Editorial

Barbara Naumann
Meine Gute, ich habe über Sie gelacht: Schrieb ich Ihnen lange Briefe, fürchteten Sie, es könnte mich krank machen. Schrieb ich Ihnen kurze, hielten Sie mich für kurz angebunden. Wissen Sie, wie ich es machen werde? So, wie ich es immer gehalten habe. Wenn ich beginne, weiß ich überhaupt nicht, wohin es mich führt, ob mein Brief kurz oder lang ausfallen wird; ich schreibe gerade so viel, wie es meiner Feder gefällt, denn sie beherrscht ohnehin alles. Ich glaube, daß dies ein gutes Verfahren ist, ich fühle mich dabei wohl, und deshalb will ich es weiter so halten. – Ich beschwöre Sie, seien Sie ganz ruhig in bezug auf meine Gesundheit, genau so wie ich es wegen der Ihren sein soll! [1]

Am 30. Juli 1677 schreibt Mme de Sévigné diese Worte an ihre Tochter, Mme de Grignan. In der Tat wird der Brief dann wieder mehrere Seiten lang, so wie die meisten Briefe, in denen die Mutter der Tochter zahllose Einzelheiten ihres Lebens erzählt, viele gute Ratschläge erteilt und vor allem immer wieder die gegenseitige Gefühlsbeziehung reflektiert. Zu Recht zählen die Briefe der Mme de Sévigné an ihre Tochter zu den berühmtesten mütterlichen Selbstzeugnissen der europäischen Literatur. Sie besitzen den Charakter eines fortlaufenden intimen Gesprächs. Und sie stellen in kaum jemals erreichter rhetorischer Brillanz, Klarheit und Heiterkeit das Universum einer Mutter dar, die sich mit ihrer Tochter sympathetisch verbunden weiß. Aber diese Mutter läßt sich durch ihre mütterliche Fürsorge in keiner Weise einengen. Mme de Sevigné hat die unheilvolle mütterliche Abhängigkeit von der Abhängigkeit der Kinder deutlich vor Augen. Und sie weiß: Es ist dies eine Abhängigkeit, die keiner Seite etwas wirklich recht machen kann. Entweder entstehen Sorgen aus der Kürze oder der Länge der Briefe, aus der Nähe oder aus der Distanz, aus der Offenheit oder der Diskretion. Die Liebe zum Kind ist wohl nicht ohne Sorge zu haben – und umgekehrt auch nicht die kindliche Liebe zur Mutter. Nur eines scheint hierbei immer sicher zu sein: die Sorge selbst. Zwar kannte Mme de Sévigné als eminent reiche Angehörige einer der wichtigsten französischen Adelsfamilien keine gesellschaftlichen und noch weniger materielle Nöte. Aber sie ist auch eine Mutter, die sich selbst gegenüber nüchtern Rechenschaft darüber ablegt, was es heißt, in vollkommener Liebe zu einem Kind aufzugehen – und die zugleich einen Ausweg aus dem Dilemma gegenseitiger Abhängigkeit sucht. Sie macht, und das ist ihr eigentliches Privileg, diese vollkommene Liebe zum Ausgangs- und Endpunkt des eigenen Schreibens, der eigenen Intellektualität wie Emotionalität – und nicht etwa der Selbstaufgabe. Mutterschaft, Liebe und nüchterne Reflexion der zwischenmenschlichen Verhältnisse gehen ineinander über. Die wahrhaft aristokratisch entwickelte Rhetorik der Mütterlichkeit diente der Mme de Sévigné nicht zuletzt dazu – und dies ist die quasi moderne Wendung in ihrem Schreiben – die Lust am Schreiben und an der Selbstdarstellung in eine Form zu bringen, die für den Austausch alltäglicher Begebenheiten und für das stilistisch anspruchsvolle, artistische Schreiben gleichermaßen Raum schaffte.

Die eingangs zitierte Briefpassage macht mit wenigen klaren Strichen deutlich, wie eine gefährliche mütterliche Zwickmühle, ein unlösbarer double bind gerade aus der guten, der hingebungsvollen Beziehung zu den Kindern erwachsen kann. Ein double bind, der für Mütter heute – folgt man den Beiträgen dieses Heftes – weiterhin Geltung zu besitzen scheint und sich bis in geradezu bedrückende Dimensionen gesteigert hat: bis hin zur vollkommenen Ambivalenz der Fürsorge. Die Sorge der guten Mutter gilt selbstverständlich dem Kind. Diese Sorge zeigt angesichts der gesellschaftlichen Erwartungen die Tendenz, den amour propre der Mutter ganz aufzusaugen. Gleichzeitig besteht aber die Erwartung an die modernen Mütter und der Wunsch der Mütter selbst, unabhängig, selbstständig, berufstätig zu sein, Berufskarrieren nicht durch die Mutterschaft einzuschränken, und zudem noch die Mühen des Alltags und der Kinderbetreuung mit Eleganz und ohne Ermüdungserscheinungen zu bewältigen. All dies bedacht, scheint es unter gegenwärtigen Verhältnissen nicht einfach, ein U aus dem A, eine Lust aus der Last der Mütterlichkeit zu machen.
Die Themen Mutterschaft und Familie scheinen in diesen Monaten die Politik und die Medien ganz besonders zu beschäftigen. Hinter jeden dieser Begriffe stellt die aktuelle Diskussion mehr oder weniger große Fragezeichen. Darf der Staat in die Familienplanung eingreifen, oder soll sich seine Rolle auf die finanzielle Unterstützung von Eltern und Familien beschränken? Wie soll ein prinzipiell sich familienfreundlich verstehender Staat mit alleinerziehenden Eltern umgehen? Wen soll der Staat für die Elternschaft belohnen, und wen bestraft das Leben? Bedeutet Mutterschaft stets nur existentielles Risiko, braucht es dazu gar Heldenmut? Wer redet noch von den Freuden von Mutterschaft und Vaterschaft? – Den zur Zeit wohlfeil angebotenen Patentrezepten, Moralansprachen und Enthusiasmen soll hier mit einem ernsthaften Nachdenken über die Mutterschaft in ihren verschiedenen gegenwärtigen sozialen Ausprägungen, in historischen Verfassungen und kulturellen Zusammenhängen entgegnet werden.

„Il semble que je veuille vaincre ces obstacles“ – „Es scheint, als könne ich diese Hindernisse überwinden“. Dies Diktum der Sévigné könnte das Motto dieses Heftes sein.

Für die engagierte Gastedition danken wir Gesine Palmer sehr herzlich.

Zürich, im April 2006


[1] Madame de Sévigné (1976): Lettres. Paris: Garnier-Flammarion, 215 (Übers. B.N.).