Editorial
Unter Reproduktion kann man ein übergreifendes Moment verstehen, der verschiedenen Verwendungen des Begriffs und seiner unzähligen Kontexte zum Trotz: Reproduktion ist der Versuch, dem Gesetz der Endlichkeit zu entkommen. Die Spannweite des Begriffs mag illustrieren, daß Reproduktion ebenso im biologischen, etwa auf die Erhaltung einer Gattung bezogenen Sinne relevant ist wie auch im Bereich ästhetischer Darstellungen bzw. der Kunst überhaupt. Nicht selten entfaltet sich Reproduktion in beiden Sphären in einem dynamischen Spiel von Identität und Abweichung. So wird durch die Reproduktion der Gattung die individuelle Endlichkeit aufgehoben, ohne daß dies freilich das Problem des individuellen Endes lösen könnte. Reproduktion im Sinne der Wiederholung ist aber ebenso die Grundlage jeder Sprachhandlung, jeder sozialen Interaktion und vieler ästhetischer Prozesse.
Daß die Vorstellung einer identischen Reproduktion ein rein ideelles Konstrukt darstelle, war zumindest in Philosophie und Kunst bis in die jüngste Zeit eine weithin akzeptierte Vorstellung. Seit der Erfindung der verlustfreien digitalen Datenkopie und seit dem viel beachteten Auftritt des Klonschafs Dolly (†) haben sich aber die Perspektiven auf die Reproduktion in einem geschlechterbezogenen wie auch in einem viel allgemeineren Sinne verschoben. Einerseits scheint die Diskussion und Kritik der klassischen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung der familiären Reproduktion – die Frau verantwortlich für die Kinder und deren Erziehung, der Mann verantwortlich für die materiellen Grundlagen der Familie – immer noch notwendig und brisant. Andererseits stellt sie angesichts veränderter Familienformen und dem Fortschritte der Gentechnologie und Reproduktionsmedizin mit ihrer potentiellen Trennung von Körper, Geschlecht und Fortpflanzung, vor allem aber angesichts der Möglichkeit eines menschlichen Selbstentwurfs auf genetischer Ebene, einen Anachronismus dar. Kann zwischen diesen Problemen überhaupt eine Verbindung gezogen werden? Welche neuen Konstellationen zwischen Geschlecht und Reproduktion müssen bedacht werden, und welche ethischen Implikationen hat dies? Offensichtlich ist die Ungleichzeitigkeit und Ungleichwertigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und auch ästhetisch-künstlerischen Aspekte der Reproduktionsdebatte. Die Artikel dieses Heftes versuchen, angesichts dieser Situation klärend einzugreifen, indem sie die Begründungsmuster und Geltungsansprüche aktueller und historischer Reproduktionsvorstellungen ausloten und deren Konsequenzen für das Geschlechterverhältnis aufzeigen.
Unser herzlicher Dank für die Gastedition dieses Heftes geht an die Professorinnen Andrea Maihofer und Regine Wecker, beide Universität Basel.
Zürich, im November 2003