„Va banque!“
Das Spiel der Moderne bei E.T.A. Hoffmann
The music started and stopped, then started again, then stopped again, and yet through it all the piece continued to advance, pushing on toward a resolution that never came.
Paul Auster, The Music of Chance [1]
Johan Huizingas idealer homo ludens würfelt nicht. – Der nieder-ländische Kulturhistoriker beschreibt zwar in seiner berühmten Studie von 1938 neben vielen anderen Spielen auch Glücksspiele. Seine deskriptive Annäherung an den „Ursprung der Kultur im Spiel“ [2] läßt aber einen normativen homo ludens erkennen, der nicht würfeln sollte, denn die Hazardspiele „bringen dem Geist und dem Leben keinen Gewinn“. [3] Wenn sie einen Gewinn bringen, ist es höchstens ein materieller. Gerade dieser ökonomische Aspekt ist für Huizinga allerdings ein weiteres Argument zur Abwertung oder gar Ausgrenzung des Glücksspiels, denn an Spiele dürfe „kein materielles Interesse“ geknüpft sein. [4] Die Problematik einer solchen Grenzziehung zwischen Ökonomie und Spiel ist besonders ausgeprägt in Huizingas kulturpessimistischen Ausführungen zur einsetzenden Professionalisierung des Sports im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. [5] Sie ist aber auch offenkundig in der Auseinandersetzung mit dem Glücksspiel, das fast immer eine ökonomische Komponente hat und beispielsweise als Phänomen „demonstrativen Konsums“ [6] zuweilen ein konstitutives Element in einer „Ökonomie der Verschwendung“ [7] war und ist.
Wie unangemessen Huizingas moralisierender und normativer Spielbegriff sein kann, ergibt sich, bezogen auf das 18. Jahrhundert, bei einem Blick in die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. Der Artikel Jouer beginnt dort mit einer allgemeinen Definition: „JOUER, [...] il se dit de toutes les occupations frivoles auxquelles on s’amuse ou l’on se délasse, mais qui entraînent quelquefois aussi la perte de la fortune & de l’honneur.“ [8] Auffallend an dieser ersten Bestimmung ist der nachgeschobene adversative Nebensatz, durch den ziemlich drastisch die im Hauptsatz festgeschriebene Absetzung des Spielens von allen ernsthaften Handlungen dementiert wird. Die Symmetrie zwischen den Gegenbegriffen von „Spiel“ und „Ernst“ erweist sich als bloße Schein-symmetrie, denn das Spiel, durch das man „Vermögen und Ehre“ verlieren kann, ist eine ernste Angelegenheit. Ganz offensichtlich kann der „Ernst“ als „Nicht-Spiel“, nicht aber das „Spiel“ als „Nicht-Ernst“ beschrieben werden. [9] Könnte man diese Asymmetrie hier noch mit dem Hinweis auf das relativierende „quelquefois“ abschwächen, so wird spätestens bei der Leitdefinition zum ersten und mit Abstand umfangreichsten Unter-abschnitt des entsprechenden Artikels deutlich, daß Spielen, in seiner wichtigsten Bedeutung, zwar nicht zwingend mit dem Verlust des ganzen Vermögens verbunden sein muß, in der Regel aber als ein Spielen um Geld verstanden wird: „JOUER, [...] c’est risquer de perdre ou de gagner une somme d’argent, ou quelque chose, qu’on peut rapporter à cette commune mesure, sur un événement dépendant de l’industrie ou du ha-sard.“ [10] Und auch wenn hier noch sowohl die „jeux d’adresse“ – die Ge-schicklichkeitsspiele – als auch die „jeux de hasard“ angesprochen werden, geht doch aus der Fortsetzung hervor, daß vor allem Glücksspiele gemeint sind.
Die prominente Bedeutung des Glücksspiels, die sich über eine lexikalische Analyse des Spielbegriffs ergibt, kann auch durch einen Blick auf die kulturgeschichtliche Entwicklung und Verbreitung der Hazardspiele bestätigt werden. Denn obschon diese zweifellos zu den ältesten Kulturerscheinungen gehören und man gar versucht sein könn-te, in ihnen eine anthropologische Universalie zu sehen, läßt sich doch eine auffallende Zunahme der Glücksspiel-Praxis seit ungefähr 1600 beobachten. Dieses Phänomen wurde bereits in den wichtigsten Spiel-Traktaten des 18. Jahrhunderts thematisiert [11] – wobei natürlich gewisse kulturpessimistische Verzerrungen in Rechnung gestellt werden müssen –, aber auch die aktuelle Forschung geht von einer dramatischen Verbreitung, ja von einer eigentlichen „seventeenth-century explosion“ der Glücksspiele aus. [12]
Setzt man die Anfänge der Moderne mit der wissenschaftlichen Re-volution im 17. Jahrhundert an, so gäbe es demnach einige gute kulturge-schichtliche Gründe, vom Hazardspiel als dem „Spiel der Moderne“ zu sprechen. Legitimiert werden kann diese Bezeichnung aber auch über die metaphorische Dimension des Spiels, denn die Metapher des Glücksspiels ist zwar schon seit der Antike bekannt, aber sie gewinnt im 17. und 18. Jahrhundert eine ganz neue Virulenz. In einer Zeit, da immer neue Phä-nomene und Ereignisse den Rahmen einer providentiellen Ordnung zu sprengen schienen, wurde sie zu einer eigentlichen Schlüsselmetapher, einer geradezu topischen Chiffre eines neuen Kontingenzbewußtseins. [13] Als im Jahre 1755 in Lissabon nicht nur die Erde bebte, sondern ein ganzes Weltbild erschüttert wurde, schrieb Voltaire: „Quel triste jeu de hazard que le jeu de la vie humaine!“ [14] Oder als in Frankreich 1789 die politische Welt erzitterte, meinte Edmund Burke, durch die Revolution sei Frankreich in einen einzigen Spieltisch verwandelt worden. [15] Diese prominenten Beispiele ließen sich beinahe beliebig durch weitere ergänzen.
Die Geschichte der Moderne läßt sich allerdings nicht nur als der grand récit einer zunehmenden Kontingenzerfahrung konzeptualisieren. Sie kann auch mit guten Gründen als die Geschichte einer erfolgreichen Zähmung des Zufalls erzählt werden, denn es läßt sich kaum bestreiten, daß das Leben in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren dank neuer Möglichkeiten einer statistisch abgestützten Vorsorgepolitik in allen Bereichen viel sicherer geworden ist: „The world became not more chancy, but far less so.“ [16] – Diese beiden récits der Moderne scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Dringt man allerdings in die gleichsam archäologischen Schichten der bis heute nicht geschriebenen Geschichte des Zufalls vor, wird plausibel, daß sich die beiden Geschichtsentwürfe von demselben Umbruch in der Wissensgeschichte herschreiben: von der in ihren Auswirkungen kaum zu überschätzenden „probabilistic revolution“ im 17. Jahrhundert. [17] Im Zuge dieser Revolution wurden Geschehnisse aus immer weiteren Lebensbereichen der damals neu entwickelten Wahrscheinlichkeitsrechnung zugänglich gemacht, indem sie in operationalisierbare Daten, in prinzipiell gleichmögliche Einzelfälle zerlegt wurden. Um berechenbar zu werden, mußten die Zufälle des Lebens aber ihrer qualitativen Rückbindung an transzendente Systeme entkleidet und in reine Quanten übersetzt werden. Und eben diese Herauslösung der Zufälle aus qualitativen, Geborgenheit vermittelnden Zusammenhängen hatte auch die gesteigerte Kontingenzerfahrung in der Moderne, im Age of Chance [18], zur Folge. Zugespitzt formuliert: Der Preis der Berechenbarkeit war – längerfristig – die „transzendentale Obdachlosigkeit“. [19] Dem Glücksspiel aber kam in diesem Prozeß insofern eine zentrale Bedeutung zu, als es das Grundmodell abgab für den neuen quantifizierenden Zugriff auf das Leben: „[...] the paradigm for the mathematical development of the field was the analysis of games of chance.“ [20] Das Spiel rückte damit auch in den Interessenfokus der Wissenschaft, was sich nicht zuletzt in der Gewichtung des bereits zitierten Artikels Jouer aus der Encyclopédie niederschlägt. Nach kaum einer halben Seite geht dieser nämlich unversehens in eine sechsseitige mathematische „analyse des jeux“ über, bevor er relativ abrupt abbricht. [21]
Die Rede vom Glücksspiel als dem „Spiel der Moderne“ hat dem-nach eine kulturgeschichtliche, eine metaphorologische und eine wissen-schaftsgeschichtliche Dimension, und es zeigt sich, daß das Hazard-spiel über zahlreiche Diskursfäden direkt und indirekt in das „network of negotiations“ [22] der modernen Kultur verwoben ist. Geht man aber weiter mit Stephen Greenblatt davon aus, daß in literarischen Werken die zentralen „codes“ einer bestimmten Kultur in verdichteter Form verhandelt werden und daß sie besonders reiche „structures for the accumulation, transformation, representation, and communication of social energies and practices“ [23] sind, so läßt sich vermuten, daß sich im Feld der Literatur der Glücksspiel-Code der Moderne – in seiner spe-zifisch literarischen Verschlüsselung – besonders gut ausmachen läßt. Diese Vermutung soll hier vor allem anhand einer Lektüre von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Spielerglück und eines Seitenblicks auf Walter Benjamins Reflexionen zur Bedeutung des Glücksspiels für die „Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ [24] konkretisiert werden.
Die Ordnung der Erzählung
Nach einer ersten separaten Publikation in der Zeitschrift Urania im Jahre 1820 erschien Spielerglück noch im selben Jahr auch im dritten Band der gerahmten Novellen- und Märchensammlung Die Serapionsbrüder. Vor-getragen wird sie dort vom Serapionsbruder Theodor, und da sie kaum bekannt ist, sei sie hier ganz knapp in ihrer für die weitere Argumentation wichtigen narrativen Verschachtelung in Erinnerung gerufen: Der junge, schöne, glückliche Baron Siegfried verbringt „im Sommer 18..“ (712) [25] einige Zeit in Pyrmont, wo intensiv gespielt wird. Zunächst hält er sich von den Spieltischen fern, doch als man ihm das als Geiz auslegt, sieht er sich gezwungen zu spielen – und gewinnt. Abend für Abend findet er sich nun im Spielsaal ein, bis ihm ein Fremder in warnender Absicht die Lebensgeschichte eines gewissen Chevalier Menars erzählt. Dieser Menars sei auch contre cœur zum Spiel gekommen und schließlich, korrumpiert durch glückliche Gewinne, in Paris zu einem erbarmungslosen Spielbankbetreiber geworden. Sein prominentestes Opfer sei dabei ein gewisser Francesco Vertua gewesen, aus dessen ein-geschobener Lebensgeschichte man erfährt, daß auch er einst ein glücklicher Spieler gewesen war, bis er von einem verzweifelten Gegenspieler schwer verletzt wurde. Danach habe er sich für viele Jahre vom Spieltisch zurückgezogen, bis er durch den erfolgreichen Chevalier Menars gereizt worden sei, sein bewährtes „Spielerglück“ (726) noch einmal zu versuchen, allerdings mit fatalen Konsequenzen, denn er habe sein ganzes Hab und Gut verloren. Als aber Menars Vertuas Tochter Angela gesehen habe, sei ihm seine Verworfenheit schlagartig bewußt geworden, und es sei „das nicht Gedachte, das nicht Geahndete geschehen“ (729): Angela, die bereits mit einem andern verlobt war, habe den Chevalier geheiratet. Für einige Zeit habe sich Menars darauf von den Spielhäusern ferngehalten. Als er aber von einem besonders erfolgreichen Bankhalter hörte, habe er sein Glück noch einmal versuchen wollen. Schon nach kürzester Zeit habe er sein ganzes Vermögen und schließlich sogar seine Gattin verspielt, worauf sich der siegreiche Gegenspieler triumphierend als der ehemalige Verlobte von Angela, Duvernet, zu erkennen gegeben habe. Angela aber sei während des Spiels verstorben. – Damit beendet der fremde Gesprächspartner Siegfrieds seine Erzählung und macht sich hastig davon. Nur kurz darauf stirbt er, und als man seine bescheidenen Habseligkeiten durchsucht, stellt sich heraus, daß er selbst jener Chevalier Menars war, von dem er erzählt hatte. Von Siegfried aber heißt es, er habe „die Warnung des Himmels“ erkannt und gelobt, „allen Verlockungen des täuschenden Spielerglücks zu widerstehen“ (737).
Nun liegt es nahe, diese Erzählung als moralisierendes Plädoyer gegen das Glücksspiel zu lesen. Das ist auch geschehen. [26] Hoffmann aber, als habe er vor einer solchen Lesart warnen wollen, setzte bei der Einbindung der Erzählung in die Serapionsbrüder ein deutliches Zeichen. Kaum hat Theodor nämlich geschlossen, meint Lothar: „Sollte [...] man nicht glauben, du verstündest dich recht ordentlich auf das Spiel, wärst selbst wohl gar ein tüchtiger Spieler, dem nur zuweilen die Moral in den Nacken schlägt [...] [?]“ (737). Das fabula docet von Spielerglück hat für Lothar etwas Gezwungenes, und indirekt ergeht mit seiner rhetorischen Frage, durch die die Stille nach Theodors Erzählung gebrochen wird, die Aufforderung an die Lesenden, den binären moralischen Code, die (Ver-)Ordnung, der die Geschichte von den Spielern vordergründig verpflichtet ist, genauer zu überprüfen.
Als erstes könnte dabei die Geschlechter-Codierung in den Fokus gerückt werden, denn gespielt wird in Spielerglück nur von Männern. Die Frauen hingegen figurieren scheinbar nur als helle Kontrastgestalten und tragische Opfer. Angela Vertua, deren Name vermeintlich Programm ist, wird sogar buchstäblich in das quantifizierende System der spielen-den Männer gezwungen, wenn zuletzt um sie gespielt und ihr Wert auf „zwanzigtausend Dukaten“ (735) veranschlagt wird. Und die morti-fizierende Wirkung einer solchen Übersetzung des Lebens in den Uni-versalsignifikanten Geld wird in Spielerglück drastisch inszeniert durch Angelas Tod. – Trotzdem wäre es vorschnell, in Angela bloß ein Opfer zu sehen. Sie ist nicht „an idealized picture of a true female savior“ [27], sondern wird in ihrem Handeln wesentlich durch ihre „Eitelkeit“ (730) motiviert. Die Wirkung ihrer Tugendhaftigkeit auf den Chevalier, der Umstand, daß er nach seiner Begegnung mit ihr sofort dem Spiel ab-schwört, korrumpiert sie in fataler Weise und führt zu ihrer Untreue gegenüber dem jungen Duvernet, der letztlich dadurch zum Spieler wird: Auch die engelhafte Angela ist integraler Teil eines verhängnisvollen Systems.
Eine weitere problematische Opposition ist die in der Erzählung ent-wickelte Binnendifferenzierung zwischen verschiedenen Spielertypen. Wie Menars meint, gebe es zum einen Spieler, denen, „ohne Rücksicht auf Gewinn, das Spiel selbst als Spiel eine unbeschreibliche, geheimnisvolle Lust“ gewähre, während andere das Spiel nur als Mittel betrachten, „sich schnell zu bereichern“ (720). Sich selbst zählt der Chevalier ganz klar zur letzteren Klasse, die hier als die moralisch verwerfliche dargestellt wird, während die Spieler, die le jeu pour le jeu betreiben, als weitgehend unproblematisch erscheinen. Nun zeigt sich allerdings im Verlauf der Erzählung, daß verschiedene Spieler keineswegs durch materielle Inter-essen, sondern allein durch die „geheimnisvolle Lust“ am Spiel und durch den Glauben an ihr „Spielerglück“ zu ihren verhängnisvollsten Partien motiviert werden. Zumal Menars’ Einschätzung, wonach Siegfried auf die gleiche Art und Weise wie er selbst zum Spiel gekommen sein soll (717), zeigt, wie unzuverlässig die Spielertheorie dieses Spielers ist. Denn Siegfried, dem das Spiel zunächst gar nichts sagte, wurde nicht durch materielle Interessen an den Spieltisch gelockt, sondern war zunächst sogar entschlossen, eine „bedeutende Summe [...] zu verlieren“ (713f.).
Spiel und „Spiel der Fantasie“
Sowohl der Geschlechter-Code als auch die binäre Spielertypologie verdienten eine genauere Analyse. Im Rahmen dieser Ausführungen möchte ich mich allerdings auf eine dritte moralisch codierte Opposition konzentrieren, durch die Spielerglück vordergründig geprägt ist: Die Konfrontation des Glücksspiels mit dem „Spiel der Fantasie“. Geradezu programmatisch macht Theodor zu Beginn seiner Erzählung diese Oppo-sition auf, wenn er in den ersten Abschnitten von Siegfrieds anfänglicher Abneigung gegen das Hazardspiel berichtet:
Eilte alles an den Spieltisch, wurde ihm jedes Mittel, jede Aussicht sich geistreich zu unterhalten, wie er es liebte, abgeschnitten, so zog er es vor, entweder auf einsamen Spaziergängen sich dem Spiel seiner Fantasie zu überlassen, oder auf dem Zimmer dieses, jenes Buch zur Hand zu nehmen, ja wohl sich selbst im Dichten – Schriftstellen zu versuchen. (712)
Obschon in der Wahl des Wortes „Schriftstellen“ eine leise Ironie kaum zu überhören ist und die Beschreibung von Siegfrieds Lektüregewohnheit, „dieses, jenes Buch zur Hand zu nehmen“, eine spöttische Note hat, wird das „Spiel“ von Fantasieren, Lesen und Schreiben damit als positiver Gegenpol zum Glücksspiel eingeführt. Verstärkt wird diese Opposition im weiteren Verlauf der Erzählung durch die Schilderung der Entwicklung des Chevaliers Menars: „Das wilde wüste Leben des Spielers vertilgte bald alle die geistigen und körperlichen Vorzüge, die dem Chevalier sonst Liebe und Achtung erworben hatten. [...] Erloschen war sein Sinn für Wissenschaft und Kunst [...]“ (721). Diese Gegenüberstellung knüpft an einen festen Topos der Spielliteratur des 18. Jahrhunderts an, der vielleicht am besten durch eine verbreitete Anekdote über John Locke illustriert werden kann: Als der englische Philosoph sich einst mit gelehrten Freunden – „trois des plus beaux Génies de l’Angleterre, Mylords Hallifax, Anglesey & Shaftesbury“ [28] – traf, sollen diese gespielt haben. Darauf nahm er, der sich selbst nicht am Spiel beteiligte, Schreibzeug und Papier hervor. Als ihn seine Freunde aber nach einiger Zeit fragten, was er denn mache, antwortete er, er habe mitgeschrieben, was in den letzten Stun-den so gesprochen worden sei, und zeigte ihnen seine Mitschrift der Konversation, die nur aus ab-gerissenen Spielansagen, Fluchfragmenten und vor allem aus langen Pausen bestand. Beschämt hätten die Spieler darauf ihre Karten weggelegt und sich in ein geistreiches Gespräch vertieft.
Die Phänomene der Fragmentierung der Sprache und des Ver-stummens spielen auch in den Spielszenen bei Hoffmann eine wichtige Rolle. Hier werden neben abgerissenen Ansagen wie „gagne – perd“ (719) oder „Va banque“ (734) nur Blicke ausgetauscht, und wenn sich einer in der Spielbank „eine Kugel durch den Kopf jagte, so daß Blut und Hirn die Spieler bespritzte“ (733), so tat er das wortlos. Der Verlust der artikulierten Sprache ist demnach ein sicheres Symptom der Spielleidenschaft. Zugleich wäre es allerdings vorschnell, diese Sprachfragmentierung mit einer Einschränkung der Phantasietätigkeit gleichzusetzen. Vielmehr wird in allen Spieltraktaten des 18. Jahrhunderts auf die absolut zentrale Bedeutung der Phantasie für den Reiz des Spiels hingewiesen. Der Spieler ist wie kaum jemand sonst im Banne seiner Phantasie und träumt sich hoffend und fürchtend in immer neue potentielle Welten hinein. Geradezu poetisch und hoffmannesque wird dies von Jean-Joseph Dusaulx beschrieben, der sich mit seinem Werk De la Passion du Jeu (1779) buch-stäblich seine eigene Spielsucht vom Leib schreiben wollte:
Pour savoir ce qui se passe dans l’âme des joueurs, lorsque les instrumens [!] du jeu sont étalés sous leurs yeux parmi des monceaux d’or, il ne suffit pas de l’avoir vu, il faut l’avoir éprouvé. Le passé se retrace, l’avenir se révèle à ces imaginations brûlantes & déréglées, qui ne prévoient & ne redoutent, que ce qu’elles souhaitent ou ce qu’elles craignent. C’est alors, que l’ivoire & le carton semblent s’animer: c’est alors, que le lieu de la scène devient pour les Acteurs un Antre magique fécond en Oracles. [29]
Die Problematik des Spiels liegt keineswegs in einer Auslöschung des „Spiels der Fantasie“, sondern, umgekehrt, gerade in dessen Über-steigerung. – Vielleicht könnte man dann die Opposition von Spiel und Spiel der Phantasie so modifizieren, daß man sagte, die „imagi-nation brûlante & déréglée“ des Spielers mache diesen unfähig zum „Schriftstellen“, wie es Siegfried zunächst noch pflegt. Doch auch diese Hypothese hält einer genauen Lektüre nicht stand, ja sie scheint durch Hoffmanns Text sogar auf den Kopf gestellt zu werden, denn die ganze Erzählung besteht aus nichts anderem als Erzählungen, die von aktiven oder ehemaligen Spielern vorgetragen werden [30], während Siegfrieds schriftstellerische Versuche aus seiner Zeit als Nicht-Spieler für die Ent-wicklung des Textes unfruchtbar bleiben. Am wichtigsten unter den Spieler-Erzählern ist dabei selbstverständlich der Chevalier Menars, aber auch Vertua und Duvernet referieren in dessen Erzählung in direkter Rede ihre Lebensgeschichten, und in der Rahmengeschichte stellt sich heraus, daß auch Theodor Spielerglück eigentlich nur so vortragen konnte, weil seine Phantasie einst angeregt wurde durch das Spiel (737). Und schließlich ließe sich dieser Punkt auch noch für Hoffmann selbst stark machen, der offenbar in seiner Jugend auch einmal gespielt hat. [31]
Nun gehört es mit zum serapiontischen Prinzip des Erzählens, daß jeder wohl prüfe, „ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt, laut damit zu werden“ (55). Theodor hat den Geist des Spiels äußerlich und vor allem auch innerlich geschaut und kann deshalb seinen Stoff, „das Bild, das ihm im Innern aufgegangen“ ([55]), serapiontisch gestalten. Der esprit du jeu ist allerdings nicht nur der überzeugend geschilderte Gegenstand seiner Erzählung. Vielmehr läßt sich der Nexus von Erzählen und Hazardspiel auch als tiefenstrukturelles poetologisches Programm verstehen, denn das Spiel affiziert hier das erzählerische „Spiel der Fantasie“ auf einer ganz grundlegenden Ebene: Wird – wie eingangs entwickelt – das Glücksspiel in mehrfachem Sinne als das Spiel der Moderne verstanden, kann Spielerglück auch als Re-flexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Erzählen in der he-raufkommenden Moderne gelesen werden.
Die probabilistische Kränkung
Vielleicht am unmittelbarsten stößt man zum (wissens-)poetologischen Apriori von Hoffmanns Erzählung vor über die Geschichte der Mathe-matik. Dieser zunächst überraschende Brückenschlag von der Literatur zur Wissenschaftsgeschichte ist implizit auch im Titel der Erzählung angelegt: Das Wort „Spielerglück“ – oder „Spieler-Glück“ [32] – hat in den Kommentaren zu den Hoffmann-Ausgaben keine weitere Beachtung gefunden, obschon es in Wörterbüchern nicht zu finden ist. [33] Seine Be-deutung ergibt sich freilich auch recht klar aus dem Text: Während die Spieler wiederholt in abergläubischer Verblendung auf ihr Spielerglück als ein gleichsam angeborenes Talent zählen, wird durch die Erzählung deutlich, daß solches Glück immer nur eine transitorische Laune des Zufalls ist. Es wurde deshalb auch schon bemerkt, Hoffmann verwende das Wort im Titel „ironisch“. [34] Es handelt sich freilich, wenn schon, um eine verblaßte Ironie, denn die Kritik an einem abergläubischen Glücks-begriff hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Tradition, und zwar eben eine Tradition, in der dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Diskurs eine besondere Bedeutung zukam. So spielen die Begriffe von Glück und Unglück von Anfang an eine wichtige Rolle in der Glücksspiel-Rechnung, und viele einschlägige mathematische Werke widmen dem Thema von „bonheur ou malheur dans les jeux de hasard“ [35] eigene Abschnitte, wobei es immer um die Entlarvung eines abergläubischen Glückskonzepts geht: Es gibt keine Spieler, die das Glück gleichsam als Eigenschaft gepachtet haben. Keiner darf sich als Auserwählter wähnen, sondern alle unterliegen den Gesetzen des Zufalls. Diese Entzauberung hat aber – zumal in ihrer Übertragung auf das „Glücksspiel“ des Lebens – einen nachhaltigen Effekt auf den Einzelnen, der damit gleichsam aus dem vermeintlichen Aufmerksamkeitsfokus des Schicksals in eine dezentrierte, indifferente Zufallsposition geschleudert wird. Und genau von dieser Dezentrierung, die in ihrer Bedeutung der kopernikanischen oder „kosmologischen Kränkung“ [36] in nichts nachsteht, spricht auch Pierre Simon de Laplace in seinem einflußreichen Essai philosophique sur les probabilités von 1814:
Le sentiment par lequel l’homme s’est placé longtemps au centre de l’univers, en se considérant comme l’objet spécial des soins de la na-ture, porte chaque individu à se faire le centre d’une sphère plus ou moins étendue, et à croire que le hasard a pour lui des préférences. Soutenus par cette opinion, les joueurs exposent souvent des sommes considérables, à des jeux dont ils savent que les chances leur sont contraires. [37]
Die Spieler können aber nicht auf ein besonderes Spielerglück zählen. Sie und die Menschen überhaupt müssen sich damit abfinden, dass sie bloß neutrale, austauschbare Punkte in einer amorphen Menge sind. Aller in-dividuellen Qualitäten entkleidet, sind sie – wie das die Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts, die Statistik, augenfällig demonstriert – bloß noch Recheneinheiten in einem unpersönlichen Spiel. In gewissem Sinne kann nun Hoffmanns Erzählung als durchgängige Auseinandersetzung mit eben dieser Erfahrung gelesen werden, denn alle Spieler versuchen sich, verblendet oder verzweifelt, „zum Mittelpunkt einer mehr oder minder ausgebreiteten Sphäre“ (Laplace) zu machen und werden einer nach dem anderen, und einige mehrfach in ihrem Leben, aus dem vermeintlichen Zentrum geschleudert. Es scheint fast, als wären sie selbst nur austauschbare Spielkarten in einem universalen Hazardspiel und die Struktur ihres Lebens gleiche sich zunehmend der Struktur des Spiels mit seinen immer wieder gleichen Handgriffen und immer wieder gleichen Spielkonstellationen an. Der Grundrhythmus des Glücksspiels Pharo oder Pharao [38], das im Zentrum von Spielerglück steht, ist durch das alternierende „gagne – perd“ des Bankhalters vorgegeben, wenn er eine Karte nach der anderen von seinem Talon abzieht und offen auf den Tisch legt. Hat einer der Ponteurs – von denen jeder ein Set mit allen 13 Karten vom As bis zum König vor sich liegen hat – auf die Karte gesetzt, die bei der Ansage „gagne“ abgezogen wird, gewinnt er, wobei es nur auf die Höhe und nicht auf die Farbe der Karte ankommt. Hat er auf die „perd“-Karte gesetzt, verliert er. Dieser regelmäßige Rhythmus wird überlagert von den unregelmäßigen Rhythmen der Spielentwicklung, in der ein Spieler auch einmal über längere Zeit auf der Gewinnerseite stehen kann, doch auf die Dauer gleichen sich solche Capricen des Spiels aus, und es stellt sich à la longue auch auf dieser Metaebene der mono-tone Rhythmus von „gagne – perd“ ein.
Mit dem Rhythmus überträgt sich aber noch ein anderes Charakteri-stikum des Spiels auf das Leben von Hoffmanns Protagonisten. Anders als in Prozessen, die von einer organischen Entwicklung geprägt sind, besteht der Ablauf eines Glücksspiels aus einer langen Serie von je voneinander unabhängigen Ereignissen. Mit jedem Coup, mit jeder neuen Taille wird die Erinnerung an alle vorangegangenen Spielzüge gelöscht, denn diese haben keinerlei Einfluß auf die Entwicklung der einzig interessierenden Gegenwart. Mit jeder neuen Runde beginnt das Spiel gleichsam wieder bei Null, und eben diese beständigen Neuanfänge kennzeichnen auch die Lebensläufe von Hoffmanns Spielern und die Erzählweise von Spielerglück. Zum einen wird die narrative Wiederholungsstruktur inszeniert durch die Verschachtelung der – nimmt man die Rahmenerzählung dazu – fünf Spielergeschichten von Theodor, Siegfried, Menars, Vertua und Duvernet, in denen immer wieder geradezu schematisch dieselben Lebensspielkonstellationen erzählt werden. Neben dieser mise-en-abîme von Spielerbiographien lassen sich Wiederholungsstruktur und Serialität aber auch auf der Ebene der einzelnen Lebensberichte verfolgen, indem vor allem Menars und Vertua nach vermeintlichen Entwicklungen und Reifungsprozessen mehrfach abrupt in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Sie starten gleichsam immer wieder in eine neue Spielrunde. Und diesen Neuanfängen, die in ihrer Serialität im Grunde keine sind, korrespondieren biographische und narrative Enden, die eigentlich keine sind. So fasert das Leben von Vertua aus in wirrem „perd – gagne“-Gestammel (731), das mehr oder weniger nahtlos von seinem Schwiegersohn Menars wieder aufgenommen wird, und der letzte Satz von Spielerglück, ein Kommentar zu Siegfrieds Vorsatz, nie mehr zu spielen, klingt – zumal im Lichte der Geschichten von Vertua und Menars – mehr nach einem Zwischenfazit als nach einem wirklichen Ende: „Bis jetzt hat er getreulich Wort gehalten“ (737). Bis jetzt.
Der Mythos des 19. Jahrhunderts
Die Beobachtungen, die sich aus der Lektüre von Hoffmanns Spielerglück ergeben, lassen sich nun noch weiter plausibilisieren durch einen Seitenblick auf Walter Benjamins fragmentarische „Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ [39]: In seinem großen Passagenwerk über Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts ist Benjamin verschiedentlich auf das Glücksspiel eingegangen, und in konzentrierter Form kommt die Bedeutung, die er dem Spiel für ein Verständnis der modernen Kultur beimaß, auch in seiner Abhandlung Über einige Motive bei Baudelaire (1939) zum Ausdruck. Im Spiel scheinen ihm in verdichteter Form verschiedene Charakteristika des modernen Lebens zum Ausdruck zu kommen, wobei die serielle Fragmentierung des Daseins in eine Abfolge voneinander unabhängiger Coups zentral ist: Das Spiel setze „die Ordnungen der Erfahrung außer Kraft“ [40], und an deren Stelle bleibe nur noch die Unordnung bloßer „Erlebnisse“ übrig. [41] Wie in einer Miniatur, die man mit Foucault auch als „Heterotopie“ konzeptualisieren könnte [42], wird damit für Benjamin am Spielgeschehen das (Großstadt-)Phänomen des „Chocks“ ablesbar, das der moderne Mensch nicht nur passiv erleidet, sondern auch aktiv provoziert – eben wie ein Spieler: „Das Ideal des chockförmigen Erlebnisses ist die Katastrophe. Das wird im Spiel sehr deutlich: durch immer größere Misen, die das Verlorene retten sollen, steuert der Spieler auf den absoluten Ruin zu.“ [43] Das moderne Prinzip der chockförmigen Zurichtung des Erlebens findet mithin seine emblematische Verdichtung in der exponentiellen Steigerung der Spieleinsätze bis zu dem Punkt, da um die ganze Bank gespielt wird – bis zum fatalen Ausruf: „Va banque!“
Benjamin erkennt im Hazardspiel aber nicht nur gewisse Analogien zum politischen und gesell-schaftlichen Leben im Zeitalter des bürgerlichen Kapitalismus, sondern die Tätigkeit des Spielers, die sich in den immer selben Handgriffen erschöpft, zeigt für ihn auch „wie in einem Spiegel“ [44] die Kennzeichen der modernen Industriearbeit. Wie er allerdings selber einräumt, kann schwerlich davon ausgegangen werden, daß Baudelaire selbst den Bezug des Spiels zum Begriff des industriellen Arbeitsvorgangs hergestellt hätte, denn der Dichter sei „von einem solchen Begriff weit entfernt gewesen“. [45] – Das gilt noch viel ausgeprägter für Hoffmann. Die untergründige Analogisierung des chockförmigen Erlebens am Spieltisch mit der gesteigerten Zufallserfahrung in der modernen Großstadt hingegen läßt sich auch bei ihm erahnen. Vielleicht nicht so sehr in Spielerglück, wo das Paris des ausgehenden 18. Jahrhunderts aber immerhin die zentrale Kulisse für die eingeschobenen Spielerbiographien abgibt, als in den Elixieren des Teufels (1815/1816), wo dem Glücksspiel auch eine programmatische Bedeutung zukommt. [46] In diesem Roman, der, wie man leicht vergißt, um 1800 spielt, flüchtet der Protagonist Medardus nach einem Mord in eine „reiche, lebhafte Handelsstadt“. [47] Er will „alles Auffallende“ in seiner Erscheinung eliminieren und sich „irgendeinen Namen“ geben, um sich „ganz unbemerkt in die Masse der Menschen eindrängen“ zu können. [48] Unerkannt besucht er dann die „öffentlichen Häuser“ – wo übrigens auch gespielt wird [49] – und mischt sich unter das Volk in den Straßen. So befreiend er allerdings die Anonymität in der Masse erlebt, so erschreckend ist sie für ihn zugleich:
Von niemanden gekannt zu sein, in niemandes Brust die leiseste Ahnung vermuten zu können, wer ich sei, welch ein wunderbares, merkwürdiges Spiel des Zufalls mich hieher geworfen [...], so wohltätig es mir in meinem Verhältnis sein mußte, hatte doch für mich etwas wahrhaft Schauerliches, indem ich mir selbst dann vorkam wie ein abgeschiedener Geist [...]. [50]
Damit wird sehr früh das „Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat“ [51] umrissen, welches Benjamin im Kontext seiner Baudelaire-Lektüre mit dem Chockerlebnis der Spieler in Verbindung bringt. Hoffmanns erzählerische Annäherung an den Zusammenhang von Hazardspiel und modernem (Großstadt-)Leben darf insofern durchaus als Präludium zur narrativen Engführung dieser Themenbereiche gesehen werden, wie sie dann beispielsweise Balzac in seinem ‚Teufelsroman‘ La Peau de Chagrin (1831) virtuos durchgeführt hat. [52]
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Der Fluchtpunkt von Benjamins Reflexionen zur Bedeutung des Hazardspiels ist allerdings die poetologische Pointe der Verwandtschaft des Spielers mit dem Schriftsteller, der damit in eine Reihe mit dem Arbeiter in der Fabrik und dem Passant in der Großstadt gestellt wird. Auch er ist „ein um seine Erfahrung betrogener Mann, ein Moderner“. [53] Auch sein Schaffen ist geprägt vom Glücksspiel-Code der Epoche. – Für Benjamin ergibt sich die Verbindung zwischen Dichter und Spieler freilich nur indirekt, indem er sich ganz auf das lyrische Ich in Baudelaires Gedicht Le Jeu beschränkt, das abseits vom Spielgeschehen steht und die Spieler um ihre „passion tenace“ beneidet: „Der Dichter nimmt nicht am Spiel teil“ [54], sondern spürt nur als Beobachter seine Verwandtschaft mit den Spielern. Das stimmt, sofern man den „Dichter“ mit dem lyrischen Ich gleichsetzt, doch in Baudelaires Text gibt es auch Dichter, die sich ganz unmittelbar am Spiel beteiligen. In der dritten, von Benjamin nicht berücksichtigten Strophe von Le Jeu heißt es nämlich im Zuge der Schilderung eines Spielsaals:
Sous de sales plafonds un rang de pâles lustres
Et d’énormes quinquets projetant leurs lueurs
Sur des fronts ténébreux de poètes illustres
Qui viennent gaspiller leurs sanglantes sueurs; [55]
Claude Pichois, der Herausgeber der Pléiade-Ausgabe, liest diese Stelle viel zu konkret, wenn er die etwas irritierende Anmerkung macht: „S’il n’y avait poètes, on serait tenté de penser à Benjamin Constant, joueur invétéré.“ [56] Es geht hier nicht um einzelne Schriftsteller, die vielleicht gespielt haben, sondern um eine prinzipielle Verwandtschaft zwischen Dichtern und Spielern, um einen tiefenstrukturellen Zusammenhang zwischen Hazardspiel, Erfahrungsverlust und schriftstellerischer Arbeit in der Moderne. Diese Verwandtschaft wurde im 19. Jahrhundert besonders prominent in Dostojewskis Roman Der Spieler (1866) inszeniert, der nur „Aus den Notizen eines jungen Mannes“ [57], eben des Spielers, besteht. Sie ist aber auch schon, wie gezeigt wurde, das poetologische Grundthema von Hoffmanns Spielerglück, wo das „Spiel der Fantasie“ aller beteiligten Erzähler ganz offensichtlich von der Erlebnisstruktur des Glücksspiels – des Spiels der Moderne – affiziert ist.
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[1] Auster (1990), 181.
[2] Vgl. den Untertitel von Huizinga (1938).
[3] Huizinga (1938), 58.
[4] Huizinga (1938), 22 und 18.
[5] Huizinga (1938), 213f.
[6] Veblen (1899), 68-101 u.ö.
[7] Bataille (1933).
[8] Diderot/d’Alembert (1751ff.), XIX, 35.
[9] Das ist im Kontext des religiösen Kultes auch Huizinga nicht entgangen. Vgl. Huizinga (1938), 27-30 und 55f. Der ökonomische Ernst bleibt bei ihm aber ausgeschlossen. Vgl. kritisch dazu Ehrmann (1968), 41-48.
[10] Diderot/d’Alembert (1751ff.), XIX, 35.
[11] Dusaulx (1779), I, 51-94.
[12] Reith (1999), 58-73.
[13] Vgl. dazu auch Schnyder (2003).
[14] Voltaire (1971), 401.
[15] Burke (1790), 310.
[16] Hacking (1990), 10.
[17] Krüger u.a. (1987).
[18] So der Titel von Reith (1999).
[19] Vgl. zum Zitat Lukács (1920), 32; zum Zusammenhang dieses wissenschaftsge-schichtlichen Prozesses mit der Entwicklung der Romanpoetik Campe (2002).
[20] Stigler (1986), 62.
[21] Diderot/d’Alembert (1751ff.), XIX, 36-42.
[22] Greenblatt (1990), 229.
[23] Greenblatt (1990), 230.
[24] Benjamin (1972ff.), V/1, 579.
[25] Alle Seitenverweise zu den Serapionsbrüdern beziehen sich auf die Aus-gabe Hoffmann (1995).
[26] Vgl. zur Rezep-tionsgeschichte den Kom-mentar in Hoffmann (2001), 1534-1536.
[27] So Bergström (2000), 99.
[28] Dusaulx (1779), I, 251.
[29] Dusaulx (1779), I, 208.
[30] Vgl. dazu auch Stadler (2003), 179.
[31] Vgl. die Anm. in Hoffmann (1995), 1100.
[32] So im Anschluß an den Erstabdruck die Orthographie in Hoffmann (2001), 856.
[33] Grimm kennt nur „Spielglück“: Grimm (1854ff.), 10/1, 2398.
[34] Gerlach (1998).
[35] Dictionnaire des Jeux Mathématiques (1799), vi und 8-14.
[36] Freud (1917), 7.
[37] Laplace (1814), 200.
[38] Vgl. für eine Spielanleitung Krünitz (1782ff.), 157. Theil, 751-764.
[39] Benjamin (1972ff.), V/1, 579.
[40] Benjamin (1972ff.), I/2, 635, Anm.
[41] Vgl. zur Differenz zwischen „Erfahrung“ und „Erlebnis“ bei Benjamin Makropoulos (1989), 71-77 u.ö.
[42] Foucault (1967/1984), 1574-1581.
[43] Benjamin (1972ff.), V/1, 642.
[44] Benjamin (1972ff.), I/2, 632.
[45] Benjamin (1972ff.), I/2, 632.
[46] Hoffmann (1997), 124-129. Vgl. zur Programmatik dieser Passage Neumann (1998), 379-381.
[47] Hoffmann (1997), 84.
[48] Hoffmann (1997), 83.
[49] Hoffmann (1997), 91 und 97.
[50] Hoffmann (1997), 90f.
[51] Benjamin (1972ff.), I/2, 632.
[52] Vgl. dazu Bell (1993), 155-193.
[53] Benjamin (1972ff.), I/2, 636.
[54] Benjamin (1972ff.), I/2, 636.
[55] Baudelaire (1999), 96.
[56] Baudelaire (1999), 1028.
[57] So der Untertitel: Dostojewski (1994), 348.
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Louis Darcis: Le Jeu ou la maison de prêt sur nantissement (Ausschnitt). In: Baudelaire (1999), 1028.