Editorial
Franz Kafka ist unzweifelhaft ein Meister traumähnlicher Szenen von höchster Beunruhigung und Verstörung. Zumeist mischen sich in ihnen schmerzhafte und lustvolle Anteile. Oft zielen sie auf die Erschütterung einer selbstgewissen Erzählerfigur, ja auf die des Erzählens selbst. Kafkas Angstlust-besetzte Szenen enthalten ein auf die Genese von Schrift und Kunst bezogenes Potential. Der Masochismus ist für ihn eine Macht, die das Schreiben beflügelt. Nicht beschränkt auf die sexuelle Disposition, nicht als eine pikante und besonders mit der Weiblichkeit assoziierte Leidensform tritt der literarische Masochimus auf den Plan, sondern als ein Reizmuster, das die Imagination und Sprache betrifft. Als solches steht er im Zentrum der Beiträge dieses Heftes.
Nicht nur generell haben gemischte Gefühle wie die Angstlust Kafka beunruhigt und zu seinen charakteristischen Sprachbildern herausgefordert. Er hat sich auch speziell mit der Leidens-Lust-Form des Masochismus beschäftigt. Dafür spricht nicht bloß das viel genannte ironische Bildzitat einer „Venus im Pelz“ zu Beginn seiner berühmtesten Erzählung Die Verwandlung. Jene weibliche Figur, die dem gleichnamigen Text des Leopold von Sacher-Masoch den Titel verliehen hatte und die in der Novelle als eine strafende Domina die männliche Unterwerfungslust entfacht, taucht in der Verwandlung als ein goldgerahmter Zeitungsausschnitt auf: „Über dem Tisch […] hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.“[1] Ein bedrohlicher weiblicher Arm mit phallischer Qualität, noch dazu in einer pelzigen Umhüllung – offenbar hatte das Bild Gregor Samsa entzückt. Am Venusbild mit dem Strafe androhenden Arm formieren sich die Grundzüge der Episode, und am Körper des sich zum Käfer verwandelnden Samsa finden sie ihre groteske, komische Fortsetzung. – In vielen Texten verfolgt Kafka Spuren, die dem Schmerz nicht nur destruktive Qualitäten abgewinnen. In einem nachgelassenen Prosafragment ist der Ich-Erzähler eine Brücke, „steif und kalt […] über einem Abgrund“. Ein Mann schreitet über die Brücke und traktiert sie (oder vielmehr: ihn) dabei mit seinem Spazierstock. Die Szene mit ihrer gewaltsamen Dynamik entwickelt eine deutlich sadistisch-masochistische, homoerotische Dimension: „Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir […]. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? […] ich drehte mich um, ihn zu sehen. Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon“. Noch im Schmerz gesteht die „gänzlich unwissend[e]“ Brücke dem gewaltsamen Eindringling zu, nicht nur „Vernichter“ zu sein, sondern womöglich ein „Kind“ oder ein „Turner“. Doch unerbittlich erzwingt der Spaziergänger den Sturz der Brücke, den Sturz in die sexuelle Szene, bei dem die Brücke „zerrissen und aufgespießt“ wird.[2] Der leidende Körper, die Brücke über dem reißenden Lust-Strom, wird in der Kaskade von Schmerzereignissen zum Träger imaginärer ästhetischer und moralischer Prinzipien. Diese treten als ver-körperte auf und beleuchten die untrennbare Verbindung der leiblich-physischen mit den kulturellen Aspekten des Ereignisses.
In der Schrift Jenseits des Lustprinzips spekulierte Sigmund Freud, dass der Hang zur menschlichen Selbstzerstörung sich aus dem Trieb ergeben könnte, einen lustvollen vorgeburtlichen Zustand wiederherzustellen. Passiv Erlittenes, sogar der Schmerz hätte in diesem Szenarium eine lustfördernde Funktion. Mit dem regressiven Wunsch hat Freud die Verbindung zum Todestrieb geöffnet, unter dessen Einfluss das Begehren auch im wiederholten Erdulden von Leid und in der wiederholten aggressiven Handlung wirksam ist.[3] – Masochismus wird in diesem Heft der figurationen nicht nur als vordergründige sexuelle Praxis erkennbar, sondern als Verkörperung, als embodiment eines kulturellen Zusammenhangs. Als kulturelle Chiffre unterläuft er den Leib-Seele-Dualismus; er zeigt, dass der Anspruch, über den eigenen Körper zu verfügen, zuweilen zu grellen, für alle sichtbaren Gesten führen kann; er zeigt, dass Literatur und Kultur Kommunikationsprozesse sind, in denen wunschgeleitete Körper agieren. Der artistisch und kommunikativ konstruierte masochistische Körper erscheint dann nicht mehr passiv, sondern als formierende Kraft.
Die Redaktion dankt Frauke Berndt herzlich für die unkonventionelle Ausrichtung dieses Heftes.
Zürich, im April 2011 Barbara Naumann
Fußnoten:
1) Franz Kafka: Die Verwandlung. In: ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1994, 115 f.
2) Vgl. Franz Kafka: [Die Brücke]. In: ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente 1. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. Main: S. Fischer, 1993, 304 f.
3) Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1975, Bd. 3, 246 ff.