Prophetische Harfen, analphabetischer Illettrismus und Gastrophonie

Asger Jorn und die Dinglichkeit der Sprache

Klaus Müller-Wille


At en ting udstraaler mennesket, at det ligefrem har 
menneskets liv i sig, det er det kunstneriske præg paa tingen.[1]

Die avantgardistischen Schrifttheorien der 1940er und 1950er Jahre sind in der Forschung häufig zugunsten der materialistischen Sprachtheorie der frühen Avantgarden (vor allem Dadaismus, Futurismus und russische Avantgarde) und der konkreten Poesie der späten 1950er und 1960er Jahre vernachlässigt worden. Erst im Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit, die die Situationistische Internationale auf sich gezogen hat, sind in den letzten Jahren umfangreichere Studien zum Pariser Lettrismus der 1940er Jahre erschienen.[2]

In diesem Aufsatz möchte ich auf die bislang nahezu völlig vernachlässigte Schrifttheorie des dänischen Malers Asger Jorn aufmerksam machen, dessen Essays meines Erachtens eine Schlüsselfunktion einnehmen, wenn es um die Vorarbeiten zu einer genuin situationistischen Schriftkritik geht. Die Grundüberlegung des Aufsatzes besteht in der These, dass Jorn eine durchaus eigenständige, materialistisch grundierte Auffassung von Wortdingen entwickelt, deren weitreichende Bedeutung er über den konstitutiven Bezug zu diversen Alltagspraktiken zu umreißen versucht.

Diese These soll zunächst anhand des bekannten Collagenbuchs Fin de Copenhague illustriert werden, das Jorn 1957 zusammen mit Guy Debord herstellt. In einem zweiten Abschnitt gehe ich auf Jorns frühere schrifttheoretische Essays ein, welche als Grundlage dieser Arbeit verstanden werden können. Über den Umweg von Jorns späterer Kritik an einem strukturalistischen Zeichenverständnis soll am Ende des Artikels ein Ausblick auf die Aktualität seiner schrifttheoretischen Überlegungen gegeben werden.


„Les mots même prennent un sens nouveau“ – Zur Konsump-tion von Wortdingen in Fin de Copenhague

Im Mai 1957 lädt Asger Jorn Guy Debord nach Dänemark ein, wo die beiden binnen 24 Stunden in der Kopenhagener Druckerei V. O. Permild das Buch Fin de Copenhague anfertigen.[3] Das Buch ist vor allem aufgrund seines auffälligen Einbandes bekannt geworden, der schon viel über die Bedeutung der Dinglichkeit der Sprache verrät, die auch im Zentrum der nachfolgenden Collagen steht. Fin de Copenhague ist nämlich in einen mit Filz unterlegten Karton eingebunden, der im Rahmen des sogenannten Stereotypieverfahrens als Restprodukt bei der Herstellung von Hochdruckplatten abfällt (Abb. 1).[4] Es handelt sich um die als ,Mater‘ bezeichnete Unterlage, die dazu dient, aus der Originalplatte das für den Druck verwendete Klischee zu gewinnen. Die Einstanzungen lassen sich als Anzeigeseite einer dänischen Tageszeitung lesen, in der für den Ausverkauf des großen Kopenhagener Warenhauses Illums geworben wird. Mit dem Umschlag gibt sich das Buch also nicht nur als „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“[5] zu erkennen. Das Cover deutet gleichzeitig auf seinen Status als handwerklich produziertes Ding und konsumierbare Ware hin. 

Als Paratext nimmt der Einband schließlich auch die spezifische Machart des Buches vorweg. Statt eines linearen Textbildes werden in Fin de Copenhague Collagen präsentiert, in denen neben dänischen, englischen, französischen und deutschen Werbetexten, Reklamebilder, Comics und Ausschnitte aus Karten Verwendung finden. Die Collagen sind weiterhin mit Farbstrukturen und Farbklecksen unterlegt, die vermutlich als ironische Anspielungen auf die paint drips des zeitgenössischen amerikanischen Action-Painting verstanden werden können (Abb. 2-5).

Auf den ersten Blick scheint die Ästhetik des Buches auf einer mustergültigen Umsetzung des avantgardistischen Verfahrens zu beruhen, das Guy Debord gerade ein Jahr zuvor zusammen mit Gil Wolman als détournement zu definieren versucht hat.[6] Mit dem vieldeutigen Begriff détournement („Zweckentfremdung“, „Diebstahl“, „Verdrehung“) wird die Wiederverwendung eines vorgegebenen Zeichenmaterials bezeichnet, das ,gestohlen‘ und in einen neuen Kontext gesetzt wird, wodurch sich Bedeutungen transformieren, verdrehen oder entleeren lassen.[7] Die enge Bezugnahme auf den theoretischen Entwurf zum détournement wird durch das Titelblatt des Buches unterstrichen. Fin de Copenhague erscheint unter dem Namen Asger Jorns. Guy Debord wird auf dem Titelblatt lediglich als „Conseiller technique pour le détournement“ eingeführt.[8] Darüber hinaus kann auch der Bucheinband als Hinweis auf das Verfahren des détournement gelesen werden. Die Abfallprodukte eines Druckprozesses werden ja im Buch selbst recycelt und somit zumindest in ihrer Funktion modifiziert. Zudem verweisen sie direkt auf die moderne Drucktechnik der Stereotypie, die schon vor der ersten Erstellung eines Abdruckes mit vielfältigen Übertragungsvorgängen zwischen ‚Originalen‘ und buchstäblich ‚verdrehten‘ Abzügen arbeitet. 

Das im Buch präsentierte Zeichenmaterial wird also rekontextualisiert und dadurch schlicht modifiziert und parodistisch gebrochen. Die Collagen laden dazu ein, kritisch über die Ideologeme, Stereotypien und Klischees zu reflektieren, welche durch Reklame und Comics vermittelt werden. Die Ironie trifft den Sexismus der Vorlagen genauso wie das Arbeitsethos oder die konsumtiven Begehrensstrukturen, die sie zu vermitteln versuchen. Aus dieser kritischen Reflexion über die Werbung erwächst die Auseinandersetzung mit einem der Gesellschaft des Spektakels zum Opfer gefallenen urbanen Zeichenraum. Als Teil einer globalen Tourismus-Industrie ist die dänische Hauptstadt zum reinen Markenzeichen mutiert und hat jedwede Besonderheit verloren: „COPENHAGUE je passais mon temps“.[9] Touristische Werbeseiten für spezifisch dänische Spezialitäten – seien es Hamlets Schloss, dänische Butter oder die obligatorische Tuborgflasche – werden in diesem Sinne bewusst neben Markenembleme internationaler Konzerne wie Esso gestellt (Abb. 2 und Abb. 3). 

Es wäre allerdings zu einfach, das Buch auf diese doch recht vorhersehbare Verkehrung der Werbung zu reduzieren. Immerhin wird die subversive Ästhetik der Collagen unterlaufen, indem selbst Leitsätze avantgardistischer Strömungen – wie etwa „…et voilà votre vie transformée!“ oder „Kulturelle Gegenoffensive“ – in Form von puren Werbeslogans präsentiert werden. Diese zeigen, dass selbst die Avantgarden längst Teil der Markt- und Begehrensstrukturen geworden sind, die sie zu kritisieren vorgeben. So sind in dem als „Ein wertvolles Buch“ bezeichneten Text auch Werbeembleme für den Verlag Permild & Rosengreen eingefügt, über den Fin de Copenhague vertrieben wurde (Abb. 3).[10] Selbst das Verfahren des détournement wird indirekt kritisiert. Der recycelte (oder eben detournierte) Spruch „les mots même prennent un sens nouveau“ erscheint ausgerechnet unter dem Werbeslogan „…et voilà votre vie transformée!“, der seinerseits direkt mit vergleichbaren Glücksversprechen einer Konsumindustrie verbunden wird: „What do you want? Better and cheaper food? Lots of new clothes? A dream home with all latest comforts and labor-saving devices? [...] Whatever you want, it’s coming your way – plus greater leisure for enjoying it all“ (Abb. 4).[11]

Der Kritik an der (traditionellen) avantgardistischen Praktik der Collage kommt eine Schlüsselrolle im Text zu.[12] Debord und Jorn scheint es keineswegs darum zu gehen, sich über ihre überwiegend aus der Populärkultur stammenden Quellen lustig zu machen. Vielmehr wird verdeutlicht, dass die Vorgehensweise des détournement selbst als eine Konsumentenpraktik bezeichnet werden kann. Das Buch plädiert solchermaßen eher für eine andere Art des Konsumierens oder sogar für eine Kunst des Konsums anstatt sich mit einer simplen Ablehnung und Brechung der populärkulturellen Vorlagen zu begnügen. Das Interesse an der Populärkultur kommt insbesondere in der Aufmerksamkeit für die Handlungs- und Begehrensstrukturen zum Ausdruck, die durch die entsprechenden Zeichenwelten eines urbanen Alltags ausgelöst werden. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass sich der Text im engeren Sinne mit der Dinglichkeit des präsentierten Sprachmaterials auseinandersetzt.[13] Er kreist mit anderen Worten um das komplexe Gespinst der Subjekt-Objekt-Relationen, die durch die in Szene gesetzten Wortdinge ausgelöst werden.

Dass das Buch nicht auf eine rein semantische Modifikation der wiederverwendeten Texte abzielt, sondern wirklich zu einem anderen Gebrauch recycelter Wortdinge ermuntert, lässt sich gut an der Verwendung des kartographischen Materials illustrieren, das in die Collagen integriert wird (Abb. 5). Karten sind nahezu untrennbar mit komplexen Alltagspraktiken verknüpft und besitzen somit weitreichende Auswirkungen auf die Bewegungsabläufe und Raumvorstellungen derer, die sie gebrauchen. Mit dem détournement dieser Karten, die in Fragmenten in die Collagen eingefügt werden, werden die Leser dazu angeregt, das gesamte Buch als eine Art Atlas zu benutzen, mit dessen Hilfe der zeichengesättigte Stadtraum neu benutzt werden kann. Auch dieses Verfahren ließe sich anhand von entsprechenden Querbindungen zur situationistischen Theorie der dérive (Praktiken des Umherschweifens) erläutern, die Debord ebenfalls unmittelbar vor dem Erscheinen des Buches entwickelt.[14] Immerhin wird der Text am Ende einem „Psychogeografical Comitee of London (especially Debord and Jorn)“[15] zugeschrieben, das nochmals an die Verschränkung von topologischen, semiotischen und psychoanalytischen Überlegungen erinnert, die für die Ausbildung einer genuin situationistischen Ästhetik der Alltagspraktiken konstitutiv sind.[16]

Die Forschung zu Fin de Copenhague hat sich vor allem auf den genannten Bezug zu den Praktiken von détournement und dérive sowie die entsprechenden Konzeptionen einer Kunst des Handelns oder einer Kunst des Konsums konzentriert, um das Buchprojekt theoretisch zu konturieren. Dabei ist die Auseinandersetzung mit der besonderen Materialität und Dinglichkeit der Schrift, die nicht zuletzt durch die besondere Gestaltung des Einbandes unterstrichen wird, weitgehend unbeachtet geblieben. Dies mag auch damit zu tun haben, dass man sich bei der Interpretation des Buches in erster Linie auf Debords und kaum auf Jorns theoretische Vorüberlegungen gestützt hat. Dabei reicht Jorns Beschäftigung mit Fragen der Schriftgestaltung bis in die 1940er Jahre zurück.

 

Prophetische Harfen, intime Banalitäten und Goldhörner – Jorns frühe Schrifttheorie

Schon 1944 erscheint in der dänischen Avantgarde-Zeitschrift Helhesten der Artikel De profetiske harper (Die prophetischen Harfen), in dem sich Jorn intensiv mit einer schrifttheoretischen Problematik auseinandersetzt. Die gesamte Argumentation steht hier allerdings noch im Zeichen des komplexen Wechselverhältnisses zwischen Bild und Schrift: „Bildkunst und Schrift sind das gleiche. Ein Bild ist geschrieben, und Schrift ist Bild.“[17] – Mit diesem einleitenden Chiasmus wird die Stoßrichtung des Essays vorgegeben, in dem Jorn mit Nachdruck darauf beharrt, dass sich Schrift nicht alleine über ihre referentielle Funktion – sei es als Signifikant für einen Laut oder einen (wie auch immer gearteten) semantischen Inhalt – erfassen lässt: „Nur der Mensch, der den Inhalt einer Schrift fühlt, kann den Inhalt eines Bildes empfinden, da ein Buchstabe nicht allein ein Teil eines Wortes ist, eine Passage in einer Lautkombination, eine Note, nach der wir Worte singen. Er kann auch etwas anderes sein: ein Bild.“[18]

Allerdings bleibt Jorn keineswegs bei dieser vorhersehbaren Konklusion stehen. Im Verlauf der Argumentation verschiebt sich das Interesse deutlich von der hier zum Ausdruck gebrachten Aufmerksamkeit für die Visualität der Schrift zu ihrer konstitutiven Ambiguität. Als vielschichtiges Zeichen könne Schrift sowohl gesehen, gehört als auch gefühlt werden. Die Aufmerksamkeit für ihre durch die verschiedenen Sinne wahrnehmbare Materialität trage nicht nur dazu bei, die Schrift als opakes Zeichen und opaken Zeichenträger beobachten zu lernen, sondern könne auch genutzt werden, um die in sich widersprüchliche Mehrdeutigkeit des Mediums freizusetzen:

Die Zwiespältigkeit [Doppelheit], ja die bisweilen mehrfache Zwiespältigkeit [Mehrdoppelheit] im bildlichen Inhalt, diese Mehrdeutigkeit, dieser doppelte Boden im Bild, der uns mit Ahnungen und merkwürdig unbegreiflichen Visionen gegenüber dem Bild erfüllt: ein Kornfeld oder eine Hieroglyphe, ist die Klangfülle des malerischen Instruments.[19]

Allein aufgrund ihrer semiotischen Komplexität wird die Schrift schließlich zu dem bevorzugten Werkzeug oder Instrument des bildenden Künstlers stilisiert, auf das schon der Titel des Essays verweist. In diesem Interesse für die vielstimmige Instrumentalität der Schrift manifestiert sich durchaus schon eine Vorstellung über ihre Dinglichkeit. Dennoch bleibt der Aspekt der alltäglichen Schriftpraxis und ihrer weitreichenden Auswirkungen in Die Prophetischen Harfen unterbeleuchtet.

Einen deutlicheren Hinweis auf die Wortdinge findet man dagegen in dem schon drei Jahre früher publizierten Artikel Intime Banalitäten, in dem Jorn sein Konzept einer populären Avantgarde präsentiert. Im Gegensatz zu vergleichbaren Überlegungen, die Clement Greenberg oder Adorno und Horkheimer zu Beginn der 1940er Jahre entwickeln, wird die Avantgarde nicht in Opposition zur Kulturindustrie und der Warenwelt des Kitsch definiert, sondern als Potenzierung populärkultureller Phänomene: „Nirgendwo findet man so viele geschmacklose Dinge wie in Paris. Und dies ist genau das Geheimnis, wieso dies immer noch der Ort ist, an dem die Inspiration der Kunst lebt.“[20] Mit der Konzentration auf die intimen Banalitäten des Kitschs und mit dem Recycling von Kitschprodukten in einer populären Avantgarde nimmt Jorn viele Überlegungen der Situationisten vorweg. Die Aufwertung des Banalen geht nicht nur mit einer Kritik eines elitären Avantgarde-Verständnisses einher, sondern mündet in sehr konkrete Überlegungen zu einer Kunst des Konsums, die grundlegende Züge des détournement antizipiert. Im Artikel wird dieses Konzept auch praktisch umgesetzt, indem Jorn Abbildungen von banalen Pin-ups, Hollywoodfilmen, Kitschgemälden und Tattoos in den Text inkorporiert. Bei dieser Recyclingpraxis spielt zudem die Wiederverwendung von Wort- bzw. von Buchstabendingen eine wichtige Rolle.[21] So lebt der Titel des Artikels nicht von ungefähr von dem Gegensatz zwischen einer serifenlosen eleganten modernen Schrift und einer Reihe von mit reichen Ornamenten versehenen Initialen, die durchaus aus einer Billigbuchproduktion der 1940er Jahre stammen könnten (Abb. 6): [22]

In den späten 1940er Jahren bemüht sich Jorn offensichtlich darum, die durchaus unterschiedlichen theoretischen Interessen, die er in den beiden genannten Artikeln verfolgt, zusammenzuführen. Dabei setzt er sich bezeichnenderweise mit älteren Piktogrammen auseinander, die sich nicht über die Differenz von Schrift und Bild erfassen lassen. 1949 schließt er eine entsprechende Studie zu den eisenzeitlichen Goldhörnern von Gallehus ab, die mit Runen und rätselhaften schriftbildlichen Abbildungen verziert sind. Diese Studie, die erst 1957 unter dem Titel Guldhorn og lykkehjul (Goldhörner und Glücksräder) publiziert wurde, hat im Gegensatz zu dem im gleichen Jahr veröffentlichten Fin de Copenhague in der Forschung kaum Beachtung gefunden. Dabei lebt auch dieses Buch von einer ausgeklügelten Recycling-Strategie. So wird der Text durchgehend von auffälligen farbigen Randleisten begleitet, auf denen Jorn insgesamt 420 Illustrationen wiedergibt, die er offensichtlich aus Lexika, populärwissenschaftlichen Artikeln, Illustrierten und Comics ausgeschnitten hat (Abb. 7 und 8).

Doch nicht nur das Collagenverfahren ist für unsere Belange von Interesse, sondern auch der Fließtext, in dem Jorn indirekt auf seinen spezifischen Umgang mit dem Zeichenmaterial Bezug nimmt. Dort entwickelt er nämlich eine komplexe materialistische Zeichengeschichte, indem er die Ausbildung diverser Zeichensysteme in vager Anlehnung an Marx mit der Entwicklung unterschiedlicher Gesellschaftssysteme parallel zu führen versucht.[23] Die Pointe der Argumentation läuft zum einen darauf hinaus, dass die Zeichensysteme wie die Gesellschaft einer fortlaufenden Differenzierung und Hierarchisierung unterliegen, die schließlich zur strikten Trennung zwischen materiellem Zeichenträger und Zeicheninhalt und zur Differenzierung zwischen Bild und Schrift geführt habe. In selbstkritischer Auseinandersetzung mit diesem linearen Geschichtsentwurf weist Jorn aber auch darauf hin, dass ältere Schriftbildformen und vor allen Dingen ältere Praktiken des Symbolgebrauchs in populären Riten, Festen und Gebräuchen überlebt hätten. Entscheidend ist, dass Jorn genau diesen Festpraktiken, die letztendlich auch in der konsumierenden Verwendung der Zeichen in seinem Buch zum Ausdruck kommen, eine subversive Funktion zuzuschreiben versucht. 

Die Bildwörter, die im Zentrum der Abhandlung stehen, gehen somit erneut in eine kunsttheoretische Reflexion ein, die sich nicht nur an der komplexen, widersprüchlichen und buchstäblich nicht begreifbaren Materialität der Schrift abarbeitet, sondern die Schrift und verwandten Piktogramme immer auch als Dinge (wie eben die Goldhörner) zu begreifen versucht, die in eine lebensweltlichen Praxis eingebunden sind (Abb. 8). Genau hierin wird auch die entscheidende Differenz zu den schrifttheoretischen Interessen der Lettristen deutlich, die sich in den späten 1940er Jahren ebenfalls intensiv mit Piktogrammen
beschäftigen. Doch während die entsprechenden Versuche der Lettr-isten in erster Linie auf die Materialität der Grapheme abzielen, scheint es Jorn wirklich um eine weitreichende Auseinandersetzung mit der Dinglichkeit der Schrift zu gehen. So bezeichnet er seine eigenen „typographischen Experimente“ im Rückblick auch treffend als „analphabetischen Illettrismus“.[24]
 In diesem Sinne ist es vielleicht kein Zufall, dass Jorn eine Buchausgabe mit „Wort-Zeichnungen“, die er 1951 zusammen mit Christian Dotremont anfertigt, 1961 unter dem Titel La chevelure des choses veröffentlicht.[25]

 

„L’anthropophagie structuralinguistique“ – Jorns Kritik
des Strukturalismus

Jorns zeichentheoretische Überlegungen mögen aufgrund der gewählten Untersuchungsgegenstände aus der nordischen Vor- und Frühgeschichte auf den ersten Blick marginal wirken. Spätestens an seiner Reaktion auf die ersten strukturalistischen Publikationen wird allerdings deutlich, welche weitreichenden Problemstellungen Jorn in seinen frühen schrifttheoretischen Arbeiten aufwirft. 

Angesichts der Tatsache, dass sich Jorn in diesen Schriften stets um eine Verknüpfung von kulturanthropologischen und semiotischen Fragestellungen bemüht hat, kann es eigentlich nicht überraschen, dass er sich schon zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt mit dem französischen Strukturalismus auseinandersetzt. So nutzt er einen 1967 erschienenen Artikel über Foucaults Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines[26] für eine erste Fundamentalkritik. Aufgrund seines Interesses für rein linguistisch gedachte Textstrukturen bleibe der Strukturalismus blind für komplexere Verknotungen und Verflechtungen, die auch die Schriftzeichen auszeichnen, wenn man ihnen in ihrer (visuellen, materiellen oder sogar architektonischen) Mehrdimensionalität gerecht zu werden versuche:

Der Selbstwiderspruch in der linguistischen Archäologie, die sich Strukturalismus nennt, liegt in der Tatsache begründet, dass der Begriff Archäologie intim mit dem Begriff der Architektur verbunden ist, dagegen völlig unabhängig von einer literarischen Methode gedacht werden muss.[27]

Schon in dem hier zum Ausdruck gebrachten Interesse für die Architektonik des Zeichens kommt eine Kritik an einem zweiteiligen Zeichenbegriff zum Ausdruck, der sich mit der Differenz von Signifikat und Signifikant begnügt. Diese Kritik macht Jorn explizit, indem er auf das problematische Moment des ausgeschlossenen Dritten verweist, das jedwedes Denken in einfachen Gegensatzpaaren unterlaufe: 

[U]m etwas begreifen zu können, [ist der Mensch] aus psychischen Gründen gezwungen, Gegensätze aufzustellen, also zweiseitige Kontraste, aber genau diese Kontraste sind objektiv gesehen immer dreiseitig. Um den notwendigen zweiseitigen Kontrast aufstellen zu können, ist der Mensch immer gezwungen, von der dritten Seite abzusehen.[28]

Doch Jorn begnügt sich keineswegs mit dieser Polemik. Im Gegenteil schlägt er den Strukturalisten vor, sich in Zukunft eher durch „mathematische Neuentwicklungen wie die Topologie oder Analysis situs“[29] inspirieren zu lassen.Die Suche nach „komplementären Verfahrensweisen in der Komposition der gleichen Einzelelemente“ müsse sich keineswegs auf Ähnlichkeiten zweidimensional gedachter Textstrukturen konzentrieren, sondern könne sich durchaus an komplexeren Strukturen wie „Verknotungen, Verflechtungen oder Verwickelungen“ orientieren.[30]

Ihren deutlichsten Ausdruck findet Jorns Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus in dem reich illustrierten Band La langue verte et la cuite. Étude gastrophonique sur la marmythologie musicculinaire, den Jorn 1968 zusammen mit Noël Arnaud publiziert, wobei letzterer einem weiteren Untertitel zufolge für „linguophagée et postpharyngée“ verantwortlich zeichnet, während „linguophilée“ durch Jorn verbürgt wird.[31] Das Buch hat lange Zeit allein aufgrund der beeindruckenden Serie von 315 kolorierten Zungen Beachtung gefunden, die dem Leser in den fotografischen Illustrationen des Buches von mittelalterlichen Statuen, neuzeitlichen Graphiken und Gemälden sowie von zeitgenössischen Cartoons und Personenfotografien entgegengestreckt werden. Der Bezug auf die Doppeldeutigkeit von langue („Zunge“, „Sprache“) und langue verte („grüne Zunge“, „Gaunersprache“) ist selbstverständlich Programm. Im Band werden all die sprachlichen Phänomene umkreist, die angeblich in den strukturalistischen Theorien unbeachtet bleiben. Die vielfältigen Möglichkeiten einer anderen Sprachbetrachtung werden in einem Diagramm mit dem wunderbaren Titel „clichéma des rapports hiérarchiques des langues a plusieurs niveaux contradictionnaires“ aufgezeichnet, das über die vielfältigen Möglichkeiten einer ganz anderen Form von Linguistik reflektiert (Abb. 9).

Dabei steht die Auseinandersetzung mit der verdrängten Körperlichkeit der Sprache im Zentrum von Jorns und Arnauds Ausführungen. So ist der Band nach dem Modell einer Speisekarte gegliedert, mit deren Hilfe dem Leser, der Leserin unterschiedliche sprachliche und sprachtheoretische Mahlzeiten offeriert werden. Nicht von ungefähr greifen die beiden Autoren in ihren wilden Wortspielereien und Verballhornungen eines szientistischen Diskurses dabei wieder und wieder auf Rabelais zurück, um sich über das in ihren Augen sterile und körperferne Denken der Strukturalisten zu mokieren: 

Ce livre gastronomique est écrit pour prévenir un tel désastre en remettant la langue à sa place astronomique, c’est-à-dire visuelle, comme fondement même de la cuisine.

 Une cuisine qui ne se pas sur la langue et ne fond pas sur la langue ne relève du code gustatif de l’anthropophagie structuralinguistique.[32]

Auch wenn sich Jorn und Arnaud mit ihren grotesken Bemühungen um eine „gastrophonische“ Alternative zum strukturalistischen Kannibalismus in erster Linie für die Korporalität der Sprache interessieren, verrät die ausgefeilte typographische Gestaltung des Bandes großes Gespür für eine entsprechende geistig-materiell gedachte Dinglichkeit von Texten. Immerhin wendet sich ihr für lustvolle Gourmets zubereitetes Sprachmahl in erster Linie an Konsumenten, die an einer entsprechend sinnlichen Auseinandersetzung mit Büchern interessiert sind.

 

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Fussnoten

1 „Dass ein Ding den Menschen ausstrahlt, dass es geradezu das Leben des Menschen in sich hat, das ist die künstlerische Prägung der Dinge.“ Jorn (1944a), 23.

2 Zur Geschichte der westeuropäischen Nachkriegs-avantgarden der 1940er, 50er und 60er Jahre
vgl. Ohrt (1990); neuere Darstellungen zum
Lettrismus bieten Girard (2010); Flahutez (2011); Sabatier (2010).

3 Das Buch ist heute in einer Reprint-Ausgabe der Éditions Allia erhältlich. Vgl. Debord/Jorn (1957).

4 Für die Gewährleistung der Bildrechte danke ich der Donation Jorn, Silkeborg (insbesondere Teresa Østergaard Pedersen vom Museum Jorn).

5 Vgl. Benjamin (1939).

6 Vgl. Debord/Wolman (1956).

7 Zum Konzept des détournement und anderer künstlerischer Verfahren der Situationisten vgl. Ohrt (1990), 50-98.

8 Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert].

9 Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert]. Zu den weitreichenden Implikationen dieser Kritik am modernen städtischen Funktionalismus vgl. Müller-Wille (2009).

10 Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert].

11 Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert].

12 Zur Avantgarde-Kritik der Situationisten, die letztlich auf eine Potenzierung der avantgardistischen Forderung, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden, hinausläuft vgl. Perniola (2011), 7-48.

13 Mit ‚Dingen‘ werden hier und im Folgenden keine Objekte, sondern komplexe Subjekt-Objekt-Relationen bezeichnet. Konzis zur Differenz zwischen ‚Objekten‘ und ‚Dingen‘ vgl. Brown (2001). Einen hilfreichen Überblick über die verschiedenen kulturwissenschaftlichen Ansätze, die sich mit den entsprechenden Wechselverhältnissen zwischen Subjekten und Objekten beschäftigt haben, liefert Böhme (2006).

14 Vgl. Debord (1956). Als eine Handlungsweise, die gegebene Strukturen von innen her in Bewegung bringt, erinnert die dérive stark an die entsprechenden ästhetischen Praktiken, denen Michel de Certeau in seiner Kunst des Handelns nachgeht. Vgl. de Certeau (1988), insb. 179-240.

15 Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert].

16 Die urbanen Praktiken der Situationisten eignen sich gut, um ihr Kunstkonzept einer Inbesitznahme vorgegebener Strukturen von modernistischen Praktiken abzugrenzen, die auf eine radikale Neugliederung städtischer Raumplanung setzen. Sie stehen deshalb auch im Zentrum mehrerer Monographien und Sammelbände. Vgl. Sadler (1999); McDonough (2004); Wiegmink (2005).

17 Jorn (1944b), 145. Alle Übersetzungen aus dem Dänischen stammen von mir, K. M.-W.

18 Jorn (1944b), 145.

19 Jorn (1944b), 147.

20 Jorn (1941), 33.

21 Die Wiederverwendung vorgefundener Wortdinge wird an einer Stelle des Essays explizit gemacht, in der Jorn ein typographisch auffällig gestaltetes „Album“ in den Text einfügt: „Die Kinder, die Oblatenbilder lieben und sie in Bücher mit einem aufgedruckten ALBUM einkleben, vermitteln dem Künstler größere Hoffnung als Kunstkritiker und Museumsdirektoren.“ Zit. nach Jorn (1941), 34.

22 Den mit den beiden Schriften zum Ausdruck gebrachten Widerstreit zwischen einer funktionalen und einer ornamentalen Gestaltungstradition wird Jorn in einem späteren Essay –
in dem es explizit um das Design von Alltagsdingen geht – ausführlicher behandeln. Vgl. Jorn (1944a).

23 Ausführlich dazu vgl. Müller-Wille (2011).

24 Jorn (1967a), 9.

25 Vgl. Jorn/Dotremont (1961). Die im Buch präsentierten Arbeiten werden in der Sekundärliteratur durchgehend als dessins-mots oder peintures-mots bezeichnet, auch wenn Dotremont diese Gattungsbezeichnung erst 1962 explizit für seine zusammen mit Mogens Balle erstellten Arbeiten gebraucht.

26 Vgl. Foucault (1966).

27 Jorn (1967b), 8.

28 Jorn (1967b), 7.

29 Jorn (1967b), 8.

30 Jorn (1967b), 8. Eine vorzügliche Studie über Jorns topologische Interessen bietet Kurszynski (2011).

31 Eine gute Analyse des Buches, die insbesondere den intertextuellen Anspielungen auf Claude Lévi-Strauss’ Le Cru et le cuit (1964) nachgeht, liefert Harris (2012).

32 Jorn/Arnaud (1968), 17.

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Abb. 1: Umschlag von Debord/Jorn (1957), Vorderseite. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb. 2: Aus: Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert]. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb.3: Aus: Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert]. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb. 4: Aus: Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert]. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb. 5: Aus: Debord/Jorn (1957) [nicht paginiert]. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb. 6: Aus: Jorn (1941), 33. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb. 7: Aus: Jorn (1957) [nicht paginiert]. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb. 8: Aus: Jorn (1957) [nicht paginiert]. © Donation Jorn, Silkeborg
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Abb. 9: Aus: Jorn/Arnaud (1968), 157. © Donation Jorn, Silkeborg