Editorial

Barbara Naumann

Lear: „[...] I am a king, My masters, know you that?“
Gentleman: „You are a royal one, and we obey you.“
(Shakespeare, King Lear, IV, 6)

Die großen Väter waren niemals nett. Väter wie Ödipus und King Lear sind ungeduldig, mürrisch, zornig. Ödipus wird von seinem Jähzorn überwältigt und führt dadurch seinen Untergang herbei; Lear wendet sich rasend gegen seine eigene Tochter Cordelia, sein „Herz“, und beschädigt dadurch sein Ich. Freilich gab es eine Ausnahme: Der biblische Vater Abraham nahm alle freundlich auf in seinen Schoß – und zeigte damit auch den Grund seiner Menschenfreundlichkeit: Er war ein Ahnherr mit mütterlichen Qualitäten. Hingegen blieb Thomas Manns Konsul Johann Buddenbrook kühl noch in der wohlmeinendsten Stimmung; Charles Bovary war finster, gefühlskalt und inhibiert. An Muffigkeit und Misanthropie übertraf Alfred Tetzlaff aus der Familienserie Ein Herz und eine Seele noch jeden; selbst der pummelige Tollpatsch Heinz Erhard gab den Vater im Film mit einer sich selbst abgetrotzten Strenge. Ohne dieses Mürrisch-sein-Wollen war Vaterschaft kaum denkbar. Väter, auch die liebenswürdigsten, übten Gesetz und Macht im Ernst aus, jenem Ernst, der von Strenge und Härte kaum zu unterscheiden war. Die Verantwortung, die Belastungen der Vaterschaft führten die Väter regelmäßig in die launige, mürrische Dissonanz mit sich selbst, die depressive Seite der Aggression.
Anders sehen die sogenannten neuen Väter aus. Liebevoll, warm und mit Hingabe umhegen sie das Kind. Ihre Bestätigung der erfolgreichen Vaterschaft ziehen sie aus dem Glück und Erfolg des Kindes, nicht aus seinem bloßen Dasein. Deshalb leiden sie, sollte das Kind ihnen gegenüber einmal ablehnend sein; früher hatte dies eher als Bestätigung ihrer Autorität gegolten. Die ödipale Reizbarkeit hat dem Wunsch nach Sanftmut Platz gemacht. Zwar geht das selten so weit wie bei jenem Vater, den die Trauer über das Unvermögen, seinen kleinen Sohn zu stillen, an den Rand der Depression brachte. Versuche mit einer Brustprothese, in die man die Muttermilch füllte, scheiterten an der Sensibilität und Unterscheidungsfähigkeit des Säuglings. Diesem Vater konnte eine ganze Weile nur mit einer Gesprächstherapie geholfen werden.
Vaterkonzepte sind in Bewegung geraten, das ist offensichtlich und betrifft längst nicht mehr nur die Mittel- und Oberschichten. Mit lauter Stimme fordern Väter ihr Recht auf Kindsbetreuung auch nach der Trennung von der Partnerin und Kindesmutter ein. Das Gesetz, das ihnen einst die Freisetzung von Fürsorgepflichten ermöglichte, ist mit dem gesellschaftlichen Wandel ins Wanken gekommen. „Pater semper incertus“: Über Jahrtausende war dies nicht nur ein beklagter Umstand, im Gegenteil. Manch einer hat sich mit der Gewißheit des Ungewissen fröhlich pfeifend aus dem Staube gemacht. Da heute mit Hilfe der neuen Technologien die genetische Elternschaft eindeutig identifizierbar ist, kann die Feststellung der Vaterschaft von beiden Eltern repressiv instrumentalisiert werden. Und hier zeigt sich womöglich eine neue Unerbittlichkeit der Väter: Genau wissen zu wollen, woran sie in genetischer Hinsicht sind. „Pater certus est“, denn Familienbande können auch da genetisch nachgesponnen werden, wo sie emotional und sozial schon längst zerfasert sind. Mütter erfahren nicht selten das von den Vätern wahrgenommene Recht, die Vaterschaft festzustellen, als Zwang oder als Bedrohung, denn am dünnen Faden des genetischen Nachweises hängt die väterliche Pflicht zum Unterhalt – oder die Befreiung davon.
Wenn viele moderne fürsorgliche, sanfte Väter statt patriarchaler Strenge mütterliche Wärme zeigen, dann fragt es sich, welches Schicksal das Gesetz des Vaters haben wird. Hat es sich in das bloße Recht der jederzeit eindeutig feststellbaren Vaterschaft verflüchtigt? Wird die neue väterlich-mütterliche Liebe vornehmlich an die Weitergabe der eigenen Gene geknüpft? Oder übernehmen die erwerbstätigen, die selbständigen Mütter nolens volens mehr von der Gesetzesrolle, jener Leit- und Orientierungsfunktion für Macht, Hierarchie, Abhängigkeit und Freiheit, die bis vor kurzem allein den Vätern oblag? Haben die Kinder der neuen Väter vielleicht eher zwei mütterliche Bezugspersonen als Elternpaar? Verschwindet das von Freud als zentrale kulturelle Kategorie erkannte Drama des ödipalen Gesetzes zur Gänze? An welchen Widerständen und Kanten stößt sich das kindliche Ich ab? Und wo erfährt der kindliche Narzißmus seine Grenzen?
Offensichtlich sind mit dem gesellschaftlichen Wandel der Geschlechterbeziehungen die Vater- wie Mutterkonzepte in Bewegung geraten. Das nächste
figurationen-Heft, in gasteditorischen Händen von Gesine Palmer, wird deshalb dem Thema Mutterkonzepte / Motherhood gewidmet sein.
Unser herzlicher Dank für die Befassung mit den Vätern geht an die Gasteditorinnen Marion Heinz und Friederike Kuster.


Zürich, im November 2005

vater