Editorial

Barbara Naumann

Der Sprichwortschatz ist voller Hinweise auf Körpergrenzen und auf die Komplikationen, die ihre Überschreitung mit sich bringen. Das spielerische, erotische und vor allem aggressive Übertreten von Körpergrenzen öffnet ein weites sprachliches Bilderfeld. Körpermetaphern erlauben aufschlussreiche Einblicke in das komplizierte Miteinander des Soziallebens. Die Sprache ‚weiß‘ um die soziale und emotionale Funktion von Körpergrenzen, selbst wenn diejenigen, die ihre Bilder benutzen, sich dieses Wissens gar nicht bewusst sind. Einige Beispiele: Jemand fühlt sich leicht „auf die Füße getreten“, ein anderer fühlt sich „angegriffen“, oder, noch schlimmer, „angefasst“. Einer rückt dem anderen „zu dicht auf den Pelz“; einem andern „rieselt es eiskalt den Rücken herunter“. Es bleibt einem ein „Kloß im Hals stecken“; jemand spricht mit einem „Frosch im Hals“ oder hat aus Wut auf den Nachbarn einen „dicken Hals“. Vielleicht ist jemand „nicht ganz dicht“ oder noch „feucht hinter den Ohren“. Ein Blick kann „durchbohren“, „schneiden“, aber auch „ermuntern“ und „streicheln“. Ein weiches Objekt kann ein „Handschmeichler“ sein. Warum sich jemand in anglo-amerikanischen Ländern in der Schlange im Supermarkt oder an der Bushaltstelle vielleicht wohler fühlt als beispielsweise in Osteuropa oder Asien, realisiert er womöglich gar nicht: Das in den allgemeinen Habitus eingesunkene kulturelle Gefühl für ausreichende Distanz zum Nächsten macht den Unterschied. Olfaktorische Einflüsse und nicht nur taktile und visuelle codieren überdies höchst wirksam das Gefühl für Nähe und Distanz der Körper. Die Liste an Beispielen ist endlos. Gerade das hohe Maß an alltäglicher Vertrautheit mit dem Phänomen der Körpergrenze belässt dieses zumeist unterhalb der Bewusstseinsschwelle, wo es, unreflektiert, seine eminent wichtige kulturelle und psychohygienische Arbeit verrichtet.
So sehr der Sprichwortschatz um die bedeutende und wandelbare Funktion von Körpergrenzen im intersubjektiven Feld weiß, so sehr scheint die Sprache der Wissenschaften noch auf der Suche nach differenzierten Beschreibungsmöglichkeiten für deren soziale Wirksamkeit. Vor allem kehrt ein Begriff immer wieder und macht, bei aller Vielfalt der Forschungen an den Körpergrenzen, deutlich, dass es um dieses eine geht: ‚Enhancement‘, Leistungssteigerung. Sei es in der Medizin, der Biochemie, der Psychologie oder im Sport, das Ziel heißt stets: Steigerung der ‚natürlichen‘ Leistungsgrenzen, der physischen wie geis-tigen ‚Performance‘; das Hinausschieben der Alterungsprozesse, seien sie äußerlich sichtbar oder auch nicht; Steigerung der Schönheit, der Schlankheit, der Schnelligkeit, der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, ja der Intelligenz, der Libido, der Produktivität in jeder Hinsicht. ‚Enhancement‘ der ‚natürlichen‘ Körpergrenzen ist die Formel, die das Leben längst nicht mehr nur in den westlichen Industriegesellschaften bestimmt. „Enhancement“, „Beauty Industry“, „Plastic Surgery“ – 
der Einfall der Anglizismen, die inzwischen jeder versteht, teilt uns umstandslos mit, wie stark die globale industrielle Befassung mit den Körpergrenzen unseren Alltag tatsächlich bestimmt.

Die Beiträge dieses Heftes untersuchen die Körpergrenzen und ihre Überschreitung auf verschiedenen Feldern: Politik und Recht, Literatur und Kunst und in den Medien. Therese Steffen und der Gruppe der Kollegiatinnen des Zürcher Graduiertenkollegs „Körper, Selbsttechnologien, Geschlecht: Entgrenzungen und Begrenzungen“ haben den Band gestaltet, wofür die Redaktion herzlich dankt. Bemerkenswert ist, dass mit dem vorliegenden schon der zweite Band aus dem Kreis des Zürcher Graduiertenkollegs vorliegt. Zur Erinnerung: Der erste war dem ‚Körpergedächtnis‘ (Heft 1/2008) gewidmet.

Auch aus der Redaktion gibt es Neues zu vermelden: Mit diesem Heft verabschieden sich Alexandra Kleihues und Caroline Torra-Mattenklott nach vielen Jahren aus dem Team. Ihnen dankt die Herausgeberin für unzählige brillante Einfälle und viel Geduld, für die intensive, engagierte Zusammenarbeit und den Sinn für die fröhliche Wissenschaft des Zeitschriftenmachens, die sie auch in gelegentlich schwierigen Zeiten bewahrt haben. Den Staffelstab haben Georges Felten – als neues Redaktionsmitglied – und Marc Caduff übernommen, die hiermit herzlichst begrüßt seien.

Zürich, im September 2011
Barbara Naumann