so steuert der Vater-Schöpfer sie durch die Aufstellung von Gesetzen und Geboten, die lebensleitend wirken. Bei dieser Auslegung der Vaterschaft kehrt man sich ganz von der biologischen Deutung dieser Rolle ab, denn zum einen ist der (göttliche) Vater der Zeit und also der Alterung enthoben, zum anderen muß auch auf der Seite des vermeintlichen Kindes, also der menschlichen Geschichte, ein natürlicher Kreislauf vermieden werden[7]: Die Entwicklung soll nicht mit Alterung, Verfall und Tod einhergehen. Entsprechend kommt es etwa bei Leibniz zu einer „Denaturalisierung der Altersmetaphorik“[8]: Sie verhindert, daß die Menschheitsgeschichte als „Kind“ eines Schöpfers nicht nur erwachsen wird, sondern dann auch bald senil.
Schon die theologische Vater- oder Schöpfer-Figur erlaubt eine pädagogische Deutung der Geschichte als eines Prozesses fortschreitender Bildung. Doch es gibt Grenzen bei der Übertragung des Vater-Kind-Verhältnisses auf die Entwicklung der Menschheit. 1688 bringt Bernard de Fontenelle diese Grenzen in seinem Exkurs über die Alten und die Modernen entschieden zur Sprache:
Ein gebildeter Geist ist gewissermaßen aus allen Geistern der vorhergehenden Jahrhunderte zusammengesetzt, es ist nur ein und derselbe Geist, der sich während dieser ganzen Zeit gebildet hat. So hatte denn dieser Mann, der vom Beginn der Welt bis heute gelebt hat, seine Kindheit, in der er nur mit den vordringlichsten Lebensbedürfnissen beschäftigt war, seine Jugend, in der er recht großen Erfolg bei den Dingen der schöpferischen Phantasie, wie etwa Poesie und Redekunst, errungen und sogar begonnen hat, vernünftig zu überlegen, was jedoch mit weniger Gründlichkeit als vielmehr glühendem Eifer geschah. Jetzt ist er im Mannesalter, in dem er entschiedener überlegt und mehr Kenntnisse als je zuvor besitzt [...]. Es ist bedauerlich, daß man einen Vergleich nicht bis zum äußersten treiben kann, der sich so gut angelassen hat, aber ich bin zu dem Geständnis verpflichtet, daß jener Mann kein Greisenalter haben wird; er wird immer in gleicher Weise zu den Dingen fähig sein, die für seine Jugend eigentümlich sind, und er wird mehr und mehr zu jenen Dingen fähig werden, die dem Mannesalter angemessen sind; das heißt, um den Bereich der Allegorie zu verlassen, daß die Menschen niemals entarten werden und daß die gesunden Ansichten aller guten, auch in Zukunft einander folgenden Geister sich immer gegenseitig ergänzen werden.[9]
Noch Turgot, Condorcets Förderer, übersieht die von Fontenelle kenntlich gemachten Fallstricke an der Idee vom Reifen und Älterwerden der Menschheit und schreibt im Jahre 1750: „Wenn man die menschliche Gattung von ihren Ursprüngen an betrachtet, so erscheint sie in den Augen eines Philosophen wie ein großes Ganzes, das selbst auch, wie jedes Individuum, seine Kindheit hat und Fortschritte macht.“[10] Diese Vorstellung der Geschichte meint den Entwicklungsprozeß der Menschheit anhand des Wachstums des Menschen illustrieren zu können. Doch sie wünscht sich eine Menschheit, die älter wird, ohne je alt zu sein.
Einer biologischen Deutung der menschlichen Entwicklung bliebe man im strengen Sinne nur treu, wenn man der Geschichte einen Auf- und Niedergang, also einen historischen Kreislauf oder ein Auf und Ab im Generationengang zuschriebe. Damit verschiebt sich die Instanz der Vaterschaft vom externen Standort des Schöpfers in die Geschichte hinein: So wie man Vater eines Kindes ist, so ist man selbst Kind eines Vaters. Es kommt dann nicht auf die Steuerung von oben, sondern auf die fortlaufende Reproduktion an. Dabei muß man nicht ständig auf die Chance zur Veränderung lauern, sondern kann auch auf die Sicherung der Kontinuität und die Wiederholung des Selben bedacht sein. Demnach kann etwa ein Vater die Erwartung an seinen Sohn artikulieren, daß er ihn angemessen vertreten oder, genauer noch, daß der Sohn „eine Person repräsentieren“ solle, die eben die des Vaters sei; diesen Wunsch jedenfalls bringt in François Rabelais’ Roman der Vater Gargantua gegenüber seinem Sohn Pantagruel zum Ausdruck: „In Dir und durch Dich bleibe ich in meiner sichtbaren Gestalt in dieser Welt“, sagt Gargantua und beabsichtigt, „Dich nach meinem Tod zu hinterlassen als einen Spiegel, der meine Person – die Person Deines Vaters – repräsentiert“.[11] Wer die Ähnlichkeit zwischen Vater und Kind sichern will, sträubt sich gegen einen Fortschritt, der beide voneinander entfremden könnte, und versucht, die Zeit in einer räumlichen Konstellation, in der das Kind als „Spiegel“ seiner selbst auftritt, stillzustellen.
Ein Unterschied zwischen den Generationen wird überhaupt erst dann denkbar, wenn jeder Generation eine Entwicklung zugestanden wird, mit der sie auf eigene Wege gelangen kann. Deshalb eben geht die Entdeckung der Kindheit Hand in Hand mit der Idee der perfectibilité. Hier greift Philippe Ariès’ These, wonach im Mittelalter eine „Vorstellungswelt“ herrschte, „die Kindheit“ als eigene Phase nicht „kennt“: „Diese mittelalterliche Zivilisation hatte die paideia der Alten vergessen und wußte noch nichts von der Erziehung der Modernen. Dies ist das wesentliche Faktum: sie hatte keine Vorstellung von Erziehung.“[12] Daß die Kindheit vielmehr eine Zeit des Dienstes war, kommt etwa in der Doppelbedeutung des französischen garçon (Junge und Kellner) noch zum Ausdruck. Ein Traktat aus dem 15. Jahrhundert empfiehlt:
Fay se tu peulz que tu desserves/ La grace et l’amour de ton maistre/ Afin que tu puisses maistre estre/ Quand il sera temps et métier./ Mais peine à scavoir bon mestier/ Car pour ta vie pratiquer/ Tout ton coeur y dois appliquer.
Setz alles dran, damit Du Dir/ Die Gunst und Liebe Deines Herrn verdienst,/ So daß Du zum Herren werden kannst,/ Wenn es Zeit ist und Du ausgelernt hast./ Doch mühe Dich, daß Du zuvor Dein Handwerk gründlich kennenlernst,/ Denn wenn Du das Leben meistern willst,/ Mußt Du Dich ihm mit ganzer Seele widmen.[13]
Erst wenn Erziehung nicht einfach als Einübung in ein Handwerk gesehen wird, tut sich zwischen den Generationen ein Abstand auf, der Spielräume schafft. Damit kommt es auch zu einer Annäherung zwischen der Philosophie der Geschichte und der Philosophie der Erziehung, denn ein zentraler Schauplatz der historischen Entwicklung ist eben dort angesiedelt, wo der Übergang zwischen den Generationen organisiert wird.
Wenn man der Menschheit Bildungsfähigkeit unterstellt, so läßt sich auch auf der Basis natürlicher Voraussetzungen ein fortschreitender Prozeß denken. So geht etwa Fontenelle davon aus, daß der „Stoff“, den die „Natur [...] zur Verfügung“ stellt, über die Jahrhunderte hinweg „immer der gleiche“ sei, doch er sieht die Möglichkeit des Fortschritts darin, daß die Jungen die Fehler der Alten „berichtigen“ und sie damit fortlaufend „übertreffen“.[14] Das Urteil über diesen Verbesserungsprozeß kann dann freilich nicht von außen gefällt werden, sondern obliegt denen, die an dem Prozeß selbst beteiligt sind. In diesem Staffellauf des Lebens kann man sich nicht darin sonnen, die Entwicklung insgesamt zu überblicken und zu steuern.
Was passiert, wenn die übermächtige Vater-Figur, die außerhalb der Geschichte steht, ganz verschwindet? Adam Smith, der enge Beziehungen zu Condorcet unterhielt, hat 1759 in seiner Theory of Moral Sentiments, die übrigens von Condorcets Frau Sophie ins Französische übertragen wurde[15], eben diese Frage aufgeworfen. Nach Smith geht in diesem Fall die Gewißheit verloren, daß
alle die Bewohner des Universums, die geringsten ebenso wie die höchsten, unter der unmittelbaren Fürsorge und dem Schutze jenes großen wohlwollenden und allweisen Wesens stehen, das alle Bewegungen in der Natur lenkt, und das durch seine eigene unabänderliche Vollkommenheit dazu bestimmt ist, in ihr allezeit das größtmögliche Maß von Glück zu erhalten.
Der Verdacht kommt auf, daß – so Adam Smith – man in einer „vaterlosen Welt“ (fatherless world) lebe. Diese „trübsinnigste von allen Erwägungen“ geht einher mit der „fürchterliche[n] Vorstellung“, daß die ganze Welt, gar der Weltraum „mit endlosem Elend und Jammer“ erfüllt sein könnte.[16] In eindrucksvoller Weise verbindet Smith die Säkularisierung der Welt mit einem Verlust des „Vaters“.
Mir geht es hier nicht um den Vergleich zwischen englischer und französischer Aufklärung, sondern nur um die Feststellung, daß Smiths Diagnose von der „vaterlosen Welt“ Condorcet vertraut ist. Dabei wäre es aber voreilig, würde man den Verlust eines göttlichen „Vaters“ zum fait accompli erklären und nur noch danach fragen, wie sich die Welt denn unter der Voraussetzung der Vaterlosigkeit reorganisieren mag. Vielmehr ist davon auszugehen, daß es Überlagerungen und Überschneidungen verschiedener Szenarien gibt, in denen auch verschiedene ‚Vater‘-Rollen weiterhin besetzt bleiben.
Festzuhalten ist, daß die Entwicklung, die die Geschichte nimmt, unter der Voraussetzung einer „vaterlosen Welt“ die vorgängige Orientierung einbüßt. Die Vervollkommnung der Menschheit verliert ihren Rückhalt in einer Instanz, die als Garant für die Ausrichtung am Guten dient. Die theologisch-philosophischen Debatten, die sich etwa anläßlich des Erdbebens von Lissabon mit Gott als dem Garanten des Guten sowie mit der Karriere des Bösen befassen, sind uferlos.[17] Es ist insofern nur konsequent, wenn Rousseau den Begriff der perfectibilité in neutraler Weise verwendet, also zu positiven wie negativen Entwicklungen für fähig hält.[18] Das Bild, das die Geschichte bietet, wird unübersichtlich.
Wenn „Gott“, wie Novalis befürchtet, „zum müßigen Zuschauer“ wird[19], verschwindet die Vater-Figur nicht geradewegs, sondern sie wandert in die Geschichte ein. Damit stellt sich eine Frage, die beim Bezug auf einen Schöpfer fehl am Platze wäre, nämlich die Frage nach der Kontextualisierung des Vaters. Sie drängt sich aus zwei Gründen auf: zum einen – diachron –, weil dieser innerweltliche Vater selbst eine Herkunft hat, und zum anderen – synchron –, weil er nun allenfalls etwas ‚in‘ der Welt, nicht aber mehr diese selbst als ‚Kind‘ betrachten kann und also in Konkurrenz zu anderen ‚Vätern‘ tritt, die auf ihre Weise etwas bewirken. Es kommt zu einer Historisierung und Pluralisierung der Vaterschaft. Wenn Adam Smith mit seiner Diagnose von der „vaterlosen Welt“ recht hat, so gehört zu ihr auch, daß es nunmehr viele Väter gibt, die sich möglicherweise gegenseitig das Spiel verderben.
Seltsamerweise ohne auf Adam Smith überhaupt zu verweisen, hat Dieter Lenzen im 18. Jahrhundert eine „Vervielfältigung der Vaterschaft“ beobachtet, die dann gar in den Prinzipien der Französischen Revolution in eine „Zerstörung des Vaterprinzips“ umgeschlagen sein soll.[20] Lenzen selbst bemerkt freilich, daß ungeachtet dieser „Zerstörung“ die Literatur jener Zeit die Vaterschaft geradezu zu einem ihrer Lieblingsthemen gekürt hat (man denke nur an Lessings Miss Sara Sampson, Moritz’ Anton Reiser oder Schillers Don Karlos). In der Tat ist die Rede von der „Zerstörung der Vaterschaft“ überzogen – und zwar aus zwei Gründen.
Zum einen gibt es gewisse Surrogate einer transzendenten Vaterschaft, die gerade auch in der Französischen Revolution eine bedeutsame Rolle spielen; man denke etwa an Robespierres Rede vom 7. Mai 1794, die in einer Anrufung eines „Höchsten Wesens“ gipfelt, welchem die Menschheit als eine „riesige Familie“ zugeordnet ist.[21]
Zum anderen trifft man auf den offensiven Versuch, innerweltlich eben jene präzedenzlose Vaterschaft und Schöpferkraft für sich zu reklamieren, die sonst einer transzendenten Instanz zugeschrieben worden war. Man kennt diese Wendung nicht nur aus der prometheischen Herausforderung im deutschen ‚Sturm und Drang‘, sondern auch aus der Französischen Revolution. Sie folgt der berühmten Devise, die Tocqueville an den Beginn seiner Darstellung Der alte Staat und die Revolution gestellt hat:
Die Franzosen haben im Jahre 1789 die größte Anstrengung gemacht, [...] um ihre Geschichte sozusagen in zwei Teile zu spalten und durch eine tiefe Kluft das, was sie bis dahin waren, von dem zu scheiden, was sie fortan sein wollten.[22]
Wenn die Tradition zurückgewiesen wird, so liegt darin eine Demontage früherer Vaterschaft und zugleich der Anspruch auf Sicherung der eigenen Souveränität, also einer Vaterschaft eigener Art. Im Revolutionskalender, der der Geschichte eine neue Stunde Null beschert, wird die Sehnsucht nach einem Neuanfang in Zeitrechnung umgesetzt.[23] Dies wird noch in den Ausläufern der Revolution erkennbar – etwa, wenn Carl August von Malchus als Staatsrat im napoleonischen Westfalen im Jahre 1808 bemerkt:
In einem Staate wie dem unsrigen, auf Sieg gegründet, gibt es keine Vergangenheit. Er ist eine Schöpfung, in welcher, wie bei der Schöpfung des Weltalls, alles was vorhanden ist, nur als Urstoff in der Hand des Schöpfers und aus ihr vollendet in das Dasein übergeht.[24]
Dem Neuanfang ordnet sich die suspekte Figur eines in die Geschichte selbst hineinversetzten Demiurgen zu, die bis ins 20. Jahrhundert hinein in verschiedenen Varianten auftreten wird.[25] All diese Ambitionen des Neuanfangs werden beeinträchtigt durch die Kontextualisierung der Vater-Figur, denn letztlich läßt sich nicht ignorieren, daß ein Vater, sofern er denn innergeschichtlich operiert, selbst einmal Kind gewesen ist. Dies schmälert seine Kompetenzen im Zugriff auf die historische Entwicklung, die er auslösen will. Er hat ein Autoritätsproblem, denn wer will sich schon von jemandem, der doch von gleicher Art ist wie man selbst, in die Rolle des Kindes drängen lassen?
III. Condorcets Fortschrittskalkül
Condorcets Plädoyer für den Fortschritt, dem ich mich jetzt zuwenden will, enthält sich der Anmaßung, ihn auf eigene Faust dirigieren zu wollen. Als er in seinem Versteck den Esquisse schreibt, verbietet allein schon seine eigene verzweifelte Lage alle Höhenflüge. Was ihm bleibt, ist jene unter Eltern gleichfalls weit verbreitete Hoffnung, daß die Kinder endlich die Wünsche verwirklichen werden, von denen man selbst ohne Aussicht auf Erfüllung verzehrt worden ist. Ebendiese Hoffnung bringt Condorcet am Ende des Esquisse in bewegenden Worten zum Ausdruck:
Was für ein Schauspiel bietet dem Philosophen das Bild eines Menschengeschlechts dar, das von allen Ketten befreit, der Herrschaft des Zufalls und der Feinde des Fortschritts entronnen, sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet [...]! In der Betrachtung dieses Bildes findet er den Lohn für seine Mühen um die Fortschritte der Vernunft, die Verteidigung der Freiheit. [...] Seine Betrachtung ist ihm eine Stätte der Zuflucht, wohin ihn die Erinnerung an seine Verfolger nicht begleiten kann; wo er in Gedanken mit dem Menschen, der in seine Rechte wie in die Würde seiner Natur wieder eingesetzt ist, lebt und wo er den Menschen vergißt, den Habgier, Furcht und Mißgunst quälen oder verderben; dort ist er wahrhaft zusammen mit seinesgleichen in einem Elysium, das seine Vernunft sich zu erschaffen wußte und das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verklärt.[26]
Doch wenn die Geschichtsphilosophie Condorcets von bloßer Hoffnung getragen wäre, dann wäre für den Fortschritt, den er in den Titel seines Werkes stellt, nicht viel gewonnen. Hoffnungen können eitel, hilflos und vergeblich sein. Condorcet muß die Entwicklung der Geschichte von einer Generation zur anderen aus dem Kreislauf der Wiederholung oder „Repräsentation“[27] des Vergangenen herausziehen und zugleich einer vollständigen Deregulierung Einhalt gebieten, die die perfectibilité auf Abwege geraten lassen könnte. Der Schlüssel zu der Theorie, mit der sich Condorcet dieser Herausforderung stellt, verbirgt sich in einer Wendung, die in der gerade zitierten pathetischen Passage fast die unauffälligste ist: die „Betrachtung dieses Bildes“ (contemplation de ce tableau).
Kein Plädoyer, keine Kampfschrift will Condorcet liefern, sondern den Gang der Geschichte wissenschaftlich betrachten, an ihm eine Gesetzlichkeit entdecken, die kaum weniger gültig sein soll als die der Naturwissenschaften. Diese deskriptive Festlegung des Fortschritts mag am Ende auch zum Seelenfrieden Condorcets beigetragen haben; zunächst aber ergibt sie sich daraus, daß Condorcet meint, vom wissenschaftlichen Fortschritt her Schlüsse auf alle Lebenslagen ziehen zu können. „Wahrheit, Glück und Tugend“ sollen nicht in ein prekäres Wechselspiel geraten, ihre Einheit ist nach Condorcet vielmehr in der menschlichen Natur angelegt – und ihre Realisierung ist mit der Aufklärung unausweichlich geworden. Er deutet die perfectibilité als – auch moralische – Vervollkommnung der Menschheit.
Einer seiner kühnsten Gedanken hierzu findet sich in dem Fragment über Atlantis, das für das Ende des Esquisse vorgesehen war. Dort heißt es:
Wer weiß, [...] ob nicht eine Zeit kommen wird, in der unsere Bedürfnisse und Leidenschaften auf Willensentscheidungen nicht mehr Einfluß haben werden als wir dies heute schon bei unseren wissenschaftlichen Auffassungen sehen. Wird dann nicht jede Handlung, die dem Recht eines anderen zuwiderläuft, physisch unmöglich sein – so wie auch heute schon den meisten Menschen eine kaltblütig begangene Barbarei? [28]
Die – gelinde gesagt waghalsige – Hypothese von der „physischen Unmöglichkeit“ der Unmenschlichkeit läßt sich positiv und negativ deuten.
Auf der einen Seite verbindet Condorcet damit die Erwartung, daß man sich für den Fortschritt auf alle Menschen von Natur aus stützen könne. Für ihn, der sich doch selbst so gut zum Helden eignet, ist es deshalb eher ein schlechtes Zeichen, wenn eine Zeit auf Helden setzt. In einem Fragment zur „zehnten Epoche“ der Menschheitsgeschichte heißt es:
Glücklich das Volk, bei dem die guten Taten so alltäglich sind, daß sich keine Gelegenheit bietet, sie zu Großtaten zu erklären, und dessen Geschichte nicht mehr aus Akten des Heroismus besteht, weil alles, was ehrenhaft ist, einfach ist und weil die Irrwege, die die großen Opfer notwendig machen, dort unbekannt sind.[29]
Mit diesem Antiheroismus immunisiert Condorcet seine republikanische Idee gegen die Überschätzung der revolutionären Avantgarde.
Auf der anderen Seite leugnet Condorcet mit seiner Evolutionstheorie vom moralischen Fortschritt den Unterschied, der zwischen Natur- und Moralgesetz, zwischen der Deskription von Vorgängen und der Deutung von Handlungen besteht. Condorcet bemerkt im Esquisse zwar gelegentlich die Kluft, die zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschritt und moralischen Entwicklungen besteht:
Wir sehen, daß die Arbeiten der letzten Jahrhunderte viel für den Fortschritt des menschlichen Geistes bewirkt, aber nur wenig für die Vervollkommnung des Menschengeschlechts getan haben, viel für den Ruhm des Menschen, einiges für seine Freiheit, doch beinah noch nichts für sein Glück.[30]
Doch letztlich will Condorcet diese Kluft nicht wahrhaben und meint sie schließen zu können. So erklärt er lakonisch: „Der Fortschritt der Tugend [ist] immer zusammengegangen [...] mit dem Fortschritt der Aufklärung“.[31] Die Rechtfertigung für diese These ergibt sich bei Condorcet aus der Pa-rallele zwischen der Vernunft im Bereich des Handelns und im Bereich der Natur: Weil die Emanzipation das Handeln der Menschen der gesetzlichen Ordnung zugänglich macht, ist es im Prinzip aus eigener Einsicht steuerbar und läßt sich also gemäß selbstgesetzter Gesetze weiterentwickeln.
Es ist genau dieser Brückenschlag, der Condorcets Gegner in der Folgezeit besonders provozierte. Friedrich Schlegel, die wichtigste frühe Stimme zu Condorcet in Deutschland, verfaßte schon 1795 eine wohlwollende Rezension zum Esquisse, doch verwahrte er sich gegen eine Idee der Geschichte, die sich aus der Aufstellung und Befolgung von Gesetzen ergab; er sah vielmehr „sittliche und wissenschaftliche Bildung“ auseinanderklaffen.[32] Georg Lukács griff in Geschichte und Klassenbewußtsein Schlegels Kritik auf, um das handelnde „Subjekt“ vor naturwissenschaftlicher Vereinnahmung zu retten und es nicht zum „bloße[n] Auffassungsorgan von erkannten Gesetzmäßigkeitschancen“ zu erniedrigen.[33] In seiner Schrift Les illusions du progrès bezeichnete Georges Sorel, der Theoretiker des Aktivismus, Condorcets Suche nach Gesetzlichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung als „vollkommen lächerlich“[34] und beklagte, daß damit der Fortschritt gewissermaßen zur Fortbildungsveranstaltung erniedrigt werde. Daneben war Condorcet als Gegner seit jeher beliebt bei Gegenaufklärern wie de Bonald und de Maistre. Sie warfen ihm u.a. vor, er überschätze die moralische Veränderlichkeit der menschlichen Gattung; de Maistre bezeichnete ihn als den „vielleicht widerlichsten aller französischen Revolutionäre“.[35]
Ich habe bereits erwähnt, daß Condorcet die Möglichkeit des Fortschritts methodisch mit einer Angleichung natur- und sozialwissenschaftlicher Methoden verbindet: Die gesetzliche Ordnung, die er in der Natur erkennt, soll auch in der sozialen Welt zu errichten sein, die „allgemeinen Gesetze, welche die Erscheinungen im Universum bestimmen“, sollen nicht nur für die „Vorgänge der Natur“, sondern ebenso „für die Entwicklung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen [...] Gültigkeit haben“.[36] Das individuelle Handeln führt demnach in dem Maße zum „Fortschritt“, wie es von der Einsicht der Vernunft in jenes „Kalkül“ geleitet war, das auch auf die „moralischen und politischen Wissenschaften“ anwendbar sein soll.[37]
In seiner Rede anläßlich der Aufnahme in die Académie française weist Condorcet zwar darauf hin, daß im Bereich der „Moralwissenschaft“ kein außenstehender Beobachter zur Verfügung stehe, was die Suche nach der Wahrheit erschwere, doch dieser Einwand gegen die Fiktion vom unbeteiligten Beobachter in den Sozialwissenschaften hindert ihn nicht daran, hier wie dort „dieselben Methoden“ anzuwenden.[38] Im Bereich des sozialen Lebens kombiniert Condorcet eine gegen Veränderung immune Sphäre der Gesetze mit einer für Veränderung zugänglichen Sphäre, in der um die Einsicht in jene Gesetze gerungen wird. Diese zweite Sphäre ist der Schauplatz für den Kampf zwischen aufklärerischer Emphase und dogmatischer Reaktion. Sie ist entsprechend auch der Schauplatz für einen Fortschritt als fortlaufenden Erziehungsprozeß.
Bei diesem Prozeß scheint eine Suche nach ‚Vätern‘ in der Geschichte eigentlich müßig, denn statt um ein binäres Verhältnis zwischen Individuen (‚Vätern‘ und ‚Kindern‘) geht es bei dieser Erziehung um ein Verhältnis zwischen Individuen und Allgemeinheit: Der Fortschritt ergibt sich nach Condorcet aus dem Maß der Identifikation zwischen den Individuen und den Gesetzen, die für sie gelten. Entsprechend kann ein ‚Vater‘ (oder allgemein jemand, der für Erziehung oder Bildung zuständig ist) nur eine Mittler-Rolle spielen und einem Individuum bei jener Einsicht ins Allgemeine helfen. Ebendiese Lesart des Erziehenden als Mittler für das Allgemeine leitet Condorcet auch bei seinem Plädoyer für ein öffentliches Erziehungssystem, das auf die Aufgabe verpflichtet wird „nur Wahrheiten zu lehren“.[39]
So sehr diese Thesen den – bereits zitierten und vielfach aufgegriffenen – Einwand Friedrich Schlegels nahelegen, wonach Condorcet der besonderen Eigenart des Bildungsprozesses nicht gerecht wird, so sehr sie auch Charles Taylors Einordnung Condorcets in die „mechanistische“ oder „behavioristische“ Schule des französischen Materialismus rechtfertigen [40] – das Bild, das Condorcet bietet, ist doch nicht ganz eindeutig. Nach Emma Rothschild tritt der Philosoph als eine „incongruous“, „interstitial“ oder „disruptive figure“ auf.[41] Dies tritt auch bei seiner Konzeption des Erziehungssystems zutage: So wurde die Tatsache, daß dessen Schwerpunkt bei „Mathematik und Naturwissenschaften“ liegt, als Beleg dafür gewertet, daß sie das Paradigma eines „wissenschaftsbestimmten Lernens“ bilden.[42] Umgekehrt meinte Emma Rothschild, daß Condorcets Zurückhaltung bei der „politischen und moralischen Erziehung“ seinem Respekt vor der „Unabhängigkeit von Meinungen“ geschuldet sei: „Menschen sind“ nach Condorcets Pointe gegen La Mettrie und Helvétius „keine Maschinen“.[43] Ob Condorcet tatsächlich auf „Meinungen“ (die ja alles andere als „Wahrheiten“ sind) Wert legte, scheint mir allerdings fragwürdig: Wenn Rothschild sich auf Condorcets Kritik an einem Unterricht in „Verhaltensregeln“ beruft und daran erinnert, daß er Romane zur moralischen Bildung empfohlen habe[44], so kommt darin nicht ein Vorbehalt gegen „Regeln“ als solche zum Ausdruck, sondern eine Kritik an deren Vermittlung durch Indoktrination. Dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Zielsetzung, den Fortschritt durch die Einsicht der Individuen in quasi-naturwissenschaftlich gesicherte Gesetze voranzubringen.
Dazu soll nach Condorcet die art de la morale oder art social beitragen, die „darin besteht, den Menschen zu formen und die Dinge zu kombinieren, die bewirken, daß er seine wahren Interessen versteht“[45]. In dieser Auffassung kommen, wie ich meine, eine unhaltbare Vermischung verschiedener Typen von Gesetzen und eine einseitige Interpretation des Verhältnisses zwischen Individuen und Allgemeinheit zum Ausdruck. Die Zurückhaltung des ‚Vaters‘, der sich zum Wächter der Gesetze erklärt, läßt eine angemessene Beschreibung des Erziehungsprozesses ebensowenig zu wie die daran gebundene Theorie des Fortschritts.
IV. Condorcets Ratschläge an seine Tochter und der darin versteckte Montaigne
Wie sieht nun aber die Vater-Rolle aus, die Condorcet nicht metaphorisch, sondern praktisch auszufüllen versuchte? Seinem frühen Tod ist geschuldet, daß er seine Erziehungsziele nur in Projektionen für die Zukunft erwägen konnte. So besteht das Testament, das Condorcet im März 1794 abfaßte, fast ausschließlich aus Empfehlungen für Éliza[46]: Sie soll sich – so heißt es darin – in den „weiblichen Künsten“ üben, malen, zeichnen und lesen lernen sowie sich die englische Sprache aneignen. Hierzu soll sie sich u.a. an Thomas Jefferson wenden, mit dem Condorcet auf vielfältige Weise verbunden war.[47] Condorcet wünscht sich, daß Éliza im Geist der „Liebe zur Freiheit und Gleichheit“ erzogen werde, und empfiehlt ihr die Lektüre der Lettres sur la sympathie, die – wie bereits erwähnt – seine Frau als Ergänzung zu Smiths Theory of Moral Sentiments verfaßt hatte; auch seine eigenen Conseils finden in seinem Testament als Hilfe bei der „moralischen Erziehung“ der Tochter Erwähnung. Welchen Ton schlägt er in diesen in schweren Stunden verfaßten Conseils an?
Es wäre naheliegend, wenn sich Condorcet bei den Ratschlägen, die er seiner Tochter als Vermächtnis überläßt, von jener Auffassung leiten ließe, die er in seinen Schriften zur Erziehung und im Esquisse vertritt. Doch der Ton ist anders, als man ihn aus seinen sonstigen philosophischen, politischen und pädagogischen Schriften kennt. Natürlich wäre es abwegig, aus den unterschiedlichen Gattungen, denen der Esquisse einerseits, die Conseils andererseits angehören, auf eine Wende in Condorcets letzten Lebensmonaten zu schließen. Es sind die besonderen Umstände, die ihn von der Betrachtung zum Ratschlag führen. Und doch wird daran indirekt das Ungenügen erkennbar, das an Condorcets Analyse des Fortschritts qua Einsicht in Gesetze bleibt.
Ich zitiere zunächst einige Auszüge aus Condorcets Ratschlägen an seine Tochter. Wenn diese ungewöhnlich lang ausfallen, so liegt dies nicht nur darin begründet, daß dieser Text kaum bekannt ist, sondern auch darin, daß ich einen Eindruck von der Stimmung, von der sie getragen sind, vermitteln möchte. – Zunächst befaßt sich Condorcet mit dem Junktim von Arbeit und Unabhängigkeit[48]:
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In welcher Lage du auch sein magst, wenn du diese Zeilen lesen wirst, die ich fern von dir schreibe, unberührt von meinem eigenen Schicksal, besorgt nur um deines und das deiner Mutter: Denke daran, daß dir nichts deren Fortdauer garantiert. Mach dir die Arbeit zur Gewohnheit, nicht nur, um dir selbst ohne fremde Hilfe genug zu sein, sondern auch, um damit für deine Bedürfnisse aufkommen zu können. So magst du zwar in die Armut zurückgeworfen werden, wirst dadurch aber nicht in Abhängigkeit geraten. Selbst wenn du jene Fähigkeit nie aus Not wirst ausüben müssen, so wird sie dir doch wenigstens dazu dienen, dich vor Furcht zu bewahren, deinen Mut zu stärken und mit festerem Auge den Schicksalsschlägen entgegenzublicken, die dich bedrohen könnten. [...] Wenn du nicht für dich allein bestehen kannst, wenn du anderer bedarfst, um der Langeweile zu entgehen, so wirst du dich notgedrungen auch deren Neigungen, deren Wünschen ausgeliefert sehen – also dem Zufall. [...] Nichts ist also notwendiger für dein Glück, als daß du dir Mittel sicherst, die allein von dir abhängig sind, um damit die Leere der Zeit auszufüllen, die Langeweile zu vertreiben, die Ungeduld zu besänftigen und dich von einem unangenehmen Gefühl abzulenken. [...] Glaube aber nicht, daß Begabung und Befähigung, diese Gaben der Natur, die vielleicht mehr von unserer Veranlagung abhängen als von der Erziehung oder unseren eigenen Willensanstrengungen, notwendig seien, um den Weg zum Glück zu finden. Wenn dir jene Gaben verweigert worden sind, so suche in weniger glanzvollen Beschäftigungen ein nützliches Ziel. Es wird deren Wert in deinen Augen erhöhen, sein Reiz wird ihnen alle Abgeschmacktheit nehmen. [...] Aber ob die Natur dich nun benachteiligt oder begünstigt hat, vergiß niemals, daß die Freude an der Betätigung dein Ziel sein muß. Diese Freude, deren Frucht die Unabhängigkeit ist, kehrt alle Tage wieder, sie schützt vor Langeweile und bewahrt vor diesem vagen Abscheu vor der Existenz, dieser Stimmung ohne Anhaltspunkt, dem Unglück eines Lebens, das sonst friedlich und begünstigt sein mag.
Im Anschluß daran wendet sich Condorcet den Beziehungen zu anderen Menschen zu und beschreibt eine Balance zwischen Zuwendung und Eigenständigkeit:
Wenn dir gute Taten und zärtliche Neigungen zur Gewohnheit werden, so liegt darin die reinste, unerschöpflichste Quelle des Glücks. Sie schafft ein Gefühl des Friedens, eine Art süßer Wonne, die mit ihrem Reiz auf alle Beschäftigungen, gar die bloße Existenz ausstrahlt. Übe dich auch rechtzeitig in Wohltätigkeit, aber einer Wohltätigkeit, die von der Vernunft aufgeklärt und von der Gerechtigkeit geleitet ist. Gib niemals nur deshalb, um dich vom Schauspiel des Elends und des Schmerzes zu befreien, sondern um dich mit der Freude zu trösten, sie gelindert zu haben. Beschränke dich nicht darauf, Geld zu geben; lerne es, auch deine Fürsorge zu schenken, deine Zeit, deine Einsichten und jene tröstende Zuneigung, die oft wertvoller ist als milde Gaben. [...] Vergiß niemals, daß derjenige, der empfängt, von Natur aus dem gleich ist, der gibt, daß alle Unterstützung, die Abhängigkeit nach sich zieht, keine Gabe mehr ist, sondern ein Geschäft, und daß sie, wenn sie demütigt, zur Beleidigung wird. Freue dich der Gefühle der Menschen, die du lieben wirst; vor allem aber freue dich deiner eigenen. Kümmere dich um ihr Glück, und deines wird der Lohn davon sein. [...] Beschränke dich nur nicht auf jene tiefen Gefühle, die dich an eine kleine Zahl von Menschen binden könnten. Laß in deinem Herzen zarte Neigungen entstehen zu all den Menschen, die dir von den Ereignissen, den Lebensgewohnheiten, deinen Vorlieben und Beschäftigungen nahegebracht werden. [...] Diese Gefühle entlasten und beruhigen die Seele, wenn sie zuzeiten von zu heftigen Neigungen ermüdet und verstört wird. Sie bewahren vor Fehlern und Übeln, indem sie allzu besitzergreifende Empfindungen abwehren, deren Übermaß uns in Gefahr bringen könnte. Das Schicksal kann uns unsere Freunde, unsere Eltern, all das, was uns am teuersten ist, entreißen. Wir können dazu verdammt sein, sie zu überleben oder auch über ihre Gleichgültigkeit oder Ungerechtigkeit seufzen. Wir können sie durch niemanden ersetzen; unsere ganze Seele sträubt sich dagegen. So werden auch jene in gewisser Weise zweitrangigen Gefühle die Lücke, die sie hinterlassen, nicht ausfüllen, doch immerhin verhindern, daß man deren ganzen Schrecken zu spüren bekommt. Sie bieten keine Wiedergutmachung, noch nicht mal Trost. Aber sie machen die Spitze des Schmerzes stumpf, besänftigen die Klagen, helfen der Zeit dabei, sie in eine gewohnheitsmäßige, befriedete Traurigkeit zu verwandeln, die schon fast ein Vergnügen darstellt für die Seelen, welche für glücklichere Empfindungen unzugänglich geworden sind. Die zarte Empfindsamkeit, die eine Quelle des Glücks sein kann, hat ihren ersten Ursprung in dem natürlichen Gefühl, das uns den Schmerz jedes empfindsamen Wesens teilen läßt. Bewahre also dieses Gefühl in seiner ganzen Reinheit, in seiner ganzen Kraft. Es sollte nicht auf die Leiden der Menschen beschränkt sein; menschlich solltest du dich selbst zu Tieren verhalten.
Abschließend spricht Condorcet über die Wahrung der eigenen moralischen Grundsätze, den Kampf gegen falsche Unzufriedenheit und die individuelle Selbstbehauptung:
Fürchte den falschen Enthusiasmus der Leidenschaften. Dieser entschädigt niemals für Gefahr oder Unglück, die sie mit sich bringen. Man kann nicht immer Meister darin sein, sein Herz zu überhören, aber doch wenigstens darin, es nicht weiter anzustacheln – und darin liegt der einzige taugliche Ratschlag, den die Vernunft dem Gefühl geben kann. Mein Kind, man ist auf einem der sichersten Wege zum Glück, wenn man seine Selbstachtung bewahren und sein ganzes Leben betrachten kann, ohne Scham und Reue zu empfinden, ohne in ihm eine niedrige Handlung zu entdecken, ein Unrecht oder einen Schaden, den man jemandem zugefügt und nicht wiedergutgemacht hätte. [...] So wird sich ein angenehmes, reines Gefühl in deiner ganzen Existenz ausbreiten. Mit tröstendem Zauber überstrahlt es die Momente, in denen sich die Seele, von jedem lebendigen Eindruck, jeder eigenen Idee verlassen, matten Träumereien hingibt und gemächlich in den Erinnerungen an die Vergangenheit herumirrt. [...] Freue dich deines Lebens, ohne es je mit dem eines anderen zu vergleichen. Fühle, daß du gut bist, ohne je zu prüfen, ob die anderen es ebenso sind wie du. [...] Wenn du dir wünschst, daß die Gesellschaft mehr Freude und Trost als Kummer und Bitternis über deine Seele bringt, so bleibe nachsichtig und schütze dich vor der Wesensart, die alles Wohlempfinden zerstört, wie vor einem Gift. Nachsicht ist nicht jenes Vermögen, das als Abkomme der Gleichgültigkeit und der Gedankenlosigkeit alles nur deshalb verzeiht, weil es einfach nichts wahrnimmt und fühlt. So wie ich Nachsicht verstehe, gründet sie auf Gerechtigkeit und Vernunft, auf der Einsicht in die eigene Schwäche und die glückliche Gabe, die uns andere Menschen eher bedauern als verurteilen läßt. [...] Die Wesensart, vor der ich dich gern bewahren würde, ist nicht die Veranlagung, sich ohne Ablenkung, ohne Unterlaß mit den eigenen Bedürfnissen zu befassen und ihnen die Bedürfnisse und Rechte, überhaupt das Glück anderer zum Opfer zu bringen. Dieser Egoismus ist unverträglich mit jeder Art von Tugend oder auch nur irgendeinem ehrbaren Gefühl. Ich wäre zu sehr im Unglück versunken, wenn ich glauben könnte, daß ich dich davor bewahren müßte. Ich spreche vielmehr von der Wesensart, die uns in den Wechselfällen des Lebens alles auf die Interessen unserer Gesundheit und Bequemlichkeit, unserer Vorlieben und unseres Wohlbefindens beziehen läßt. Sie läßt uns in gewisser Weise immer in der Gegenwart unserer selbst verharren, nährt sich von kleinen Opfern, die sie anderen abverlangt, ohne dieses Unrecht zu spüren, ja fast ohne darum zu wissen. [...] Jenes Laster vertreibt das Wohlwollen, läßt die Freundschaft verkümmern und erkalten. Man ist unzufrieden mit den anderen, deren Selbstverleugnung nie vollkommen genug sein kann. Man ist unzufrieden mit sich, weil eine vage und gegenstandslose Stimmung sich zu einem hartnäckigen und unangenehmen Gefühl entwickelt, von dem loszukommen man nicht mehr die Kraft hat. Wenn du dieses Unglück vermeiden willst, dann laß das Gefühl für Gleichheit und Gerechtigkeit zu einer Gewohnheit deiner Seele werden. [...] So wirst du entdecken, daß es im alltäglichen gesellschaftlichen Leben süßer, auch, wenn ich so sagen darf, leichter ist, für den anderen zu leben, und daß man auch nur dann wahrhaft für sich selbst lebt.
Man tut sich schwer, die Ratschläge, die Condorcet an seine Tochter richtet, zu sezieren und zu bewerten. Zu zärtlich ist der Ton, zu schutzlos ist die Trauer des Autors darüber, daß er wohl nicht mehr erfahren wird, wie sie eines Tages aufgenommen werden. Zu wählerisch wirkte man, würde man an diesem Text das, was gut gemeint, schön ausgedrückt oder klar gesagt ist, voneinander scheiden wollen.
Wenn man die Kette sanfter Imperative, die sich durch diesen Text zieht, durch die Hände gleiten läßt, dann spürt man: Condorcet will seiner Tochter eine Lebenshaltung ans Herz legen, die zum Schutz gegen die Wirren der Zeit taugt: Der Optimismus ist der Defensive gewichen. Zu unwirtlichen Zeiten paßt der Appell für Berufstätigkeit und Arbeit, die der Selbsterhaltung, aber auch der praktischen Erfüllung dienen. Doch Condorcets Ratschläge taugen auch für eine weniger unwirtliche Welt, denn gerade dann bedarf es besonderer Fähigkeiten, um die sozialen Ablenkungen und Anregungen, die gleichfalls die eigene Selbständigkeit anfechten, zu bestehen. Daß er gerade einem Mädchen solche Selbständigkeit empfiehlt, sollte übrigens nicht als Selbstverständlichkeit abgetan werden: Bekanntlich war Condorcet einer der ganz wenigen Revolutionäre, die sich entschieden für die Gleichberechtigung der Frau einsetzten; die Ehe mit Sophie hat ihn dabei offenbar stark geprägt.[49] 1790 forderte er die Zulassung der Frauen im politischen Raum, und in seinen Entwürfen zum Esquisse sprach er unmißverständlich von der „völligen Rechtsgleichheit“, die den „Individuen beider Geschlechter“ zustehe.[50]
Die individuelle Selbstbehauptung wird von Condorcet nicht gegen die Sozialität ausgespielt, sondern soll nur gelingen können, wenn man sich mit anderen auslebt; die Formen, die dieses Leben findet, stützen sich nach Condorcets nuancierter Darstellung auf ein Spektrum von Tugenden, das vom Mitleid über die Nachsicht, das Wohlwollen und die Liebe bis zum Gerechtigkeitssinn reicht. In dem Versuch, Autonomie und Gemeinschaftlichkeit zu verbinden, bleibt Condorcet Rousseau treu; dieser Versuch hat bekanntlich ein Echo, das noch in den aktuellen Debatten der Sozialphilosophie nachhallt.
Das Entscheidende an den Conseils läßt sich aus meiner Sicht in einem Punkt zusammenfassen: Das Verhältnis zwischen der allgemeinen Ordnung und dem Individuum, das hier beschrieben wird, ist weit prekärer und spannungsvoller als man dies nach der Lektüre des Esquisse erwarten würde. Nun, da ihm seine unter widrigen Umständen aufwachsende Tochter vor Augen steht, spricht er nicht von der Einsicht in Gesetze, mit der das Individuum einen Beitrag zum sicheren Fortschritt leistet; er beschreibt vielmehr eine mühsam zu findende und vorsichtig zu wahrende Balance zwischen dem Schutz vor Anfechtungen und der Bereitschaft, sich auf die Welt einzulassen.
Der Kontrast zu anderen Aussagen Condorcets, in denen er über die Jugend spricht, ist durchaus markant. Erinnert sei etwa an das, was er anläßlich seiner Aufnahme in die Académie Française im Jahre 1782 gesagt hat:
Die Fortschritte, die von nun an durch nichts mehr aufgehalten oder ausgesetzt werden können, werden keine anderen Grenzen haben als die Dauer des Universums. [...] In dem Maße wie sich die Aufklärung ausbreitet, werden sich die Unterrichtsmethoden vervollkommnen [...]. Ein junger Mensch, der unsere Schulen verläßt, verfügt über mehr wirkliche Kenntnisse, als sie eines unserer größten Genies in langer Arbeit hätte erwerben können [...]. Jederzeit sieht der menschliche Geist vor sich einen unbegrenzten Raum. Was er aber in jedem Augenblick hinter sich läßt, was ihn von der Zeit seiner Kindheit trennt, wächst ohne Unterlaß [...]. Denken Sie daran, daß die Aufklärung die Tugend leicht gemacht hat, daß die Liebe zum allgemeinen Wohl und der Mut, sich dafür einzusetzen, dem aufgeklärten Menschen gewissermaßen zur Gewohnheit geworden ist.[51]
Müßte man das Bild der Lebensführung, das Condorcet für Éliza entwirft, grob zuordnen, so würde man sagen, daß in ihm weniger dessen eigene Theorie der Geschichte und Erziehung zum Ausdruck kommt als eine Philosophie ganz anderer Art: Viel eher fühlt man sich erinnert an Michel de Montaigne, also – wiederum grob gesagt – an eine im Lichte der Moderne reformulierte stoische Lehre der Individualität.
Dessen Devise lautete – kurz und knapp –: „La plus grande chose du monde c’est de sçavoir estre à soy“.[52] Das Höchste, was zu erreichen ist, bezeichnet Montaigne als ‚Beisichselbersein‘ – und dies ist eben der Zustand, den Condorcets Ratschläge beharrlich umschreiben. Die erfüllte Tätigkeit, die Anpassung des Lebens an die ihm jeweils gesetzten Bedingungen, die Balance der Gefühle, die Kunst des sozialen Lebens, die darauf basiert, daß man mit sich selbst auskommt, die Unabhängigkeit des Individuums und sein innerer Friede – all dies sind Motive, mit denen Condorcet Bekanntes aufgreift. Es wäre ein Leichtes, weite Teile der Ratschläge an seine Tochter mit Passagen aus Montaignes Essais zu rekonstruieren. Damit wird nicht behauptet, es gebe hier einen strikten Wirkungszusammenhang; Montaigne steht für eine Reihe verwandter Autoren, in die sich nun auch Condorcet einfügt – zwar nicht mit seiner Geschichtsphilosophie, wohl aber mit den Conseils. Der Zwiespalt, der bei Condorcet – jedenfalls, wenn die Conseils einbezogen werden – zum Ausdruck kommt, darf beim Vergleich mit den anderen französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts als Vorzug gewertet werden.
Man kann die Verbindung zu Montaigne, auf die man am Rande von Condorcets Werk stößt, in einen weiteren Kontext stellen – nämlich unter Rückgriff auf Stephen Toulmins Überlegungen zu einer zweigleisigen Moderne, die einerseits auf Descartes, andererseits eben auf Montaigne zurückgeht:
Zum Eröffnungsgambit der modernen Philosophie wird dann nicht der dekontextualisierte Rationalismus von Descartes’ Abhandlung und Meditationen, sondern Montaignes Wiederaufnahme der klassischen Skepsis in der ‚Apologie‘ mit allen ihren Vorwegnahmen von Wittgenstein. Montaigne und nicht Descartes spielt Weiß; die Argumente Descartes’ sind die Antwort von Schwarz auf diesen Zug.[53]
Toulmin meint, daß die Linie Montaignes in den folgenden Jahrhunderten zwar verwischt wurde, aber bis heute nicht abgerissen ist, vielmehr als Aufmerksamkeit für das „Besondere“ und „Zeitgebundene“ gegenüber der Fixierung auf das Allgemeine neue Beachtung verdient. Die Theoretiker der Französischen Revolution schlägt Toulmin freilich der anderen Seite, der cartesischen Schule zu. Diese Zuordnung paßt auch glatt auf Condorcet – wenn, ja wenn da nicht die Ratschläge an seine Tochter wären, mit denen er dazu beiträgt, daß die von Toulmin beschriebene und geschätzte Zweigleisigkeit der Moderne auch inmitten der Französischen Revolution nicht ganz in Vergessenheit gerät.
In den Conseils setzt sich bei Condorcet, anders gesagt, der tatsächliche gegen den metaphorischen Vater durch. Hier kommt nicht der Optimismus einer Neuschöpfung der menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck, für die man die metaphorische Rolle des Erzeugers oder eben Vaters simuliert; vielmehr sind die Conseils ein Dokument besorgter Ungewißheit über den individuellen Lebensgang. Ebendiese Ungewißheit oder Zurückhaltung findet sich auch bei Montaigne, der sowohl die Souveränität des Schöpfers im Verhältnis zu seinen Werken in Zweifel zieht wie auch die Herrschaft des Vaters über seine Kinder: Beide entziehen sich, so meinte Montaigne, seiner „Verfügung“.[54] Auch bei Condorcet geht es um einen Lebensentwurf im Zeichen der Ungewißheit. Die Ausübung einer herrischen Vaterrolle würde er sich selbst verbieten, wenn sie ihm die Zeitumstände nicht sowieso schon verwehrt hätten. Erfüllt von der Zuneigung zu seinem Kinde will er sich um dessen Glückes willen nicht auf einen vermeintlich unaufhaltsamen Gang der Aufklärung verlassen.
Condorcets Tochter Éliza heiratete 1807, mit siebzehn Jahren, den vierzigjährigen General Arthur O’Connor, der zuvor als Aufständischer aus Irland geflohen war und in napoleonischen Diensten auf die Revolution in seiner Heimat hoffte. Drei Kinder, die das Paar hatte, starben früh. O’Connor erwarb sich später Verdienste als Mitherausgeber der Werke seines Schwiegervaters. Ob Éliza die Selbständigkeit und Weltoffenheit erlangen konnte, die der Vater ihr empfohlen hatte und die ihr von der Mutter, die 1822 starb, vorgelebt wurde? Ich weiß es nicht.
[1] Jean Paul (1975), Bd. 11, 344; vgl. Behler (1989), 244.
[2] Berlin (1992), 146; Berlin (1995), 250.
[3] Für die biographischen Angaben stütze ich mich hier wie auch sonst auf die ausführliche Darstellung von Badinter/Badinter (1990).
[4] Zit. nach Badinter/Badinter (1990), 694.
[5] Vgl. Condorcet (1847-1849), Bd. 1, 611-623.
[6] Ich habe vor einigen Jahren die erste deutsche Übersetzung dieses Textes vorgelegt: Condorcet (1998); vgl. auch Thomä (1992), 147ff.; Thomä (1998), 69ff.
[7] Vgl. mit Hinweis auf Hauréau: Koselleck (1979), 70.
[8] Koselleck (1975), 373f.
[9] Fontenelle (1989), 254f.
[10] Turgot (1990), 140.
[11] Rabelais (1974), Bd. 1, 217 (Übersetzung geändert, D.Th.); vgl. Davis (1986), 8.
[12] Ariès (1978), 93, 559.
[13] Zit. nach Ariès (1978), 504f.
[14] Fontenelle (1989), 243, 248, 250.
[15] Vgl. Boissel (1988); Marko (1993), 290ff.; Forget (2001).
[16] Smith (1994), 398, 277 (Übersetzung geändert, D.Th.); vgl. Rothschild (2001), 218ff.
[17] Vgl. Günther (1994); Neiman (2004).
[18] Vgl. Koselleck (1975), 375ff.; Behler (1989), 103ff.
[19] Novalis (1987), 509.
[20] „Die Freiheit entbindet sich von der Bevormundung durch den Vater, die Gleichheit zerstört den Respekt vor der Leistung der Vorfahren, und die Brüderlichkeit läßt nur noch eine Verwandtschaftsbeziehung zu, diejenige innerhalb derselben Generation“; Lenzen (1991), 174f.
[21] Vgl. Robespierre (1989), 685, 691.
[22] Tocqueville (1969), 7.
[23] Vgl. Koselleck/ Reichardt (1988); Bohrer (1989); Meinzer (1992); Becker (1999).
[24] Zit. nach Koselleck (1979), 61.
[25] Zur Kritik an den entsprechenden Ambitionen der sowjetischen Avantgarde vgl. z. B. Groys (1996), 64; zu Sergej Eisensteins Kritik am „Demiurgen“ Goebbels vgl. aber Thomä (2006), Kap. 1.3; allgemein zum „neuen Menschen“ vgl. Thomä (2003).
[26] Condorcet (1976), 221f.
[27] Vgl. Rabelais (1974), Bd. 1, 217.
[28] Condorcet (1847-1849), Bd. 6, 628 (Hervorhebung von mir, D.Th.).
[29] Condorcet (1847-1849), Bd. 6, 596.
[30] Condorcet (1976), 189.
[31] Condorcet (1976), 78.
[32] Schlegel (1970), 232ff.; vgl. Behler (1989), 103ff., 265-280; Bohrer (1989), 136.
[33] Lukács (1983), 238, 260.
[34] Sorel (1908), 159.
[35] Vgl. Rothschild (2001), 187; Berlin (1992), 123ff.; Lepenies (1971), 84ff.
[36] Condorcet (1976), 345, 361; vgl. Schepp (1991), 161.
[37] Condorcet (1847-1849), Bd. 1, 539 (Tableau général de la science qui a pour objet l’application du calcul aux sciences politiques et morales).
[38] Vgl. Condorcet (1847-1849), Bd. 1, 392.
[39] Zit. nach Schepp (1991), 166; ein ähnliches Plädoyer findet sich übrigens auch in der Smith-Interpretation von Condorcets Frau Sophie; vgl. Forget (2001), 335.
[40] Taylor (1978), 23.
[41] Rothschild (2001), 197, 203, 213.
[42] Schepp (1991), 167.
[43] Zit. nach Rothschild (2001), 199.
[44] Rothschild (2001), 200.
[45] Condorcet (1847-1849), Bd. 6, 516, 531.
[46] Condorcet (1847-1849), Bd. 1, 624f.
[47] Vgl. Darnton (1997); Thomä (2002).
[48] Vgl. für das Folgende insgesamt Condorcet (1998), 56-68.
[49] Vgl. Badinter/Badinter (1990), 256ff., 333ff.
[50] Condorcet (1847-1849), Bd. 10, 119ff. (Sur l’admission des femmes au droit de cité); Condorcet (1847-49), Bd. 6, 631 (Fragment sur l’Atlantide).
[51] Condorcet (1847-1849), Bd. 1, 391, 395.
[52] Montaigne (1962), 236 (De la solitude).
[53] Toulmin (1991), 79.
[54] Montaigne (1962), 383; vgl. Davis (1986), 115.
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